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Zuckerkranker und Mehlspeise

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Nicht die amtlichen Verlautbarungen, nicht die Debatten im Sejm, bei denen auch die Sprecher der nichtkommunistischen Gruppen sich einer Selbstzensur unterwerfen, sind für das heutige Polen bezeichnend, sondern die Vielfalt der Geschehnisse und der Tatsachen, aus denen sich das tägliche Leben der Nation zusammensetzt. Immer wieder stoßen wir auf zweierlei Beobachtungsmaterial, das zueinander im krassen Widerspruch zu stehen scheint und das dennoch miteinander koexistiert: auf die Fortdauer einer von allen Umbrüchen kaum berührten Tradition und auf die tiefen Wandlungen, die sich trotzdem im Denken und im Tun sogar der zäh an der Überlieferung festhaltenden „Gestrigen“ vollzogen haben.

Man liebt in Polen die Rundfragen, und besonders die über Literatur. Wiederum ist eine derartige Enquete veranstaltet worden, diesmal nicht unter einer höchstkultivierten Auslese, sondern unter Zehntausenden von Lesern verbreiteter Zeitschriften, unter denen die meisten kommunistisch oder wenigstens von sehr eifrigen Mitläufern des Marxismus geleitet sind. Das Ergebnis: unter den elf gelesensten Autoren des polnischen Schrifttums der Gegenwart treffen wir, gemäß diesem Plebiszit, zwei Kommunisten (von unbestritten großem Talent), die bürgerlich-liberale größte Schriftstellerin ihres Landes, Maria D^browska, einen bei Jugend und Volk stärksten Anklang weckenden nichtkommunistischen Erzähler exotischer oder aus der Fliegerei geschöpfter Themen und sieben militante Katholiken. Noch eindrucksamer ist eine Befragung sämtlicher Schüler der Krakauer höheren Schulen. Diese jüngste Generation, die von ihren Lehrern in kommunistischem Geist herangebildet werden soll, hat unter ihren 15 bevorzugten Verfassern nicht einen einzigen Kommunisten genannt. Zur Auswahl waren Prosaiker der letzten hundert Jahre aus allen Nationen zugelassen. Es siegten von Ausländern Agata Christie, Hemingway, Conan Doyle, Fran-coise Sagan, Jack London, Karl May, Joseph Conrad, Albert Camus, dann acht Polen, Sien-kiewiez, der Sensationsromancier Marczynski, Hlasko, Prus, der polnische Jules Verne St. Lern, die Orzeszkowa und Kraszewski (diese beiden, gleich Prus, ältere oder gleichaltrige Zeitgenossen Sienkiewiczs, sehr patriotisch gefärbte, mit einem Tropfen fortschrittlichen Öls gesalbte Realisten).

Diese Jugend, deren ästhetischen Geschmack man kritisieren kann, hat eines bestimmt nicht auf dem Kerbholz: Fanatismus für kommunistische Ideologie. Um so tiefer sitzt ihr Freiheitsdrang, und da ist sie mit den reiferen Jahrgängen einig.

In Polen ist das möglich, weil zwar neunzig und mehr Prozent der Bewohner keine Kommunisten und wohl auch keine Marxisten sind, weil sie aber aufgehört haben, den Sozialismus ä la polonaise als vorübergehenden Zustand zu empfinden, gegen den man konspirieren darf, den man sabotieren soll und den man verabscheuen muß. Sie haben sich mit ihm abgefunden, wie ein Zuckerkranker, der ekgisch an die einst mit soviel Wonne verzehrte Mehlspeise sich erinnert, der aber weiß, daß er, geschieht nicht ein Wunder, niemals mehr derlei genießen wird. Inzwischen heißt es aus Not, wenn nicht eine Tugend, doch eine erträgliche Gewohnheit machen, und am fcnde wird man sien sogar zu dem Dessert mit Zuckerersatzpräparaten bequemen.

