6635020-1957_09_11.jpg
Digital In Arbeit

Dem Abgrunde zu

19451960198020002020

Weltgeschichte der Gegenwart in Dokumenten. Herausgegeben von Prof. Dr. Michael Freund. Geschichte des zweiten Weltkrieges in Dokumenten III: Der Ausbruch des Krieges 1939. Verlag Herder, Freiburg, und Verlag Karl Alber, Freiburg-München. 452 Seiten. Preis 28 DM

19451960198020002020

Weltgeschichte der Gegenwart in Dokumenten. Herausgegeben von Prof. Dr. Michael Freund. Geschichte des zweiten Weltkrieges in Dokumenten III: Der Ausbruch des Krieges 1939. Verlag Herder, Freiburg, und Verlag Karl Alber, Freiburg-München. 452 Seiten. Preis 28 DM

Werbung
Werbung
Werbung

Im dritten Band dieses ausgezeichneten Werkes unterzieht sich der Herausgeber der schwierigen Aufgabe, den Hergang bei der Entstehung des zweiten Weltkrieges gleichsam in einem Zeitraffer zu verfolgen. Das Ineinandergreifen der einzelnen Aktionen wird wieder durch die Quellen selbst dargelegt. Der Zwischentext, sorgfältigst abgefaßt, unter Berücksichtigung der gesamten Literatur, macht es möglich, Tag für Tag den Todeskampf des Friedens in den Augusttagen des Jahres 1939 zu verfolgen.

War das große Spiel Hitlers bis Anfang August noch unsicher, so gab die Note der polnischen Regierung wegen der Zollinspektoren in der Freien Stadt Danzig das Stichwort für die Warnung der Reichsregierung, die sich faktisch durch die Erklärung Weizsäckers vom 9. August zum erstenmal unmittelbar in den Streit zwischen Polen und dem Danziger Senat einschaltete und deren Ton jede polnische Aktion gegen Danzig zum Kriegsfall werden ließ. Die polnische Antwortnote löste keinesfalls das Problem, sondern verschärfte durch die Tonart die Lage noch mehr. Gleichzeitig drängten die polnischen Staatsmänner die britische Regierung zum endgültigen Abschluß eines Bündnisvertrages. London wollte sich jedoch nicht binden und ersuchte am 15. August in Warschau, ob es nicht möglich wäre, Verhandlungen über Danzig zu überlegen. Gleichzeitig aber hoffte Lord Halifax auf die so notwendige Abschirmung des britisch-polnisch-französischen Verteidigungssystems durch Moskau, wohin man britisch-französische Militärmissionen entsendet hatte. Irgendwie illusionär lief die britisch-französische Außenpolitik noch immer dem Schema einer Zusammenarbeit mit den Sowjets nach, obgleich die Warnungen vor einem möglichen deutsch-russischen Pakt nicht aussetzen wollten. Der erste Staatsmann, dem Hitler offen seine Kriegsabsichten darlegte, war Graf Ciano. Bei seinen Unterredungen am 11. und 12. August in Salzburg und Berchtesgaden mit Ribbentrop und Hitler wurde ihm der Termin ebenso wie die Methode bekanntgegeben: Anfang September mußten aus militärischen Gründen wegen der Wetterlage und der Straßenverhältnisse die deutschen Armeen marschieren. Zugleich wurde dem erstaunten Schwiegersohn des Duce die zunehmende deutschrussische Annäherung angedeutet. Mussolini gab sich seiner üblichen „Gefühlsschaukel” — wie Ciano notierte — hin: noch war es nicht so weit, eine endgültige Absage an Deutschland .zu geb :n, „aber diesmal ist es der Krieg”, war die schreckliche Erkenntnis. Ehe das Drama des Ringens um den Frieden einsetzte, betrat noch einmal ein Repräsentant des alten Europas die Bühne. Der Hohe Kommissar des Völkerbundes in Danzig, Prof. Carl J. Burckhardt, weilte am 11. August auf dem Obersalzberg, um von Hitler die Mitteilung zu erhalten, daß dieser Krieg unausweichlich wäre, weil Deutschland den Raum im Osten und „Korn und Holz” benötigte. Wieder, wie einst bei der Unterredung mit Schuschnigg am gleichen Ort, ließ Hitler das Motiv des „rechtzeitigen Kriegsbeginns zum Unterschied von 1914” durchklingen. Schon teifte die Entscheidung in Moskau heran. Mit messerscharfer Präzision in der Fragestellung und den Argumenten trieb Marschall Woroschilow die am 11. August eingetroffenen westlichen Militärmissionen in einer Reihe von Sitzungen in die Enge, bis das Stichwort fiel: keine sowjetische Hilfe ohne Einmarsch in Polen und Rumänien. Das war genau das heiße Eisen, das die britische Diplomatie ebenso wie die französische nicht anrühren durfte, ohne ihre polnischen und rumänischen Verbündeten vollkommen zu schockieren. Trotz der flehendlichsten Bitten, vor allem der französischen Diplomaten, an die Adresse Warschaus, nachzugeben und wenigstens einen „technischen Durchmarsch” russischer Truppen zu gewähren, blieben Beck und Marschall Rydz-Smigly unnachgiebig, und bei der Antwort am 20. August an den französischen Botschafter zitierte der Marschall das Wort Pilsudskis: „Mit den Deutschen riskieren wir, unsere Freiheit zu verlieren, mit den Russen werden wir unsere Seele verlieren.” Selbst ein letzter Versuch der Franzosen, über den Kopf Polens zu handeln, blieb wirkungslos, und bei der Sitzung mit Marschall Woroschilow am 22. August fiel gegenüber den britisch-französischen Militärs das Wort: „Wenn die politischen Umstände dieselben bleiben, könnten die Verhandlungen wieder aufgenommen werden.” — In Wirklichkeit aber bereitete sich ein Weltumsturz vor.

