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Polarisierungen in Polen

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Ende Juni besuchten österreichische Politiker und Journalisten Warschau, Krakau, Lodz und Danzig. Erhard Busek schildert Eindrücke der „polnischen Zustände“.

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Ende Juni besuchten österreichische Politiker und Journalisten Warschau, Krakau, Lodz und Danzig. Erhard Busek schildert Eindrücke der „polnischen Zustände“.

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„Polnische Zustände“ sind als Pauschalurteil uns ebenso geläufig wie die symbolhafte Aussage der Landeshymne, .Noch ist Polen nicht verloren“. Wer die Entwicklung dieses für Europa so bedeutenden Landes seit dem Zweiten Weltkrieg verfolgt, kann sich von Richtigkeit und Problematik solcher Vereinfachungen immer wieder überzeugen. Polen — ein Land mit reicher Geschichte und schlechter geopolitischer Geographie — überrascht immer wieder mit Ereignissen, die die Welt in Atem halten.

Wenn man der unstillbaren und romantischen Sehnsucht der Polen nach Unabhängigkeit oft Aussichtslosigkeit attestiert, stellt sich trotzdem eine Niederlage als Sieg heraus. Bei einem Besuch von österreichischen Politikern,Studentenvertretern und Journalisten Ende Juni in Breslau, Danzig, Lodz, Warschau und Krakau hat sich deutlich herausgestellt, daß die an sich gescheiterte und auf traditionelle Punkte in Polen beschränkt gebliebene Streikbewegung von Arbeitern und Studenten im Mai 1988 letztlich einen Erfolg der längst totgesagten Solidarnosc erbracht hat.

Streikführer waren junge Arbeiter unter 20, für die der August 1980 längst nur mehr eine Legende und Lech Walesa ein historisches Monument ist. Heute ist es allen Beteiligten klar: Die Bewegung der Unabhängigen und der Opposition braucht den Namen und die Leitfiguren von Solidarnosc als großen Schirm, wobei alle Beteiligten — auch Lech Walesa und seine Berater—Wert auf die Feststellung legen, daß es sich nicht um eine Uniformität der Bewegung, sondern um Vielgestaltigkeit und Selbständigkeit handelt. Man will keine Einheitsopposition, sondern plurales Auftreten, denn schließlich geht es auch um die eigene Glaubwürdigkeit, wenn man eine pluralistische Gesellschaftsordnung von der Regierung verlangt.

In dieses BUd paßt auch das Auftreten der „orange-alternativen Bewegung“. Hier handelt es sich um junge Menschen, die ähnlich der westeuropäischen „68er Bewegung“ zu provokativen Aktionen Zuflucht nehmen, die mehr im Bereich des Heiteren angesiedelt sind und das Regime der Lächerlichkeit aussetzen. Wenn am „Tag des Kindes“ von kostümierten Gartenzwergen Zuckerln verteilt und am „Tag der Frau“ die in Polen fehlenden Damenbinden symbolisch gezeigt werden, können riesige Polizeikohorten zwar Festnahmen durchführen, aber die Blitzlichtaufnahme der politischen und wirtschaftlichen Schwäche der Mächtigen nicht verhindern.

Das Büd aber ist durch diese Entwicklung differenzierter geworden. An der für die polnische Entwicklung so bedeutenden Kirche wird Kritik wegen politischer Abstinenz und zu großem Reichtum geübt, in der Kirche gibt es Fraktionen, die sich über das Ausmaß des Engagements nicht einig sind. Solidarnosc und alle anderen unabhängigen Bewegungen erleben, daß die Jüngeren radikaler werden. Noch ist nur von Waffen die Rede, noch meint man, daß die Formen des zivilen Widerstandes der frühen achtziger Jahre auch möglich seien.

Besonnene Menschen mit Erfahrung sehen allerdings mit einiger Besorgnis, daß die Jüngeren mit friedlichen Aktionen allein zunehmend nicht mehr zufrieden sind. Die wirtschaftlichen Probleme und die offensichtliche Erfolglosigkeit des Jaruzelski-Regimes., haben dazu geführt, daß die Radikalität bei vielen kein Fremdwort mehr ist. Basis dafür sind Veränderungen in der polnischen Gesellschaft, die auch von der Regierung registriert werden: Während sich die Mehrzahl zunehmend in Resignation und Privatheit zurückzieht, gibt es eine nicht zu unterschätzende Minderheit, die sich aggressiveren Druck vorstellen kann.

Die wirtschaftspolitische Untätigkeit hat dazu geführt, daß die Verrottung der polnischen Wirtschaftsstrukturen zugenommen hat. Der Schwarzmarkt blüht, der US-Dollar ist die Leitwährung, und mehr und mehr Fachkräfte wandern in den Westen ab oder sind zumindest temporär im Pfusch in unseren Breitengraden tätig, um mit dem so verdienten Geld entweder im Ausland etwas zu erleben oder im Inland ein Haus zu bauen — Investitionen in die eigene Wirtschaft gibt es keine.

Die Polizeimacht kann nicht an allen Ecken und Enden eingesetzt werden: Die polnische Opposition gefällt sich in Telefoninterviews für Radio „Free Europe“, die sanktionslos bleiben. Im Gegenteil: Regierungssprecher Jerzy Urban wird selbst Gast dieser seit Jahrzehnten bekämpften Radiostation sein, also nicht nur Ronald Reagan geht ins „Land des Bösen“. Angeblich sind die Auflagen diverser Untergrundzeitungen und sonstiger Publikationen bereits größer als die der Regie-rungs- und Parteipresse, ja man begegnet einer hektischen Gründungseuphorie bei den verschiedensten Gruppen und Organisationen.