Dieses kulinarische Gleichnis halte sich der geneigte Leser vor Augen, wenn er die polnische Kirchenpolitik verfolgt. Da ist vor einigen Wochen im Organ Kardinal Wyszyiiskis, dem „Tygodnik Powszechny“, ein außerordentliches Aufsehen erregender Artikel des geistreichen Kritikers und Sejmabgeordneten K i s i e 1 e w-s k i erschienen, darin die „sozialistische Literatur“ mit nicht geringerer Duldsamkeit erörtert wurde, als die Warschauer Machthaber gegenüber der katholischen Dichterin Illakowiczöwna an den Tag legen. Kisielewski erklärt, der Schriftsteller müsse lebensnah sein; in Polen regiere nun einmal der Sozialismus und darum habe sich auch der nichtmarxistische Autor mit den Problemen zu beschäftigen, die im sozialistischen Staat aktuell sind. Das heiße allerdings nicht, daß sich ein katholischer Schriftsteller auf den Standpunkt des Marxismus begeben solle, dürfe. In ähnlicher Weise hat sich schon der Obmann des katholischen Abgeordnetenklubs „Znak“, Professor S t o m m a, geäußert. Es gelte auch für die Katholiken die Notwendigkeit, auf wirtschaftlichem und politischem Gebiet umzulernen und nicht schmollend beiseite zu stehen. Kirche und Gläubige mögen trachten, innerhalb einer neuen Gesellschaftsordnung einen festen Standort, weitreichende Mitarbeit und dadurch Wirkensfreiheit zu gewinnen.

Dieses Programm stößt nun auf energische Ablehnung sowohl bei einem großen Teil der polnischen Katholiken, vornehmlich der älteren Generation, als auch in kommunistischen Parteikreisen, zumal bei Intellektuellen, und seitens nichtmarxistischer Freidenker. Die negativen Stimmen aus dem katholischen Lager können nicht offen zu Wort kommen, und zwar im Hinblick auf die der freien Meinung selbst im tolerantesten Diktaturstaat gezogenen Schranken und dazu angesichts der Tatsache, daß Stomma und Kisielewski.offenkundig Au£fassua*u gen. verfechten*-die dem Kardinalprirnasgetwhin* sind. Im Gespräch melden sich die Proteste katholisch-integristischer Sphären ohne Scheu zu Wort. Sie werden daran durch keine staatlichen Vexationen verhindert. Und sie sehen sich in merkwürdiger Übereinstimmung mit den Kommunisten und anderen Freidenkern, die behaupten, der Katholizismus sei mit einer sozialistischen Gesellschaftsordnung unvereinbar.

Die leitenden Männer des Regimes haben vermutlich alle diese Ansicht; einige Parteigrößen, die davon abweichende Methoden vorzogen, wie Bieiikowski, sind ausgeschaltet worden. Ungeachtet des eben geschilderten starren theoretischen Grundsatzes — dem man im Grunde auch auf katholischer Seite nicht recht widersprechen sollte: denn Katholizismus und Kommunismus sind miteinander unvereinbar — neigen aber Gomulka und seine Leute nach wie vor in der Praxis zu einer Haltung, die vorläufig der Kirche, um des lieben Friedens willen und um die nationale Einheit zu sichern, Zugeständnisse gewährt. Diese gehen über das eigentliche kommunistische Programm hinaus und sie nähern sich in ihrer Auswirkung dem, was vorhin als Ziel der zur Mitarbeit bereiten Katholiken, beileibe nicht nur der Kollaboranten von der „Pax“, geschildert wurde: der Einordnung echt katholischer Gruppen in das öffentliche Leben. Allerdings wollen die marxistischen Führer Garantien haben, daß dabei keine ihnen unversöhnlich politisch feindlichen Kräfte im katholischen Lager etwas mitzureden haben.

So ist es zu der Polemik über den Bischof von Kielce, Kaczmarek, gekommen, den der Primas schließlich bewogen hat, im Interesse einer Verständigung auf die Ausübung seines Oberhirtenamtes „zeitweilig“ zu verzichten. Über diesen Punkt war ein Kompromiß nicht allzu schwer. Ärger steht es um grundsätzliche Streitfragen. Dazu gehört vordringlich die Geburtenkontrolle, bei der die Prinzipien der christlichen Moral und der kommunistischen Staatsräson einander schroff gegenübertreten. Am ehesten aber lassen sich die finanziellen Unstimmigkeiten aus der Welt schaffen. Der Staat hat es in der Hand, die schikanöse Besteuerung des Klerus und katholischer Institutionen, wie die Lubliner Universität, aufzugeben. Über alle diese Probleme wird gegenwärtig in Warschau zwischen einer Abordnung des Episkopats und der Regierung und der Partei verhandelt.

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