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Vettern, vereint in Trunk und Kampf
Polen und Ungarn sind Vettern, vereint beim Trunk und im Kampf.“ So verkündet es ein Sprichwort und so lehrt es auch die Geschichte. Nationale Ueberlieferung, gesellschaftliche Struktur, Lebensgewohnheiten und vor allem ein über die sprachlichen Unterschiede hin bei beiden Völkern ähnliches Temperament, gemischt aus hochfliegender Romantik und erdnahem Realismus: das waren, und das sind, die dauernden Tatsachen, auf denen eine nie erschütterte, bei Nachbarn seltene Freundschaft beruht, die sich vielleicht aufs überzeugendste und aufs tragischeste in den ach gar häufigen Zeiten des Unglücks, der Unterdrückung durch fremde Zwingherren bewährte.
So in gemeinsamer Abwehr gegen die Türken und gegen den Absolutismus der eigenen Herrscher während des Völkerfrühlings von 1848/49, im ersten Weltkriege, als ungarische Staatsmänner die eifrigsten Sachwalter polnischer Widergeburt waren, , in der Front .gegen den Kommunismus 1919 bis 1921 und sogar im zweiten Weltkrieg, da Ungarn, obzwar zur Heerfolge an Hitler gezwungen, sich, dessen Ingrimm zum Trotz, aufs hochherzigste der polnischen Flüchtlinge annahm. Gemeinsam haben Polen und Ungarn seit 1948 unter dem euphemistisch als Stalinismus bezeichneten Terror der alleinregierenden Kommunismen gelitten. Als Imre Nagy im Juli 1953 während seiner ersten Ministerpräsidentschaft den Versuch eines Einlenkens in vernünftigere Bahnen wagte, genoß er die lebhafteste Sympathie weiter polnischer Kreise. Und umgekehrt, sobald Räkosi nochmals auf einige Zeit zurück an die Macht kam und den nur notdürftig als Abwendung vom Stalinismus getarnten scharfen Kurs fortsetzte, blickte die ungarische Elite ihrerseits nach Warschau, wo inzwischen, nach Bieruts Tod, die Gruppe von Cyrankiewicz und hinter ihr sichtbar die Gomulkas ihre unermüdlichen Vorstöße gegen die blind mpskauhörigen Parteigewaltigen durchführten. Besonders eng gestaltete sich der Kontakt zwischen den Schriftstellern und Journalisten, dann zwischen der Studentenschaft beider Nationen. Aber auch im fortgeschrittensten Teil der Arbeiterschaft herrschte hüben und drüben eine ähnliche Stimmung.
Der Posener Aufruhr vom 28. Juni weckte in ganz,.Ungarn lauten Nachhall. Die sich überstürzenden Ereignisse des „Frühlings im Oktober“ — der achte Parteitag der polnischen PZPR, der Fall Rokossowski, die Rückkehr Gomulkas an die Macht, die vergebliche Intervention der persönlich nach Warschau gekommenen Koryphäen des Kremls — haben unmittelbar den Ausbruch der elementaren Erhebung in Budapest ausgelöst. Das, was sich zwischen dem 19. und dem 21. Oktober an der Weichsel vollzogen hatte, sollte durch die Kundgebungen in der ungarischen Hauptstadt vom 23, Oktober in Ungarn wiederholt werden. Allerdings waren einige wesentliche Voraussetzungen dort nicht gegeben, die den Polen ihren — vorläufigen? — Sieg erleichtert hatten. Polen besaß einen mit Autorität ausgestatteten Führer in. Reserve, der über mehr verf,ügtevals über die.unbezweifelbare Anständigkeit und die nationale Gesinnung Imre Nagys. An Gomulkas Seite wirkt ein Mann von außerordentlichen Qualitäten wie Spychalski, dem die Armee untersteht und d“ sofort eine völlig neue Equipe fähiger Generale, bereit hatte, um die sowjetischen „Spezialisten“ und ein paar russifizierte Polen zu ersetzen. Rokossowskis Abgang und der seiner wichtigsten Mitarbeiter geschah im Eiltempo, und es, klaffte' keine Lücke, es herrschte keine Verwirrung. Die polnische Armee, mit den Sicherhejtstruppen und anderen Formationen der bewaffneten Exekutive stand einmütig hinter der neuen Staatsführung, und diese gutausgerüstete Streitmacht ließ keinen Zweifel daran zu, daß sie sich jeder militärischen Intervention der UdSSR energisch widersetzen würde. An ihrer Seite hätte Sie das gesamte Volk von 27 Millionen gehabt. Gegen einen derartigen Widersacher, der zumindest während einiger Wochen sich behaupten konnte, wäre russischerseits ein sofortiger Krieg nötig gewesen, der zweifellos in eine Konflagration von weltweitem Umfang gemündet hätte, wäre auch zunächst der Ausgang des ungleichen Ringens festgestanden. Zudem mußte, und mjuß Gomulka nicht befürchten, wie Imre Nagy zugleich von links durch die Stalinisten und von rechts durch starke, dein andern Extrem zuneigende Gruppen angegriffen zu werden; wenigstens solange er einen offenen Bruch mit der Sowjetunion zu vermeiden weiß.
