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Die Welt im April 1945

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Der letzte Monat des zweiten Weltkrieges in Europa sieht auf der Karte, über die Generalstabsoffiziere und Politiker gebeugt sind, am

1. April 1945 wie folgt aus: Im Westen, wo die anglo-amerikanischen Armeen seit Jahresbeginn zur Offensive angetreten sind, nähern sich die Panzerspitzen Duisburg. Die große Abschnürung des gesamten westdeutschen Industriegebietes zeichnet sich ab. Gleichzeitig aber kreisen die Gedanken der amerikanischen Generäle immer stärker um das Phantom der in Oesterreich und Süddeutschland von Hitler geplanten angeblichen Alpenfestung, des Reduits, in dem das zusammenbrechende Dritte Reich angeblich einen langen und hinhaltenden Widerstand zu leisten versuchen wird. Nur noch getrennt durch Hunderte von Kilometern von der verbündeten Front des Westens, dringen die sowjetischen Truppen an diesem 1. April in Danzig ein, die Stadt, deren Besitz die Ursache des Krieges war. Im sowjetischen Heeresbericht aber wird gemeldet, daß nördlich von Güns österreichisches Gebiet betreten wurde. An der Front in Schlesien und im Norden weisen eindeutig die Offensivkeile der Roten Armee auf Berlin. Vom pazifischen Kriegsschauplatz gab Admiral Nimitz bekannt, daß zum ersten Male seit dem Tag von Pearl Harbour die alliierten Seestreitkräfte im innersten Verteidigungsring Japans operierten.

Diese nüchterne Betrachtung am 1. April liegt in den verschiedensten Sprachen und militärischen Formulierungen vor den vier Männern, die in Washington, Moskau, London und Berlin das Geschick der letzten 37 Tage des Krieges in Europa durch ihre Entschlüsse bestimmen.

In Washington ist dies der Oberbefehlshaber der Streitkräfte der Vereinigten Staaten, F. D. ,R o o s e v e 11, nach seiner vierten Wiederwahl mit kaum 63 Jahren ein zu Tode erschöpfter Politiker. Schon bei seiner Rede am

2. März vor dem Kongreß machte er einen ausgesprochen verfallenen Eindruck, und die erste Konzession an sein körperliches Gebrechen war, daß er sitzend sprach, „ohne die zehn Pfund Stahl um die Beine herumtragen zu müssen“. Die fatalen Ergebnisse der Konferenz von Jalta versuchte der große Improvisator zu bagatellisieren. Aber das Wissen um die kommenden Dinge mag den Präsidenten schwer bedrückt haben: Die Konferenz von San Franzisko mit den hochgespannten Forderungen der Sowjetunion um eine entscheidende Mitbestimmung in einem künftigen Weltparlament und die Abschlußberichte, scheinbar das innerste Geheimnis seiner Armeeführung, über die Bombe, die man in den Atomzentren Nevadas vorbereitete. Dies alles stürmte auf den großen Routinier der amerikanischen Wirtscharts- und Innenpolitik ein. Gehetzt, überarbeitet, im Strudel eines ungeheuren militärischen und politischen Druckes, war sich der Präsident, ehe sein Leben zu Ende ging, offenkundig der Tatsache bewußt geworden, daß der politische Horizont sich sehr verdüstert hatte. Noch klammerte er sich in seinem letzten Handschreiben vom 7. April und in seinem Telegramm an die Hoffnung des Weiterbestehens der großen Kriegsallianz, obgleich sein früherer Botschafter in der Türkei, George Earle, vor dem Anwachsen der russischen Gefahr ebenso gewarnt hatte wie John Foster Dulles als Sprecher der Republikanischen Partei am 9. April bei einer Sitzung der obersten militärischen und politischen Führer in Washington. Der Anlaß der Verstimmung waren die Sonderfriedensfühler, die von der deutschen Südfront in Italien unabhängig von der zerfallenden Reichsgewalt in Berlin über Bern an die amerikanische Adresse ausgestreckt worden waren. Wie wir heute wissen, standen dahinter verantwortungsbewußte Männer, wie der deutsche Botschafter Rahn sowie sein Mitspieler Generaloberst Wolff; diese waren sich durchaus im klaren, daß durch ihre Schritte das Kriegsbündnis der Alliierten nicht zerstört werden konnte — und doch unternahmen sie diesen Versuch, um den Beginn der notwendigen politischen und militärischen Bereinigungen des zweiten Weltkrieges einzuleiten.

Am 12. April 1945 starb Roosevelt an einer Gehirnblutung. Sein Tod löste ganze Ereignisketten aus, die allerdings in keinem Fall mehr den Blueprint der alliierten Maßnahmen in Europa zu stören vermochten.

