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Warschau verblutete, Stalin schwieg

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Vor 35 Jahren begann eine heute vergessene oder verdrängte Tragödie des Zweiten Weltkrieges. Am 1. August 1944 griffen in Warschau die aus dem Untergrund hervorgetretenen Offiziere und Soldaten der Londoner Exilregierung zu den Waffen. Das tollkühne Unternehmen der nationalen Kräfte Polens mißlang. Die deutsche Wehrmacht zerschlug nach anfänglichen Erfolgen der Untergrundarmee den Aufstand mit grausamer Härte. Die Rote Armee, die vor den Toren der Stadt stand, griff in den Verzweiflungskampf der Polen nicht ein. Warum Stalin so handelte, ist heute noch umstritten. Unser Bericht stammt von einem, der die legendär gewordene Aktion „Sturm“ persönlich miterlebt hat.

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Vor 35 Jahren begann eine heute vergessene oder verdrängte Tragödie des Zweiten Weltkrieges. Am 1. August 1944 griffen in Warschau die aus dem Untergrund hervorgetretenen Offiziere und Soldaten der Londoner Exilregierung zu den Waffen. Das tollkühne Unternehmen der nationalen Kräfte Polens mißlang. Die deutsche Wehrmacht zerschlug nach anfänglichen Erfolgen der Untergrundarmee den Aufstand mit grausamer Härte. Die Rote Armee, die vor den Toren der Stadt stand, griff in den Verzweiflungskampf der Polen nicht ein. Warum Stalin so handelte, ist heute noch umstritten. Unser Bericht stammt von einem, der die legendär gewordene Aktion „Sturm“ persönlich miterlebt hat.

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Fünf Jahre nach dem Ende des polnischen Staates, nach der Zerschlagung und Gefangennahme seiner Armee, in einer Zeit, in der bereits Millionen Polen den Waffen und Henkern der Okkupanten zum Opfer gefallen waren, griffen am 1. August 1944 um 17 Uhr die Offiziere und Soldaten der ,;Armia Krajowa“, der Heimatarmee des Generals Bor, die deutschen Posten und Quartiere in Warschau an. Der „Sturm“, so das Signal- und Losungswort, hatte 40.000 gehetzte Zivilisten zu den Kampfgruppen der Heimatarmee gemacht. Eine der größten Tragödien der jüngsten Vergangenheit, heute entweder vergessen oder von einer durchsichtigen Propaganda verzeichnet, nahm ihren Anfang.

Sie hatte ihren Prolog. Dieser wurde gesprochen von den Geschützen der Roten Armee, deren Vorposten Ende Juli bereits nahe dem östlichen Stadtrand von Warschau erschienen waren. In das dumpfe Rollen der Batterien mischte sich die Stimme des Sprechers von Radio „Kusciusko“ - eines von Rußland in polnischer Sprache betriebenen Sondersenders -, der in kurzen Zeitabständen immer wieder einen von Molotow mitunterzeichneten Aufruf an die Warschauer Bevölkerung verlas:

„Polen, der Augenblick der Befreiung ist nahe! Zu den Waffen! Jedes polnische Haus muß zu einer Festung gegen den Eindringling werden! Es gilt, keinen Augenblick mehr zu verlieren.“ Die letzten Zweifel schwanden. Moskau wünschte, nein, forderte die bewaffnete Erhebung der polnischen Hauptstadt, es verhieß

dafür die nahende Befreiung. Und es war wirklich keine Zeit zu verlieren.

Schon nahte von Westen die deutsche Elitedivision „Hermann Gö-ring“, die der schwer angeschlagenen 73. deutschen Infanteriedivision an der Front vor Warschau zu Hilfe kommen sollte. Ihr und allen folgenden deutschen Reserven sollten nun die Verbindungswege zur Front, die durch Warschau führten, abgeschnitten werden. Die bereits schwer geprüfte Stadt vor einer wochenlangen Belagerung zu bewahren, war das Ziel der Aktion „Sturm“, die am 1. August ihren Anfang nahm.

Der Beginn der Erhebung war verheißungsvoll. Nach einem 14stündi-gen Kampf waren zwei Drittel von Warschau in den Händen der polnischen Kampfgruppen. Von allen wichtigen Gebäuden der Stadt - vom First des Bahnhofes, von den

Schornsteinen des Gaswerkes, vom Dach der Bank von Polen - wehten nach fünf Jahren wieder die rot-weißen Fahnen der ältesten Republik Europas. Siegeszeichen waren sie, aber auch Signale für jenseits der Weichsel. Warschau hatte selbst den ersten Schritt zu seiner Befreiung getan.