So ist es den Polen bisher geglückt, die Errungenschaften des Oktoberumschwungs zu behaupten, ohne über ihr Land ähnliches Unheil heraufzubeschwören, wie es die bedauernswerten heroischen Ungarn erdulden. Der Preis? Bekenntnisse zur Sowjetfreundschaft, die auf das deutlichste als nötiger diplomatischer Schachzug erkennbar sind, insofern sie über die These hinausgehen, daß Polen mit seinem übermächtigen östlichen Nachbar in Frieden leben will und daß es in manchen Fragen mit ihm eine gewisse Interessengemeinschaft hat; ferner an sich bedeutungslose Erklärungen, wie die — übrigens der öffentlichen Meinung wirklich entsprechende — Kritik am anglo-französisch-israelischen Verhalten gegenüber Aegypten und den anderen arabischen Staaten; endlich das, bei den jetzigen Machthabern sicher ehrliche Beteuern der Treue zum Sozialismus, zu den Grundprinzipien des gesellschaftlichen und wirtschaftlichen Umbruchs von 1945. Die in ihrer großen Mehrheit nach wie vor nichtmarxistische Bevölkerung hat nichts gegen derlei Zugeständnisse einzuwenden, die — wir wiederholen es: vorläufig — von Polen ein unsägliches Leid abhalten. Man begnügt sich, mit einer in diesem lande der'tollsten Romantik seltenen Nüchternheit, die bisherigen Ergebnisse eines unblutigen zähen Ringens um die Freiheit auszuwerten und wartet den Moment ab, um stufenweise neue Resultate zu erzielen.
Das bereits Erreichte ist wahrlich nicht wenig. Zunächst die Tatsache, daß man nach innen Herr im eigenen Hause ist. Das theoretisch fortdauernde Einparteiensystem bei gleichzeitiger Existenz mehrerer gleichgeschalteter Scheinparteien, die fiktive Einhelligkeit ist dahin. Denn erstens gibt es innerhalb der PZPR nun wieder beträchtlichen Einfluß früherer Sozialisten — Cyrankiewicz, Rapacki, Hochfeld, Drobner und andere, keineswegs proletarische Politiker — neben dem gemäßigter und national fühlender, gegenüber der Kirche toleranter Kommunisten. Zweitens sind die Bauernpartei, unter ihrem neuen Leader Ignar, der als Vizeministerpräsident in die Regierung kam, des weiteren die Katholiken, und zwar nicht nur die Leute von der Pax-Bewegung, sondern auch eine stets mit der Hierarchie in gutem Einvernehmen gebliebene Gruppe, an deren Spitze nunmehr ein Klub der katholischen polnischen Intellektuellen steht, in der Lage mitzusprechen. Dazu kommt, daß man auf dem Wege ist, mit der Kirche und deren berufensten Vertretern zu einem echten Modus vivendi zu gelangen. Eine de( ersten Taten Gomulkas war, den internierten Primas Kardinal Wyszynski auf ehrenvolle Weise durch Kliszko — neben Spychalski und Loga-Sowinski Gomulkas engster Mitarbeiter — nach Warschau zu holen, wo der Kirchenfürst sofort seine Funktionen als Oberhaupt des polnischen Episkopats und des gesamten polnischen Katholizismus wieder übernahm. Wenige Tage danach begann eine Kommission je zweier Repräsentanten der Kirche — die Bischöfe Klepacz und Choromanski — und des Staats — das Mitglied des Politbüros Jerzy Morawski und Minister Sztachelski — Verhandlungen über die künftigen Beziehungen der geistlichen und der weltlichen Gewalt.