Als Roosevelt staib, hatte bereits die amerikanische 9. Armee einen Brückenkopf unterhalb Magdeburgs, jenseits der Elbe, gebildet und ihn wenige Tage darauf planmäßig geräumt. In Wien waren die Truppen der Armee Tolbuchin bereits über den Donaukanal vorgedrungen. Für die Kriegskarte im Bunker der Reichskanzlei in Berlin zeichnete sich das Ende immer deutlicher ab, obgleich Goebbels in völliger Verkennung historischer Parallelen glaubte, durch den Tod Roosevelts in seinem Aufruf vom 19. April das Zerbrechen der „perversen Koalition zwischen Plutokfatie und Bolschewismus“ als Wendepunkt des Krieges erkennen zu müssen, und durch Vorlesungen der Lebensgeschichte Friedrichs II. von Preußen seine Thesen gegenüber Hitler untermauerte. Gegenüber einem Hitler, der selbst bereits die Hoffnung auf ein historisches Wunder aufgegeben hatte, da ihm bekannt geworden war, daß seine engsten Vertrauten und treuesten Mitarbeiter seit Monaten, wenn nicht seit noch längerer Zeit, „hochverräterische Kontakte“ aufgenommen hatten. Da war Himmler, der immer Getreue, von dem man in diesen Tagen erfuhr, daß er über Schweden ein Kapitulationsangebot gemacht hatte, dessen letztes Ziel die Beseitigung Hitlers war. Ja, auch R i b b e n t r o p, der gehorsame außenpolitische Sekretär, sandte noch im letzten Moment seine Emissäre nach Madrid und Lissabon; und diese halb gewollten und immer wieder abgeleugneten Versuche wurden in der hektischen Bunkeratmosphäre durch den stiernackigen Bormann umgedeutet, verdreht und aufpeitschend in die Debatte geworfen. In die Debatte um eine sinnlose militärische Opferung der Armeen an den noch verbliebenen Fronten im Osten vor Berlin und im Süden vor den Alpen, nach deren angeblicher Verteidigungsbereitschaft die Spitzen der amerikanischen Panzerkolonnen und Fliegergeschwader zielten.

Politisch gab es trotz der raschelnden Lagekarten und der monoton gehorsamen Berichte Jodls keine echte Entscheidung mehr für den Mann, der am 3. September 1939 frivol das Schicksal des deutschen Volkes und damit Europas in dem verhängnisvollen Pakt vom 23. August 1939 mit dem Kreml heraufbeschworen hatte. Ueber das Opfer dieses Paktes, Polen, waren auch in diesen Apriltagen bereits die Panzer des einstigen Vertragspartners, der so bezeichnend im Kreml auf das Wohl \dolf Hitlers angestoßen hatte, längst hinweg-gerollt.

Und dieses Polen war das Schmerzenskind in der gepflegt konservativen Atmosphäre der britischen Außenpolitik dieser Tage. Hatte man nicht für die Unversehrtheit der polnischen Grenzen feierlichste Versprechungen abgegeben, die im September 1939 ebenso wie beim verzweifelten Einsatz der Emigrationsarmeen unter dem gekrönten Adler Polens, am italienischen Kriegsschauplatz und anderswo mit Blut besiegelt worden waren? Aber in Jalta war Polen für die britische Politik ein harter Bissen, genau so wie europäische Belange, die das britische Weltreich zu vertreten glaubte. Der in vielen Dingen so hellsichtige Kriegspremier Churchill konnte in diesen Tagen des April 1945 vielleicht ahnen, welche Schwierigkeiten für die zukünftige europäische Gestaltung bevorstanden. Seine Versuche, wenigstens die polnische Frage zu lösen, waren an der Macht der besetzenden Armeen ebenso gescheitert wie einstmals sein Plan der Aufrollung der deutschen Fronten vom Süden an der starren Haltung Eisenhowers und Marshalls.

Inmitten dieser weltpolitischen Entscheidungen vollzog sich der erste Akt der Wiedererstehung des österreichischen Staates durch die Bildung einer selbständigen Regierung, deren Proklamation vom 27. April 1945 noch unter den kämpfenden Fronten erfolgte. Drei Tage später aber verkündete über den deutschen Rundfunk der neue Reichspräsident Dönitz den Tod Adolf Hitlers. Ein Ereignis, das auf der Kriegskarte keineswegs ein Ruhen der Waffen hervorrief. Nach den Aufzeichnungen des deutschen Generalstabsoffiziers Joachim Schultz versuchte noch am 6. Mai 1945 der Gauleiter Uiberreither durch einen Funkspruch, den Liquidator des Erbes Hitlers zu einer Kapitulationsformulierung zu bewegen, die Oesterreich als Bestandteil des Reiches behandeln sollte. Dies zu einer Zeit, da der Tiroler Gauleiter Hofer dem deutschen Botschafter Dr. Rahn gegenüber bei den Sonderverhandlungen im Süden bereits folgende Aeußerung getan hatte: „Der Krieg ist verloren, jeder weitere Kampf ist sinnlose Schlächterei, und wenn der Führer hierher kommt, um in der Alpenfestung einen letzten Widerstand zu organisieren, dann lasse ich ihn in einem Sanatorium internieren.“ (Rudolf Rahn: „Ruheloses Leben“, 1949, S. 288 ff.) Am 1. Mai 1945, als der Sender Hamburg nochmals den Tod Hitlers meldete, ging der entscheidende Monat des Kriegsgeschehens zu Ende. In Wien blühten bereits die Bäume über den Gräbern, die neuen Politiker in den Ruinen des Ballhausplatzes, des Parlamentes und des Rathauses waren zu einem bereits festen Begriff im Spiel der großen Politik geworden. Aus ihren nüchternen Entschlüssen und klugen Erwägungen entstand wieder Oesterreich.

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