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Geburtstag ohne Freude

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„Solidarnoäc" bedeutete einst Freiheit, Arbeiterautonomie und Pluralismus. Vor zehn Jahren begannen die Polen, als erste in Osteuropa, die kommunistischen Fesseln abzustreifen.

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„Solidarnoäc" bedeutete einst Freiheit, Arbeiterautonomie und Pluralismus. Vor zehn Jahren begannen die Polen, als erste in Osteuropa, die kommunistischen Fesseln abzustreifen.

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Keine Feiern sind angesetzt, kei- ne Straßen geschmückt mit dem markanten Schriftzug „Solidar- nos'd" in rot. Keine Dissidentenzir- kel erinnern sich in heimlichen Treffs - die Welt hat andere Proble- me.

Man muß sich die Augen reiben, versucht man sich zu erinnern: Genau vor zehn Jahren schaute man von überall her nach Polen, wie jetzt auf den Irak. Die bange Frage, stündlich in den Nachrichtensen- dungen wiederholt: „Greifen die Russen ein?".

4. August 1980 in Polen: Eine Streikwelle unerhörten Ausmaßes breitet sich aus wie ein Lauffeuer, keine Verhandlungen, keine Kom- promisse in Sicht zwischen den alleinregierenden herrschsüchtigen Kommunisten und den aufständi- sehen Arbeitern und Bauern. Weit machtvoller als in Prag 1968 oder im Oktober 1956 in Ungarn fordern Millionen polnischer Arbeiter: Nieder mit dem Kommunismus!

Es kommt zu keinem Bürgerkrieg. Über ein Jahr lang entwickelt sich von der Danziger Bucht bis zur Hohen Tatra ein Experiment, das den friedlichen Übergang vom sta- linistischen Kommunismus hin zur freiheitlichen Demokratie probt. „Solidarnosc"" - der Inbegriff für Freiheit, Arbeiterautonomie, demo- kratischen Pluralismus ist in aller Munde. Für Jahre!

Die Polen hatten es geschafft, sie erreichten Freiheiten, von denen ihre sozialistischen Nachbarn nur träumen konnten. Zehn Jahre lang. Auch wenn mit dem Kriegsrecht am 13. Dezember 1981 auf brutale Weise, aber doch nicht in bürger- kriegsähnlicher Form, dem „Soli- darnosc"-Sommer" ein jähes Ende bereitet wurde, bis zur großen Wende im letzten Jahr, den Revolu- tionen in der DDR, CSFR und in Rumänien, lebte es sich in Polen einfach freier als sonstwo im kom- munistischen Osteuropa.

Hätte es „Solidarnosc"' nicht gegeben, wer weiß wie es dann mit der Demokratie in der jahrzehnte- lang abgetrennten Hälfte Europas heute aussehen würde. Aber das ist kein Grund zur Freude. Zumindest nicht für die Betroffenen. Die Frei- heitskämpfe ab dem Sommer 1980 hatten ihren Preis - vor allem ihren wirtschaftlichen.

Heute merkt man, auf welcher Sparflamme da eigentlich gekocht wurde, wie wenig Zugeständnisse es waren, die die Kommunisten der Gesellschaft machten. Heute wirkt ein Rückblick schmerzlich. Wohl der Grund, weshalb sich in Polen niemand mit dieser Vergangenheit auseinandersetzt? Die Politakteure von einst sind längst aus den Schu- hen von Gewerkschaftsführern herausgewachsen. Der „alte Lech" ist längst kein Arbeiterführer mehr. Er spielt den Staatsmann. Präsi- dent von Polen hätte er längst wer- den können; doch der schlaue Fuchs wußte, daß man in diesen Zeiten des Umbruchs in Osteuropa zu schnell verheizt werden kann und wartet noch ein bißchen ab.

Seine Mitstreiter Jacek Kuron oder Adam Michnik sind längst Minister und keine Arbeiterhelden mehr. Und wie der Gewerkschafts- bewegung die Helden fehlen, feh- len ihr auch die Mitglieder: Von einst mehr als zehn Millionen Akti- visten klammern sich im Augen- blick nur noch 1,5 Millionen polni- scher Arbeitnehmer an den Namen „Solidarnosc'".

Solidarität ist nicht mehr gefragt. Die Dissidenten von einst wollen Politiker von Ruf werden. Ein Rol- lentausch, der aber den wenigsten gelingt, an den sich dennoch (fast) alle klammern. So zerbröckelt denn die einst mächtigste Oppositions- bewegung Osteuropas in Zirkel, Grüppchen und Fraktionen.

Als sich im April dieses Jahres „Solidarnos'd" zu einem Landes- kongreß in Danzig zusammenfand, stand schon fest, daß sie sich selbst zu Grabe getragen hatte.

Gut so, meint Walesa, die Zeiten seien vorbei, da man Zuflucht habe suchen müssen in einer Massenor- ganisation. Demokratie lebe von Gegensätzen und ein Parlamenta- rismus von unzähligen Interessens- gemeinschaften. Worte, die gut klin- gen, aber doch an der Realität vor- beigehen. Denn auch wenn Polen es sich wünschen, ihr einst so experi- mentierfreudiges Land hinkt heute Europa hinterher.

Nicht nur die Gewerkschaft ist heillos zerstritten, auch die Regie- rung Tadeusz Mazowiecki, die Oppositionsparteien ebenso wie die Abgeordneten des Sejm. Walesa hat gar keine andere Wahl als in die Rolle eines Havel zu schlüpfen - und möglicherweise, wie die polni- sche Geschichte mehrmals zeigte, als Verlierer dazustehen.

Hennin, einst ein französischer Gesandter in Warschau, schrieb 1763 in sein Tagebuch: „Die Lö- sung der inneren Probleme Polens ist so schwer wie die Quadratur eines Kreises. Ich fürchte, es ist unmöglich dieses Volk zum Glück zu führen." Ein Zitat, das die erste freie Tageszeitung Osteuropas, die „Gazeta Wyborcza" kürzlich wie- der ausgrub. Aber was hilft es schon, der „Erste" gewesen zu sein, wenn man jetzt zu den „Letzten" gehört? So denkt der einfache Pole in die- sen Tagen. Er schaut auf die Re- formerfolge in Ungarn, die Ansätze zum Erfolg in Prag und blickt neid- voll auf das Ende der DDR. Schon vor Jahren setzte sich im Bewußt- sein vieler Polen fest, daß die Hei- mat durch die kommunistische Willkür so zerstört worden sei, daß es keine Hoffnung gebe, aus eigener Kraft Wohlstand und Freiheit er- reichen zu können. Was bleibe, sei der Wechsel von einer „sowjetischen Kolonie" zu einer des „amerikani- schen Kapitals".

Ein Wechsel, der dennoch zu begrüßen sei. Nun stellt man bitter fest, daß man bald hinter dem Hin- terhof der Deutschen stehen wird und nur über Berlin den Weg nach Europa wird nehmen können. Und der wird nicht leichter dadurch, daß man immer wieder darauf ver- weist, daß es ohne Solidarnos'd wohl keine Veränderung in Osteuropa gegeben hätte.

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