In den verstaatlichten Betrieben wird, nach jugoslawischem, doch verbessertem Muster die Selbständigkeit der einzelnen Unternehmen erstrebt, wobei den Angestellten und Arbeitern Mitwirkung beim Leiten der Produktion und Anteil am Gewinn beschieden sein sollen. Dem Gewerbe, der privaten Kleinindustrie ist Spielraum gewährt. Die Kollektivisierung auf dem Lande wird abgestoppt. Im derzeit erwogenen neuen Wirtschaftsplan stehen die Bedarfsgüter voran. Die Ablieferungspflicht der Bauern wird gemildert. Das alles hat Gomulka in einer großen Rede vor 2200 Delegierten“ der PZPR zusammengefaßt, und es ist in manchem nicht bei leeren Worten geblieben. Man hat den Eindruck, daß die nunmehrigen Staatsführer mit höchster Beschleunigung am Werke sind, um vollendete Tatsachen zu scharfen und um insbesondere, was die Personalveränderungen betrifft, fertig zu sein, ehe die Sowjetunion, durch die Liquidierung der ungarischen Erhebung oder gar bei der bedrohlichen Verschärfung der gesamten Weltlage, in Polen das Steuer wieder herumwerfen will. Immer wieder zeigt sich die Wechselwirkung zwischen dem Geschehen an der Weichsel und an der mittleren Donau.
So behutsam aber die Polen trachten, den — offenbar seit einem internen Umschwung im Kreml, der am 30. oder 31. Oktober geschehen ist — wieder aktiv und sehr aggressiv gewordenen Russen keine Handhabe zum Eingreifen zu bieten: man läßt sich in Warschau nicht mehr den Mund verbinden, um über ''as ungarische Trauerspiel seinen Empfindungen und seinem Urteil freien Lauf zu geben. Anders als etwa in der Tschechoslowakei oder in Bulgarien, wo die tapferen, verzweifelten ungarischen Freiheitskämpfer als Faschisten und als Werkzeuge der westlichen Imperialisten beschimpft werden, schildert man wahrheitsgemäß Ursachen, Begleitumstände und Entwicklung des ungarischen Aufstands gegen die Bedrücker. Der Vorsitzende des Staatsrats (des kollektiven Staatsoberhaupts), Aleksander Zawadzk, hat das, und zwar mit Bedacht, bei einer Gedächtnisfeier zu Ehren der russischen Oktoberrevolution am 6. November, deutlich und kurz getan. „Von diesem Lande — Ungarn — spricht, an es denkt heute ganz Polen“, heißt es in einem Artikel des „Zycie Warszawy“. „Wenn wir die Zeitungen öffnen, suchen wir darin Nachrichten aus Budapest, mit beschleunigt klopfendem Herzen. Wir sitzen am Radioapparat... und formen uns aus fragmentarischen Nachrichten ein Bild der Ursachen und des Verlaufs der ungarischen Tragödie. Diese Tragödie erleben wir tief mit.“ — „Das Herz blutet uns“, lesen wir in einem anderen Bericht. Nirgends wird versucht, den Appell an die Hilfe der Sowjetarmee oder deren Intervention zu rechtfertigen. Doch der politischen Weisheit letzter Schluß findet sich in einer flammenden Mahnung des Dichter-Diplomaten Putra-ment: „ .., die ungarische Tragödie lastet auf den Gefühlen und den Gedanken eines jeden von uns. In ihr haben wir die düstere Aversseite der Warschauer Geschehnisse. Sie ist gewissermaßen das Negativ dessen, das sich bei uns ereignet hat. Es ruft uns zu: .Seht und Iernet(aus unseren schmerzlichen Erfahrungen)!'“
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