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Die Wahl des „Trotzdem“

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Nicht ohne Bangen hat man dem 20. Jänner 1957 entgegengesehen, dem Tag, an dem die polnischen Wähler zur Urne schritten, um ihren neuen Reichstag, den. Sejm, zu küren. Man wußte überall, worum es diesmal sich handelte. Nicht etwa um eine ideologische Auseinandersetzung zweier Systeme, um einen Kampf der Parteien, um wirtschaftliche, politische Fragen, sondern ganz einfach um die Existenz des polnischen Staates und im Zusammenhang damit um die Entscheidung, ob bei einer Wiederholung der ungarischen Tragödie in größerem Umfang Europa, der Westen neuerlich betrübter, passiver Zuschauer bleiben könnte, ob alsdann die so oft beschworene Gefahr eines dritten Weltkrieges noch zu bannen gewesen wäre.

Aus Moskau war mit dürren Worten verkündet worden: keine andere Partei als die kommunistische PZPR dürfe in Polen die Herrschaft ausüben, sonst sei „eine Katastrophe" unvermeidlich. Das war die Drohung mit einem sofortigen Einmarsch der Sowjetarmee für den Fall, daß die polnische Volksdemokratie auf Grund der Parlamentswahlen ihr Regime sichtbar ändern wolle. Elf Stunden vor Beginn der Abstimmung sagte Gomulka in einer kurzen, eindringlichen Radiorede noch klarer, härter: „Ein Streichen der Kandidaten unserer Partei ist gleichbedeutend mit dem Ausstreichen der Unabhängigkeit unseres Landes, es ist soviel wie das Streichen Polens von der Landkarte europäischer Staaten.“

Die als romantische Träumer verschrieenen Polen haben das ebenso begriffen, wie die wahrhaft nicht dem Leninismus holden berufenen amerikanischen Politiker. Man konnte darüber die Aeußerung eines hochgestellten Beraters Eisenhowers in der „Herald-Tribune“ lesen. In der Weichselrepublik zeitigte derlei Erkenntnis die absonderlichsten Früchte. Kommunisten der im Oktober 1956 besiegten scharfen, moskauhörigen Richtung trachteten den ruhigen Verlauf der Wahlen zu stören und damit die freiwillige Legalisierung der Hegemonie ihrer eigenen Partei durch eine zweifellos nichtmarxistische Volksmehrheit zu verhindern. Sie, die „Leute von Natolin“, steuerten offen auf jene im Moskauer Rundfunk an die Wand eines hypothetischen Hexenkessels gemalte „Katastrophe“ hin, die zwar ihr Land ins Unglück, doch ihnen die Rückkehr ans Staatsruder, unter dem Schutz fremder Bajonette beschert hätte. Emigranten, wie der zu europäischer Berühmtheit gelangte Milosz, sprachen sich für Gomulka aus. Vor allem aber die katholische Kirche Polens warf das volle Gewicht ihres überragenden Ansehens in die Waagschale, um den Triumph der Nationalen Einheitsfront (FJN) zu verbürgen. „Pflicht eines jeden Katholiken ist Stimmabgabe für den FJN“, schrieb der Bischof von Siedlce, Monsignore Šwirski, „er kann nicht ruhigen Gewissens sein, wenn er von seinem Stimmrecht keinen Gebrauch macht.“ Der Gesamtepiskopat mahnte in einem Aufruf vom 14. Jänner, Teilnahme am Urnengang sei für die Katholiken Gewissenspflicht.

