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Sieg über die Gleichgültigkeit

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Vor einem Jahr, am 14. A ugust 1980, erreichte mit dem A usstand der 17.000 A rbeiter der Lenin- Werft in Danzig der polnische Streiksommer seinen Höhepunkt; es entstand eine revolutionäre“ Lage, die schließlich zu tiefgreifenden Änderungen in Polen führte, die das Beiwort „historisch“ durchaus verdienen. Was ist das Wesen dieser Ä nderungen, wie sieht die Bilanzier polnischen Erneuerung nach einem Jahr aus?

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Vor einem Jahr, am 14. A ugust 1980, erreichte mit dem A usstand der 17.000 A rbeiter der Lenin- Werft in Danzig der polnische Streiksommer seinen Höhepunkt; es entstand eine revolutionäre“ Lage, die schließlich zu tiefgreifenden Änderungen in Polen führte, die das Beiwort „historisch“ durchaus verdienen. Was ist das Wesen dieser Ä nderungen, wie sieht die Bilanzier polnischen Erneuerung nach einem Jahr aus?

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Die Ereignisse von Danzig im August 1980, wiewohl sie ihre Vorläufer und dramatischen Ankündigungsignale hatten, rollten in drei kurzen, schwülen Sommerwochen ab wie eine griechischen Schicksalstragödie. Die Geschichte erwählte sich ihre „Helden“, gestaltete und formte sie - und die so Erwählten veränderten und prägten wiederum die Geschichte. Das gilt für den ehemaligen polnischen Parteichef Gierek ebenso wir für den damals noch unbekannten Elektromonteur Lech Walesa.

Ganz Polen handelte und redete, träumte und litt, brodelte voll zerstörerischer Ungeduld und suchte im Chaos die Ordnung.

Unvergeßliche Szenen voll ungeheurer Symbolkraft, „Sternstunden“ im Zweig’schen Sinn, bot dieses polnische Drama mehr als genug: Nur an eine sei kurz erinnert.

In den ersten Tagen des Ausstandes ergreift im Versammlungssaal des überbetrieblichen Streikomitees in der Lenin-Werft ein kleiner, gedrungener Mann das Wort: „Ich bin Parteimitglied, aber in Wirklichkeit gehöre ich zu euch!“

Die Menge im Saal schreit:,, Raus mit ihm, raus!“

Der Mann versucht sich zu rechtfertigen, aber er wird überschrien: „Wir kennen diese Sorte. Wer hat Dich hierher geschickt? Raus mit Dir!“

Der Mann zittert vor Angst und ruft: „Ich werde auf das Kruzifix schwören, daß ich die Wahrheit sage!“ Und er klettert auf den Tisch, über dem der polnische Adler und ein Kruzifix hängen und küßt die Christusfigur.

In dieser Begebenheit sind die vielfältiger. Eigenheiten und Veränderungen Polers, die seither stattfanden, vorgeformt und symbolhaft ausgeprägt, ist durcha«s auch der Ansatz zu einer bi- lanziererden Analyse enthalten.

Die umbhängige Gewerkschaft „Solidarität“,die aus dem Streik erwuchs, hat heute z?hn Millionen Mitglieder in Polen, wovon rund ein Drittel auch Mitglieder det Partei sind. Der Aufbau einer Massenorganisation dieser Größe, beginnend in drei Zimmern einer ehemaligen Arztpraxis in Danzig mit ein paar Schre.btischen, einer Herdplatte und einemTelefon, ist und bleibt ein nahezu singulires Meisterstück und ist nur mit dem urbedingten Willen zur gesellschaftlichen Veränderung und ihrer Institutionalisie-ung und der typischen polnischen Inprovisationsgabe zu erklären.

Organisatorisch uni strukturell hat sich die unabhängige Gewerkschaft, nach ihrer formellen Registrierung im Oktober 1980, ständig gefestigt. Die Gewerkschaft hat eine eigene Wochenschrift (Auflage 500.000 Exemplare) und verfügt durch Mitgliedsbeiträge und Spenden aus dem Ausland über eine so solide finanzielle Basis.

Durch die demnächst abgeschlossenen Gewerkschaftswahlen wird auch der Prozeß der inneren Demokratisierung dieser Organisation mit dem Kongreß Anfang September und Anfang Oktober seinen Höhepunkt finden.

Die Gewerkschaft hat in dem Jahr ihres Bestehens zweimal mit dem Generalstreik gedroht, ohne ihn durchführen zu müssen, hat in einer großen Kraftprobe die arbeitsfreien Samstage erzwungen, in zahlreichen Regionalausständen Mißstände beseitigen und soziale Veränderungen herbeiführen können. Auch die Gründung einer unab hängigen Bauerngewerkschaft, die konzeptive Arbeit in der Legislative durch Einreichung „gesellschaftlicher Entwürfe“ sind weitere Aktivposten der „Solidarität“.