Die Vollendung des begonnenen Werkes konnte nur mit Hilfe und Unterstützung jener Armee drüben an der Weichsel erfolgen; ihre Soldaten hatten vor den Toren der Stadt bereits Posten bezogen. Doch der Osten schwieg. Ein hartnäckiges und unergründliches Schweigen. Es schwieg die noch vor kurzem gesprächige Stimme des Senders „Kosciusko“, es schwieg aber auch plötzlich die russische Artillerie.

Warschau, sein Kommandant und seine Bevölkerung standen vor einem Rätsel. Sie wußten noch nicht das, was inzwischen drei Männern der polnischen- Exilregierung zur dumpfen Gewißheit geworden war. In der Nacht vom 3. auf den 4. August saßen in einem von überlebensgroßen Bildern der zaristischen Generale Kutuzow und Sowarow überschatteten Zimmer des Kremls Miko-lajczyk, Romer und Grabski Marschall Stalin gegenüber.

Alles, was sie von ihrem Gesprächspartner, der genau so zu schweigen verstand wie seine Geschütze an der Weichsel, über die plötzliche Unterbrechung der russischen Offensive vor Warschau in Erfahrung bringen konnten, war, daß die polnische Hauptstadt „mit einiger Verspätung“ demnächst genommen werden sollte. Heute weiß man, daß mit diesem Wort das mangelnde Interesse der höchsten russischen Stelle an einer Selbstbefreiung Warschaus ausgedrückt wurde.

Nein, sie hatte kein Interesse, daß sie geschaffen werde durch ihrer legalen Regierung ergebene Soldaten, »durch katholische Akademiker und Bauern und durch heimattreue Sozialisten. Der „Kalte Krieg“ der Zukunft bestimmte bereits die Taktik der letzten Operationen des Zweiten Weltkrieges: „Mit einiger Verspätung“. Heute weiß auch die Welt, daß mit diesem Wort das Todesurteil über eine Stadt und 250.000 ihrer Bewohner gesprochen war.

Die seither aufgeschlagenen Karten aber waren im Warschau des August 1944 noch versiegelte Schicksalslose. Hier wußte man nur um das Scheitern der Mission Mikolajczyk, hier kannte man allein die Tatsache der immer knapper werdenden Munition und der ersten deutschen Gegenangriffe. Noch gab es aber Hoffnung. Eines Tages würde die Rote Armee ihre abgebrochene Offensive wieder aufnehmen, wieder aufnehmen müssen, wollte sie nicht beim Endkampf um Deutschland als zweiter Sieger am Platze bleiben. Durchhalten war daher die Losung.

Stukas, Tigerpanzer, mit Sprengstoff geladene ferngelenkte „Goliaths“ und die schweren Belagerungsgeschütze von Sewastopol führten die Deutschen ins Treffen. Eine genaue Kenntnis ihrer Stadt und der oft niedergerungene, aber niemals gebrochene Willö zur Freiheit waren neben Handfeuerwaffen die einzige Wehr der Polen. Ein ungleiches Duell. Nein, kein Duell, ein Vernichtungs- und Verzweiflungskampf.

Er wütete von Bezirk zu Bezirk, von Straße zu Straße, von Haus zu Haus, von Stockwerk zu Stockwerk. Wer die alten Häuser von Stare Mia-sto, die sechs Jahrhunderte der wechselvollen Geschichte Warschaus erlebt und überlebt hatten, sterben sah, vergißt dies nie:

Er vergißt aber noch weniger die Gesichter der blutjungen Burschen und Knaben, die mit selbstverfertigten Benzinflaschen Tigerpanzer ansprangen. In seiner Erinnerung bleiben für immer die müden Alten, die in Kellergewölben aus abmontierten Hydranten und Beleuchtungskandelabern Munition herstellten, genau so wie die namenlosen Frauen, die an den Funkgeräten saßen und mit den Signallichtern den Gang in die Nacht, in das Inferno wagten.

Alle diese Bilder aber verblassen vor einem. In der Ecke eines Hofes, in dessen Mitte ein Trichter gähnt, versammeln sich die Bewohner des Hauses - im Warschau des Jahres 1944 kein Einzelfall - zum gemeinsamen Abendgebet. Sie sprechen es vor der formlosen Masse eines Gipsblockes, der noch vor wenigen Minuten, vor dem Einschlag der Granate, eine Statue des Herrn gewesen war: „Boze zmiluij sie nad nami.“ Herr erbarme dich unser.

Am 1. September fand die Artillerie jenseits der Weichsel ihre Sprache wieder. Gleichzeitig erschienen russische Flieger über Warschau. Noch einmal, das letzte Mal, hatte es den Anschein, als ob die „kleine Verspätung“ Stalins zu Ende wäre. Alle Anzeichen wiesen darauf hin. Dann stieß die Rote Armee durch Praga (Stadtteil Warschaus jenseits der Weichsel) hindurch und erreichte das Ostufer des Flusses. Die Hoffnung der auf den innersten Stadtkern zusammengedrängten Verteidiger, denen die Kanäle zur letzten Zuflucht geworden waren und die seit 1. September kein Brot mehr gesehen hatten, flackerte jäh auf.