Die beiden scheinbar so feindlichen Partner, das Deutschland Hitlers und das Reich Stalins, hatten sich in immer schnelleren Phasen genähert. Von den abtastenden Gesprächen am 27. Juli in Berlin bis zu dem Eingreifen Stalins am 19. August zog sich eine Kette von Verhandlungen und Telegrammen, deren handfestes Ergebnis die Teilung Polens sein sollte. Immer mit dem Blick auf den militärischen Terminkalender und die Wetterlage tat Hitler den kühnen Schritt seines persönlichen Telegramms vom 20. August an Stalin, dessen Folge die Moskaureise Ribbentrops mit der Generalvollmacht über den sogenannten „Nichtangriffspakt” vom 23. August wurde. Entscheidend ist das Geheime Protokoll das die vierte Teilung Polens und die Liquidierung des Randstaatengürtels beschloß. Es gehört zu den „großen schrecklichen Dokumenten der Weltgeschichte” (S. 172). Schon die im Punkt 1 und 2 des Geheimprotokolls anklingenden Sätze „für den Fall einer territorial-politischen Umgestaltung” zeigen, wohin der Weg ging, und im Punkt 2 legte Stalin durch die,Formel: „Die Frage, ob die beiderseitigen Interessen die Erhaltung eines unabhängigen polnischen Staates erwünscht erscheinen lassen und wie dieser Staat abzugrenzen wäre, kann endgültig erst im Laufe der weiteren politischen Entwicklung geklärt werden” (S. 173) die historische Falle aus. Weder die deutsche noch die alliierte Diplomatie konnten im zweiten Weltkrieg daraus einen Ausweg finden. Das Geheimprotokoll hatte zur Folge: „Der Weg wurde geöffnet, der die Rolfe Armee bis nach Berlin und die mitteldeutsche Gebirgsschwelle führen sollte” (Freund).

In der Rede vor den Befehlshabern der Wehrmacht, vom 22. August, die in zw i Fassungen erhalten ist, gab dann Hitler offen zu, auch das Risiko eines Krieges mit den Westmächten auf sich zu nehmen. Uie Stellungnahme Londons, in der Kabinettssitzung vom 22. August festgelegt, brachte nicht den Zusammenbruch der alliierten Politik, wie dies am Berghof erwartet wurde, sondern den Entschluß, die Verpflichtungen gegenüber Polen einzuhalten, gleichzeitig aber ohne Anwendung von Gewalt auch weiterhin die Möglichkeit zu einer friedlichen Lösung zu suchen. Hendersons Gespräche vom 23. August eröffneten noch einen schmalen Pfad für den fast vertriebenen Frieden und seine Mission in London vom 26. bis 28. August sollte der Klärung diplomatischer Lösungsmöglichkeitcn dienen. Dies schien um so mehr nicht ganz aussichtslos, als die italienische Politik inzwischen an Hitlers Adresse eine klare Absage einer militärischen Kriegsbeteili- lung ergehen ließ und Rom sich als Vermittler einschaltete. Am 25. August „schwankte die Waage des Schicksals noch unaufhörlich” und die Briten versuchten, durch Druck auf Beck und seine Berater, Polen zu einem direkten Gespräch mit Berlin zu zwingen, um keinen Vorwand für Hitler zu geben. Am 25. August hat auch Hitler den ersten Vormarschbefehl widerrufen, um gleichzeitig in der berühmten Unterredung mit Henderson die Fata Morgana eines umfassenden deutsch-britischen Friedenspaktes zu beschwören. Allerdings nach einer Vorleistung: der Preisgabe Polens. Der am selben Tag Unterzeichnete Beistandspakt zwischen London und Warschau war ein Gegenzug, um den Ernst der ?Lage zų iintersfreięljen, anderseits a,hąr.,,tąstęte!l.die,, britische, .Regierung, npeh immer,.. ąs GelSndi . nach, Möglichkeiten ab, um wenigstens inoffiziell die Absichten des Reiches nach Hitlers großem Angebot zu erfahren, und die Mission des als diplomatischer Außenseiter auftretenden schwedischen Industriellen Birger Dahlerus gab ihr durch die Vermittlung Görings Einblick in die Ueberlegungen in der Reichskanzlei.