Innerlich bleibt sie, trotz nach außen gewahrter Einigkeit, weiterhin gespalten: In die „Partisanen“ also jene Gruppe, die ausschließlich mit dem Mittel der Konfrontation dem Regime gegenübertreten wollen; in den gemäßigten, liberal-katholischen Flügel, der mit „kirchlicher“ Taktik vorzugehen sucht: schließlich in jene Gewerkschafter vom Typ der britischen „shop-ste- wards“.

Der August 1980 hat aber auch Veränderungen innerhalb der „führenden“ Polnischen Vereinigten Arbeiterpartei (wie sich die Kommunisten am Land der Weichsel nennen) ausgelöst, die tie-, fer und umwälzender sind als jene in der KPTsch im Jahre 1968 in der CSSR. Der im Juli abgehaltene Reformparteitag hat nicht zu einer personellen Um- struktierung im Mittelbau und an der Spitze und zu einer aktiven Beteiligung mit Mitgestaltung der Parteibasis ge führt, sondern auch zu einer echten Demokratisierung mit all ihren Chancen, Gefahren und Risken.

Derselbe Vorgang hat sich auch in den „Blockparteien“ der kleinen „Demokratischen Partei“ und der „Bauernpartei“ vollzogen. Mit Recht kann man sagen, daß nun in allen dreien eine innerparteiliche Legitimität gegeben ist, die freilich nun nicht mit der Legitimierung des politischen Systems als solches verwechselt werden darf.

Auch die katholische Kirche Polens ist in den Erneuerungsprozeß einbezogen worden: Mit gebotener Vorsicht und Vorbehalt hat sie am Anfang den Prozeß der Erneuerung unterstützt, hat später ihre „Intimität auf Distanz“ zur Gewerkschaft kultiviert, ohne deswegen ihre prinzipielle Position aufzugeben: im politischen System integriert zu bleiben, um es verbessern und wirksam mit Forderungen rein kirchlicher und humanistischer Art konfrontieren zu können. (Aphoristisch verkürzt könnte man sagen: Die Kirche hat, um ihrer eigenen Existenz und der der Nation willen, ihre Koexistenzpolitik mit dem kommunistischen Staat beibehalten und sie auf die neue Kraft, die Gewerkschaft erweitert.)

Ein wesentliches Ergebnis des August 1 980 und der nach folgenden Ereignisse ist wohl auch, daß sich die in der Gierek-Ära formierte Opposition - de ren Rolle ungemein wichtig für den Danziger Sommer war, praktisch aufgelöst hat. Es gibt keine „Dfssidenz“ mehr in Polen.

Eine Bilanz der polnischen Ereignisse im praktischen und konkreten Bereich muß notwendigerweise widersprüchlich und nicht eindeutig positiv oder negativ ausfallen, was an einigen wenigen Punkten demonstriert werden soll:

• Der gewerkschaftliche Kampf hat eine Erhöhung des Durchschnittslohns von 4500 auf etwa 6700 gebracht; doch Versorgüngsschwierigkeiten und der dadurch entstehende Schwarzmarkt sowie die offizielle Inflation vernichteten diesen Erfolg vollkommen.

• Die Gewerkschaft „Solidarität“ ist zwar registriert, sie ist als gesellschaftliche Institution gefestigt, doch der bisher vorliegende Entwurf zum Gewerkschaftsgesetz legt der spontanen gewerkschaftlichen Arbeit und auch dem Streik massive bürokratische und juristische Fesseln an.

• Die Zensur hat sich zwar sehr gelok- kert; doch zeigt sich, daß das Instru mentarium noch da ist und auch gelegentlich repressiv eingesetzt wird. Der bisher vorliegende Gesetzentwurf zur Zensur bedeutet nun keineswegs „Pressefreiheit“-, enthält viele Tücken und Fesseln, ja vorausprogrammierten Konfliktstoff.

Bedeutender als die konkreten, praktischen, sozusagen „meßbaren“ Veränderungen, die der August 1980 und das Jahr danach gebracht haben, sind jene im psychologischen, moralischen und politologischen Bereich.

Der Krakauer Philosophieprofessor und Theologe Josef Tiszner hat, bei einem Aufenthalt in Wien, so formuliert: „Die wichtigste Leistung der Erneuerung in Polen ist das wiedergewonnene Gefühl der Würde, der geistigen und moralischen Befreiung.“

Nahezu denselben Befund gibt es aus der entgegengesetzten ideologischen Ecke. Der liberale Kommunist und Vizepremier Rakowski meinte: „ Nach' Jahren der Gleichgültigkeit oder der vorgetäuschten Schein-Aktivität haben die Leute den Mund aufgemacht; sie wollen und werden nicht mehr schweigen. Die Mehrheit der Bevölkerung engagiert sich für einen Sozialismus, wo die Würde des Werktätigen geachtet wird und die Worte mit den Taten übereinstimmen. Die politische Aktivität der Bevölkerung hat also auch eine stark moralische Komponente.“

Politologisch betrachtet, hat die „Erneuerung“ in Polen ebenfalls langfristige Weichenstellungen vorgenommen.