Ein besonderes Kapitel ist die Beobachtung von Gorbatschows Glasnost und Perestrojka. Einerseits ist man stolz, darauf hinweisen zu können, daß Polen eigentlich der „Erfinder“ dieser Entwicklung ist, andererseits beklagt man, daß Jaruzelski seinen angeblich vorhandenen Spielraum zu wenig nutzt. Adam Michnik spricht vom „Klassenegoismus der herrschenden Schichten“, die konsequenterweise auf Privilegien verzichten müßten, um eine Änderung herbeizuführen. Für ihn hat Polen ein „posttotalitäres“ System, das durch die Schwäche der Machthaber gekennzeichnet ist.

Andererseits wieder gibt sich die Opposition der Illusion hin, daß ein pluralistisches Wirtschaftssystem möglich wäre, während man als Konzession der Zugehörigkeit zum Sowjet-Block eine monopolistische Machtausübung im Staate zur Kenntnis nähme. Vorstufe dazu soll der von Professor Bronislaw Geremek der Regierung angebotene„Anti-Krisis-Pakt“ sein, der wieder bei der Regierung Vorstellungen auslöst, die der österreichischen Sozialpartnerschaft nahekommen. Tatsächlich studiert man in Polen das System der österreichischen Lohn-Preis-Kommission, wobei sich niemand darüber Rechenschaft gibt, daß es in Polen sowohl ein freies Unternehmertum als auch eine freie Gewerkschaft nicht gibt.

Die Kritik am mangelnden Mut von General Jaruzelski erhielt auch neue Nahrung durch Gorbatschows Ausritte gegen das Kolchosen-System. Die Produktivität der staatlichen Landwirtschaft Polens ist wohl ähnlich der der Sowjetunion, negativ ähnlich, heftige Kritik aber hat man von Parteiseite an der Weichsel noch nie gehört. Man fühlt sich durch die Moskauer Ereignisse überholt, wobei intellektueller Skeptizismus gleich dazu die Warnung hervorkommen läßt, doch nicht zu glauben, daß sich in der Sowjetunion etwas ändern werde.

Die Äußerungen auf der All Unions-Konferenz werden in Polen genau studiert: Phrasen werden analysiert, Vergleiche gezogen, Thesen aufgestellt und Machtspiele durchgeführt. Die Ergebnisse sind ziemlich gleich:Gorbatschow hat in der Sache, insbesondere im Bereich des Ökonomischen, keinerlei Chance, Veränderungen durchzusetzen, allerdings wird die Sowjetunion nie mehr dieselbe werden wie vor ihm.

Man spricht davon, daß der östliche mächtige Nachbar „polnische Zustände“ bekommen wird, die Parallele zum Prager Frühling 1968 taucht auf, die Freude der polnischen Intellektuellen an der Möglichkeit der russischen Intellektuellen, jetzt zu diskutieren, ist zu erkennen. Es gäbe aber die Kader nicht, um die notwendigen Änderungen durchzuführen, schließlich hätte man ja selbst damit Erfahrungen.

Und dann schlägt wieder die Historie zu: Für die Russen — ausdrücklich sagt man Russen und nicht Sowjets — sei das Imperium immer noch das Wichtigste, egal,welches politische System sie haben. Die beginnenden Nationalitätenkonflikte werden dazu führen, daß die kleine Freiheit Gorbatschows dem russischen Hegemoniestreben geopfert wird.

Die Sorge der polnischen Beobachter ist nicht unberechtigt: Auf Auf einer Konferenz von Literaten aus der Sowjetunion war der Konflikt schon sehr deutlich. Plötzlich rückten exilierte Schriftsteller wie Josef Brodsky mit den Vertretern der russischen Heimat wieder enger zusammen, um György Konrad, der wieder von den Exilierten seiner Heimat und Polens, der Tschechoslowakei, Rumäniens und Ungarns flankiert wurde, entgegenzutreten: Die Mitteleuropäer warfen den Russen vor, sie verstünden nichts von der Identität der kleinen Nationen, von ihrer Sehnsucht nach Freiheit und von der Unterdrückung durch sowjetische Panzer. Die Exilierten waren sich wieder mit den von zu Hause Kommenden einig: Das russische Imperium sei an sich vernünftig, nur das gegenwärtige politische System sei problematisch.

Polen hat seit 1956 bei ständig zunehmender Spannung gezeigt, was Veränderung, Sehnsucht nach Freiheit und aus der Inkompetenz eines Regimes in einem Sowjetsystem bedeutet. Es war und ist eine kleine Welt, in der die große ihre Probe gehalten hat. Man darf neugierig sein, auf welchen Pfaden sich die „polnischen Zustände“ entwickeln.

PS: Österreich hat weiter eine besondere Aufgabe: War schon die polnische Opposition über die Umstände und Begleiterscheinungen der Bundespräsidentenwahl wegen des ramponierten Ansehens unserer Heimat nicht begeistert, hat vollends die undurchsichtige Asylpolitik des gegenwärtigen Innenministers Verwirrung über unser Land gestiftet. An allen Ecken wurde einem im Gespräch vorgehalten, der österreichische Innenminister sei der beste Freund des polnischen Polizeiministers General Czeslaw Kiszczak in den Augen jener, die nach Freiheit suchen, eine Unmöglichkeit für den Repräsentanten einer westlichen Demokratie.

Auf jeden Fall beinhaltet diese Kritik die Aufforderung, auch Klarheit im eigenen Land zu schaffen, denn die kommende Entwicklung im „Ostblock“ wird das Verhältnis Österreichs zur Freiheit und deren praktische Handhabung auf eine neue Probe stellen.

Der Autor ist Stadtrat in Wien.

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