Dabei war sich die britische Diplomatie durchaus der Gefahr bewußt, durch eine „Scheinverständigung” Polen eventuell preisgeben zu müssen und ein deutsches Bündnis ohne jeden Wert dafür zu erhalten. Die diesbezüglichen Erwägungen der britischen Diplomaten und Politiker sind in den Aufzeichnungen vom 29. bis 30. August sehr deutlich abzulesen (S. 320 bis 322). Das Hauptproblem aber blieb, Polen an den Verhandlungstisch zu bringen, wobei der Mantel einer „internationalen Garantie” vor einer Ueberraschung schützen sollte. Prof. Freund glaubt in seinen die Dokumente verbindenden Ausführungen die Reaktion der Polen als kalt und lustlos bezeichnen zu müssen und meint, daß eine Reise des Obersten Beck nach Berlin vielleicht nicht unbedingt eine Wiederholung des Schicksals Hachas bedeutet hätte. Aber der Schatten von München stand nun einmal zwischen den Staatsmännern. Die ständige Steigerung der Forderungen Hitlers gipfelte in dem faktischen Ultimatum vom 29. August näch der Entsendung eines bevollmächtigten polnischen Unterhändlers zwecks Unterhandlungen über die Probleme Danzigs und des Korridors. Schon in seinem Telegramm vom 28. August hatte der britische Botschafter in Berlin nach seiner Unterredung mit Hitler das neue Forderungsprogramm, welches nach der Danziger Lösung den Korridor und Grenzberichtigungen in Schlesien forderte, nach London berichtet. Damit war man sich an der Themse keineswegs so sehr im unklaren, welchen Fragen Beck unter Umständen bei einer Verhandlung in Berlin gegenübergestanden wäre. Offiziell allerdings ging das Spiel noch bis zur historischen Mitternachtsunterredung des 30. August weiter, da wohl die überholten deutschen Vorschläge von Ribbentrop vorgelesen, aber Henderson nicht schriftlich ausgehändigt wurden. Durch Görings Mithilfe erfuhren sowohl die Polen als auch die Briten den deutschen Plan im Laufe des nächsten Tages. Warschau stellte sich aber trotz des Drängens der britischen Regierung taub und beauftragte seinen Botschafter in Berlin mit der Ueber- mittlung, daß im günstigen Sinne die Anregung der britischen Regierung zu einem direkten Meinungsaustausch geprüft werde. Während man in den westlichen Hauptstädten immer mehr merkte, daß die formale Schwerfälligkeit Warschaus genau Hitlers eigenen Wünschen zu einem diplomatischen Kriegs- Vorwand entgegenkam, liefen die Stunden des Friedens ab und selbst die Einschaltung Italiens im letzten Moment konnte nicht mehr das Verhängnis aufhalten. Nach der „Ultrakurzunterredung” am 31. August um 18 Uhr mit dem polnischen Botschafter, in der Ribbentrop Verhandlungsvollmachten verlangte, gingen die Lichter über Europa aus. Hitler ‘sagte anschließend dem italienischen Botschafter ‘Attolico: „Es ist alles aus!” Am 1. September’ufti1 4.50 Uhr meldete der polnische Major Sucharski, der Kommandant der Westerplatte, die Beschießung durch den Panzerkreuzer „Schleswig-Holstein”.

Ein Thema. Viele Standpunkte. Im FURCHE-Navigator weiterlesen.

FURCHE-Navigator Vorschau
Werbung
Werbung
Werbung