• Zum ersten Mal gibt es im Kommu nismus eine Gewerkschaft, die tatsächlich unabhängig, nicht Bestandteil des Staates ist, sondern Partner und „Kontrolleur“. Zum ersten Mal wurde „mit der schädlichen Illusion gebrochen, daß sich im Sozialismus Arbeiter vor dem Arbeitgeber nicht zu schützen brauchen, da sieja selber stolze Eigentümer der Produktionsmittel seien“ (Adam Zagajewski).

Zum ersten Mal in der Geschichte der kommunistischen Systeme in Osteuropa hat der gesellschaftliche Protest eine institutionelle Ausdrucksform bekommen, sich rational und politisch wirksam zu artikulieren.

• Zum ersten Mal in Osteuropa hat die „ Macht“ et was von ih rer „Shakespeare- haftigkeit“ verloren.

Durch die kontrollierende „Gegenmacht“ der Gewerkschaft, durch eine verstärkte öffentliche Meinung, durch moralischen Druck von unten, durch ein etwas lebendigeres Parlament (im Sejm sind nun Gegenstimmen oder Stimmenthalten an der Tagesordnung), durch innerparteiliche Meinungsviel- falt, die laut neuem Statut nun sogar erlaubt wird, durch all das ist die „Macht“ in Polen ihres „Königstums“ etwas entkleidet, sie ist beschränkt, potentiell verwundbar.

• Schließlich ist durch Danzig und das, was ihm folgte, wieder einmal „die Arbeiterklasse zur gestaltenden Kraft der Geschichte geworden“ (Lenin), nachdem ihr im Namen des Marxismus-Leninismus eben diese Kraft in Osteuropa nur propagandistisch zugeschrieben, real aber abgenommen worden war.

Ausgehend von dem Ist-Zustand in Partei, Kirche und Gewerkschaft in Polen, Rücksicht nehmend auf die praktischen, psychologischen und politologisch relevanten Veränderungen und Umwälzungen, läßt sich dennoch nicht - nach diesem einen Jahr - ein exakte Prognose über den Ausgang dieses faszinierenden politischen Experimentes treffen.

Denn zwei unwägbare Faktoren bestimmen die polnische Entwicklung, greifen direkt oder indirekt in sie ein: Das sind die Außenbeziehungen - und die wirtschaftliche Lage.

• Stalin hat Polen einmal als die „größte Kriegstrophäe“ der Sowjetunion bezeichnet. Dieses Bewußtsein ist auch heute im Kreml tief eingewurzelt und wird noch verstärkt durch das Si- cherheits- uric! Glacisdenken, das schon immer da war, unter dem Verhalten der Reagan-Regierung sich noch stärker ausprägt. Damit ist aber dem verbündeten Polen eine eindeutige Grenze gezogen, das Experiment geschieht in einem fest abgesteckten Rahmen.

Daß andere, „ideologische Grenzen“ (freie Gewerkschaften sind mit den Prinzipien des Sozialismus unvereinbar) überschritten werden können, haben gerade der Augsut 1980 und seine Folgen deutlich gezeigt. Daraus folgt, mit dem polnischen Philosophen Leszek Kolakpwski, zweierlei:

• „Welche Grenzen die Flexibilität des despotischen Sozialismus besitzt, läßt sich nicht a priori auf Grund seiner allgemeinen Definition bestimmen. Diese Grenzen dehnen sich entsprechend des gesellschaftlichen Druckes aus.“

• „Ein anti-totalitärer Widerstand ist möglich, kann wirksam sein.“

Die Wirtschaftslage ist - neben den Außenbeziehungen Polens und seiner Einbettung ins sozialistische Lager - der zweite Faktor, der das weitere Schicksal Polens wesentlich bestimmen wird.

Ohne eine gesunde ökonomische Basis kann jeder politischen, gesellschaftlichen und psychologischen „Erneuerung“ das Umschlagen ins Gegenteil drohen. Pessimistische Prognosen sprechen etwa davon, daß Polen erst 1985 (mit etwa 37 bis 40 Milliarden Dollar Auslandsverschuldung) die Talsohle der wirtschaftlichen Krise erreichen wird und erst in zehn Jahren an einen echten Aufschwung zu denken ist.

Ob die polnische Erneuerung diese langandauernde „Krankheit“ ohne substantiellen Schaden übersteht, ist zumindest fragwürdig.

In den heroischen Streiktagen des Augsut 1980 hat Lech Walesa sein berühmtes Wort geprägt: „Auf Knien, aber vorwärts!“ (Es ist für die Polen eine zwar wenig ermutigende, dennoch die vermutlich bitter realistische Zukunftsaussicht.

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