Sie wurde größer, als man am 17. September im Radio London „Eine Mazurka diese Nacht“ spielte. Ein harmloses Tanzlied, für die Eingeweihten aber das Kennwort, das den Abwurf von Waffen und Proviant durch eine lang vorbereitete Großaktion amerikanischer Flieger verhieß. Wochenlange Verhandlungen zwischen der russischen und der amerikanischen Führung war dem Unternehmen, das eine Zwischenlandung der Amerikaner auf den russischen Flugplätzen vorsah, vorangegangen.

Aber es war zu spät. Die in großer Höhe anfliegenden Maschinen verfehlten das schmale Ziel. Der größte Teil ihrer Ladung fiel jenseits der Linien. Die Hoffnung wich tiefster Niedergeschlagenheit. Einzig und allein die Lautsprecher der russischen Propagandaabteilung waren zu hö-

ren. Sie richteten ihre Anrufe an deutsche Adressen.

Verzweifelt bemühte sich General Bor um eine direkte Verbindung mit dem russischen Kommandanten vor Warschau, Marschall Rokossowsky. Seine Funksprüche blieben ohne Echo, die Fernsprecher bekamen keine Antwort, die ausgesandten Patrouillen kehrten nicht oder ergebnislos zurück. Die letzten Vorräte waren erschipft. Tagesration: eine Handvoll ungemahlenes Korn. Als auch Czerniakow und Mokotow, die letzten Brückenköpfe diesseits der Weichsel, gefallen waren, ohne daß auch nur ein Finger sich an einem russischen Gewehr gekrümmt hatte, schwand die letzte Illusion.

Die Russen wollten Warschau einfach nicht nehmen, solange auch nur ein einziger Mann des von „unverantwortlichen Elementen“ angezettelten Aufstandes - so hieß der auf sowjetische Aufforderung hin angetretene Opfergang plötzlich - im Besitz einer Waffe war. Eine letzte Depesche an Marschall Rokossowsky wurde abgesandt, ihr Empfang von russischen Funkern bestätigt. Warschau könne nur noch 72 Stunden gehalten werden.

Keine Antwort kam. Das Ende war da. Am 29. September ergriffen die polnischen Unterhändler die weiße Fahne. Am 2. Oktober wurde die Kapitulation unterschrieben. Am 4. Oktober stand General Bor, der in Wirklichkeit Tadeusz Komorowski hieß, und dessen Aussprache des Deutschen noch immer den ehemaligen Ulanenrittmeister der k. u. k. Armee verriet, dem deutschen General von dem Bach gegenüber. Die Unterredung wurde deutsch geführt; und doch sprachen die beiden Männer verschiedene Sprachen. Sie verstanden einander nicht. Das, Ärgste aber stand noch bevor. Der Abschied von Warschau, der Abschied von der Freiheit der 63 Tage.

Noch einmal - zum letzten Mal -funkte am 5. Oktober der Sender der Heimatarmee. Eine Stimme, die nur mit Mühe ihre Bewegung unterdrük-ken konnte, war zu hören: „Wir waren frei durch zwei Monate. Heute müssen wir wieder in die Gefangenschaft. Aber eines ist sicher. Auch den Deutschen wird Warschau nie mehr gehören, denn Warschau besteht nicht mehr.“

Am gleichen Tag, um 9.45 Uhr, setzte sich die dezimierte Schar in Bewegung. Ein Mann hinter dem anderen, Bor-Komorowski an der Spitze. Ihr Zug führte über Schutthalden und durch Ziegelschluchten zu den deutschen Barrikaden. Eine tiefe Stille herrschte, die Stille des Friedhofes. Plötzlich brach es hervor. Der General hatte es angestimmt, seine Männer fielen ein. Noch einmal, wieder einmal klang es auf, das alte Kampf- und Trutzlied der polnischen Nation: „Jeszcze Polska nie zgine-la...“ (Noch ist Polen nicht verloren ...)

Da war aucji schon der deutsche Posten. Hinter ihm warteten die Kameraleute der Wochenschau. Aber hoch aufgerichtet auf der Barrikade, zwischen Freiheit und Gefangenschaft, stand ein Priester, ein Feld-kurat der Heimatarmee. Seine Hände hielten das entblößte Allerheiligste. Ein großes Kreuz schlug er, ein riesiges Kreuz. Es umfing nicht nur die armselige Schar ausgebluteter, halbverhungerter Menschen zu seinen Füßen. Es breitet seine Balken über den großen Friedhof, zu dem Warschau geworden war. Es überschattete das ganze unglückliche Polen.

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