Da es nun nur eine einzige Wahlliste gab, eben die des FJN unter Gomulkas Führung, hieß das praktisch, daß die Hierarchie den Gläubigen dringendst empfahl, für eine Liste einzutreten, auf der die Kommunisten über die Mehrheit der Mandate verfügten, wo freilich auch etwa zwei Dutzend bewußte Tatkatholiken zu finden waren. Kardinal Wyszyfiski und seine bischöflichen Amtsbrüder wußten, was sie taten. Sie verhüteten durch ein kleineres Uebel ein furchtbares Unheil für Kirche, Nation und Staat. Sie bezeigten den Kommunisten Polens die moralische Macht der Kirche und sie statteten Gomulka samt seiner Equipe — den Loga- Sowinski, Spychalski, Wladyslaw Bienkowski, Kliszko — den Dank für faires Entgegenkommen bei den Verhandlungen über einen Modus vivendi ab, der zu einer Entspannung zwischen geistlicher und weltlicher Gewalt geführt hat. Der Episkopat, voran der Erzbischof-Primas, bewies aber auch staatsmännische Einsicht in die Politik als in die Kunst des jeweils Möglichen, daß er nicht sofort mit derzeit unverwirklichbaren Begehren das so schnell Erreichte gefährdete, sondern Geduld und Maß sowohl predigte, als auch zur Richtschnur nahm. Polen ist ja noch immer nicht Herr seiner Entschlüsse; es hat nur eine größere Bewegungsfreiheit erlangt. Will man nicht die Sowjetheere heranfluten sehen, dann sind eine sozialistische Gesellschaftsordnung, die politische Vormacht der PZPR und das Bündnis mit der UdSSR vorerst hinzunehmen, zumal wenn jede dieser Lasten, sei ės erträglicher gemacht wird, sei es eine Notwendigkeit auf längere Sicht darstellt. Mit vielem, das der Sozialismus gebracht hat, ist man in Polen, Hierarchie, Klerus und Gläubige inbegriffen, durchaus einverstanden. An der Bodenreform, an der Nationalisierung der Großbetriebe will niemand rütteln. Die Einräumung eines umfangreichen Sektors für die Privatinitiative in Kleinindustrie, Handel und Gewerbe ist von Gomulka zugestanden; sie wird im Eiltempo verwirklicht und sie trägt zusammen mit der, an jugoslawische Muster anklingenden Konkurrenz nationalisierter Großbetriebe untereinander, mit der Erweiterung der Kompetenz der Arbeiterräte, mit der Bevorzugung der Gebrauchsgütererzeugung dazu bei, dem polnischen „Kommunismus“ ein von den Stiefbruderparteien in anderen Volksdemokratien oder von der KPSS abweichendes, freundlicheres Antlitz zu verleihen. Den Vorrang der PZPR kann man heute kaum erschüttern. Es mangeln dazu die äußeren und die inneren Voraussetzungen. Doch die Katholiken dürfen sich mit der Aussicht auf die künftige Entwicklung trösten, die — ohne das um jeden leistbaren Preis zu vermeidende Eingreifen Moskaus — eine weitere Humanisierung der herrschenden Partei und zugleich eine stete Zunahme des Einflusses anderer Gruppen, jedenfalls aber der Kirche und der Gläubigen, voraussehen läßt.

Das alles haben sich Bischöfe, Klerus und gläubige Laien, das hat sich die nichtkommunistische Mehrheit der Nation gesagt und demgemäß gehandelt. Doch es war von vornherein' auch den klugen Männern, die jetzt an der Spitze der PZPR stehen, sonnenklar, daß die kompakte Majorität der Polen, indem sie ihre Stimmen der Nationalen Einheitsfront gewährte, nicht für die Kommunisten eintrat oder gar für deren Weltanschauung; daß man einzelne kommunistische Leader bevorzugte, nflcht weil, sondern obwohl sie sich zur Erbschaft Marx' und Lenins bekannten. Daß endlich die großen Triumphatoren dieses Wahltages die katholische Kirche und das polnische Nationalgeführ waren. Die Gleichung „Poläk-KaitKo- lik“ hat wieder einmal alle sonstigen Berechnungen über den Haufen geworfen.

Am 20. Jänner haben trotzdem 98,4 Prozent der gültigen Stimmen, 16,563.314 von 16,833.316 — bei einer Gesamtwählerzahl von 17,944.081 — den FJN gewählt. Dieses Ziffernergebnis muß näher gewürdigt werden. In der Zahl von rund einer 1,100.000 Berechtigten, die zu Hause geblieben sind oder die ungültige (58.897) Voten abgaben, sind sowohl Greise und Kranke, als auch jenes Zwanzigstel der Bevölkerung enthalten, das seine unbedingte Feindschaft gegen die heutige Ordnung durch Abstinenz äußern möchte. Wichtig ist die Analyse der gültigen Stimmzettel. Sie bezeigt zunächst Gomulkas persönlichen Erfolg. Er hat in seinem Wahlkreis — Warschau III — die höchste Zahl unter den Kandidaten erreicht, 99,44 Prozent der Stimmen, und es ist ihm, allen Schwierigkeiten zum Trotz, gelungen, ohne Druck, wenn auch nicht ohne Nachdruck, sämtliche von ihm gebilligten Mandatsbewerber mit einer einzigen Ausnahme durchzubringen. In 4 5 8 von 459 Fällen haben die Spitzenkandidaten die Mehrheit erreicht; nur in Nowy S§cz waren die eigenwilligen Bewohner dieser Vorkarpatengegend nicht zu überreden, einen Mann zu nominieren, der dort eine Talsperre bauen wollte. Freilich sind auch anderwärts eine Reihe von umstrittenen Parteileuten, meist behaftet tnit dem Makel des von ihnen seither verleug- neten Stalinismus — oder sagen wir besser: Bierutismus —, nicht gerade glänzend aus der Urne hervorgegangen. So das Mitglied des Politbüros Zambrowski (8 8 Prozent der Stimmen in der Arbeiterstadt Uodž), die Führerin der jüngst aufgelösten Jugendorganisation ZMP, Jaworska (knapp 87 Prozent in Warschau II). Ins Auge springen dagegen die Erfolge der „Parteilosen“ — das heißt Antikommunisten —, zumal der Katholiken, die fast überall an Stimmenzahl den Erkorenen der PZPR (Vereinigte Marxistenpartei), des ZSL (der Bauernfraktion) und des SD (bürgerliche Demokraten) vorangehen. So hat der an fünfter Stelle kandidierende ausgezeichnete katholische Publizist Stomma den in demselben Wahlkreis als Spitzenkandidat auftretenden Ministerpräsidenten Cyrankiewicz überflügelt und sich auf den ersten Platz vorgeschoben (97,3 Prozent der Stimmen), ln Gomulkas Wahlkreis stehen die anderen Mandatsbewerber aus der PZPR zurück hinter dem parteilosen führenden Architekten Hryniewiecki, populär als Erbauer des Warschauer Stadions, und hinter dem gefeierten katholischen Dichter-Dramatiker Zawieyski (98,37 und 98,05 Prozent der Stimmen). In Warschau I mußte sich der offizielle Spitzenkandidat Albrecht, früherer Stadtpräsident und .Exstalinist, mit dem letzten Platz begnügen, während der nichtkommunistische Professor Bukowski (98,63 Prozent) und der junge Chefredakteur der zu ungeheurer Beliebtheit gelangten Studentenzeitschrift „Po prostu“, Eligiusz Lasota, einer der Hauptrufer im Streit wider den Stalinismus (98,43 Prozent), den ersten und zweiten Rang erhielten.

Von innen her gesehen, zeigt also der Urnengang vom 20. Jänner 1957 folgende drei Hauptergebnisse: Gomulka genießt das Vertrauen der Nation, das ihm neunzehn Zwanzigstel der Wahlberechtigten in aller Form und ohne Zwang bestätigt haben; dieses Vertrauen gilt ihm nicht weil, sondern obwohl er Kommunist ist, und es bewirkt, daß die nichtmarxistische Mehrheit der Bevölkerung bereit ist, das Regime zu unterstützen oder ihm wenigstens keinen Widerstand entgegenzusetzen, solange es von klugen Männern in humanem und nationalem Sinn geleitet wird. Der Katholizismus hat seine unerschütterte Machtposition in Polen behauptet und sie weithin sichtbar unter neuen Beweis gestellt. Es wird nun ein bemerkenswertes Experiment anheben: die Verteidigung eines von theoretischen Beken- nern des Leninismus geleiteten Systems, das die Sowjetallianz zu einem Eckpfeiler seiner Außenpolitik machen muß, gegen seine Hauptfeinde, die moskauhörigen Scharfmacher im eigenen Lager und gegen jeden Versuch seines mächtigen Verbündeten, sich in Polens innere Angelegenheiten einzumengen. Dabei wird der polnische Katholizismus der stärkste Helfer Gomulkas und seiner Equipe sein, die sich ohne diesen Beistand nicht lange zu halten vermöchten. Ihren Sturz möchte, unter den heuti-

gen Umständen, die polnische Kirche unbedingt vermeiden.

Gomulka wird es ferner obliegen, die UdSSR bei leidlicher Laune zu bewahren und dennoch westliche, vorab amerikanische Kapitalunterstützung zu gewinnen, ohne die eine Wirtschaftskrise großen Ausmaßes kaum zu vermeiden wäre. Diese Aufgaben erheischen einen Staatsmann von Format. Doch auch der vermöchte sie nicht zu meistern, blieben ihm Verständnis und Hilfe des Westens verweigert. Beides zu bieten fordern nicht nur die Interessen Polens, sondern auch die der gesamten Kulturwelt und die des Weltfriedens.

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