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Polens Wilder Westen

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Zehn Jahre sind vergangen seit Polen die Verwaltung der deutschen Gebiete östlich der Oder und Neiße übernommen hat, über deren endgültiges Geschick erst ein Friedensvertrag entscheiden soll. Dieser juristische Tatbestand eines Provisoriums bleibt freilich Papier: Polen hat, 1945 von West und Ost gleicherweise ermuntert, diese Gebiete annektiert und als Woiwodschaften eingerichtet, sieht diese, seine historischen Gebiete, als Kompensation für die an die Sowjetukraine und an Sowjetweißrußland abgetretenen Ostgebiete an und fühlt sich als Staat auf der Europakarte um die entsprechende Zentimeterzahl nach links gerückt. Zehn Jahre sind bei der gegenwärtigen Entwicklung der Technik eine lange Zeit, um vieles umzugestalten und neuzuformen: nur mit den Menschen geht das erfahrungsgemäß weniger rasch. Daher die Schwierigkeiten, an denen dies Westpolen auch heute noch leidet.

Dem Ankömmling aus der Sowjetzone Deutschlands bietet sich das übliche Bild, das die plakatierte Freundschaft zwischen den Volksdemokratien sehr handgreiflich bloßstellt. Acht Kilometer Sperrzone ins Land um Warthe, Netze und Oder hinein, mit Stacheldraht und Nachttürmen, mit Schützenlöchern und Erdbunkern besät. Ein toter Streifen kennzeichnet diese „Friedens- und Freundschaftsgrenze“: acht Kilometer breit dürfen keine Felder bestellt, keine Wälder gehegt werden. Die Städte Frankfurt - an der Oder, Guben und Forst sind durch die Grenzziehung zweigeteilt: Küstrin, das der Grenzzone nahe liegt, ist heute praktisch ein vergessenes Dorf. In Leobschütz sind nicht weniger als sieben neue Kasernenbauten errichtet worden, in denen Einheiten des polnischen Grenzschutzes und der Armee untergebracht sind. Schneidemühl, jetzt PUa genannt, ist von einer stürmisch aufstrebenden Stadt zu einer verschlafenen Landgemeinde herabgesunken. Der charakteristische Marktplatz Landbergs dient heute, nach Sprengung aller Gebäude, als Aufmarschplatz für Parteimanifestationen. Der Sender Stettin erklärte kürzlich, es müsse ein Abwehrwall gegen den Westen an der Oder-Neiße-Linie gebaut werden.

Breslau-Wroclaw soll das Schmuckkästchen der polnischen Westgebiete werden. Halbwegs erhalten und wiederhergestellt ist die Innenstadt: rundherum ist man noch weit entfernt davon, der Verwüstungen des letzten Kriegsjahres Herr zu werden. Die „stufenhaften Aufbaupläne“ sind bis 1985 datiert. Es fehlt einfach an Menschen — man hat ihrer nicht genug, um gleichzeitig die Landwirtschaft und die Industrie aufzubauen sowie die Städte so schön zu machen, wie man verspricht. Interessiert hat jüngst eine Bemerkung der Tageszeitung von Grünberg (Gazeta Zielonogorska), die die mangelnde Aktivität der polnischen Bevölkerung bei der Behebung selbst kleinerer Kriegsschäden beklagt.

Gerade in Grünberg jedoch spürt man anderseits relativ am meisten Aufbauarbeit. Die niederschlesische Winzerstadt ist jetzt Woiwodschaftssitz geworden und hat mit 37.000 Einwohnern ihre Bevölkerung gegenüber der Vorkriegszeit zu verdoppeln vermocht. Die Grün-berger Tuchindustrie, die an der Spitze der örtlichen Produktion marschiert, hat sich eine führende Stellung in der polnischen Textil-fabrikation überhaupt erobert. Die Stadt mit ihren neuen Vertfaltungs- und Kulturgebäuden ist ständig überfüllt und leidet an katastrophalem Mangel an Unterbringungsmöglichkeiten für die zuziehenden Arbeitswilligen. In Winternächten sieht der Bahnhof, in Sommernächten der Stadtpark wie ein Obdachlosenasyl aus, da die Menschen es vorziehen, primitiv zu schlafen, statt ihren Gesamtverdienst für die teueren Schlafgelegenheiten auszugeben. So trägt auch Grünberg, trotz oder wegen seiner besonderen Konjunktur, zum Bilde der Unordnung bei, wie es sich für den Durchschnittspolen bei gesprächsweiser Erwähnung seines „Wilden Westens“ versteht. Die „Trybuna Ludu“ in Warschau mag immer auf die „ausgezeichnete Organisation“ in den Westgebieten hinweisen und unterstreichen, daß „der reaktionäre Terror innerhalb von zehn Jahren liquidiert“ worden sei: Warschau ist eben weit vom Schuß und hat leicht reden, während der Stadtrat in Stettin zu gleicher Zeit eine „Aktion gegen das Rowdytum“ beschließen mußte, und die kommunistische Parteizeitung „Glos Olsztynski“ („Stimme von Allenstein“) ihren Alarm wegen des zunehmenden „Bandenunwesens“ in der Gegend um Osterode, Mohrungen und Guttstadt ertönen läßt. Für das Hauptproblem der „polnischen Westgebiete“, die Neubesiedlung und Polonisierung, ist, gerade was die Woiwodschaft Alienstein betrifft, der Bericht der polnischen Finanzkontrollkommission bezeichnend, in dem es heißt, daß im Bereich dieser Woiwodschaft durch Aufgabe von Siedlerstellen im Jahre 1954 3.4 Millionen Zloty Schaden entstanden sei. Die Menschen aus Innerpolen gelüstet es nicht, freiwillig nach den Westgebieten mit ihren gewaltigen Schwierigkeiten des Neuaufbaues und der politisch recht fraglichen Zukunft zu ziehen. Diesem ihren Unwillen entspricht, falls sie doch an Ort und Stelle angelangt sind, die mangelhafte Leistung. Wenn die Haushaltssitzung der Woiwodschaftsverwaltung Szczeczin (Stettin) trotz des offiziell verlangten Optimismus bekanntgibt, die Getreideproduktion in der Woiwodschaft habe 1954 nur 78 Prozent des Plans erreicht, läßt das tief blicken. In der gleichen Woiwodschaft sollten dieses Jahr 1900 Hektar mit Mais bestellt werden, doch traf das Saatgut nicht ein; Alienstein einerseits klagte, der Bedarf an Saisonarbeitern für die Staatsgüter könne nicht gedeckt werden, weil es an halbwegs erträglichen Unterkünften fehle. In Stolp ist die Fabrik für landwirtschaftlich Maschinen in schwerstem Lieferungsrückstand — weil ihr die benötigten Walzwerkserzeugnisse nicht zugekommen sind: so vollzieht sich das Unglück im magischen Kreis. In der Woiwodschaft Köslin stellt die Konferenz landwirtschaftlicher Produktionsgenossenschaften (Kolchose) fest, es sei nicht gelungen, die bisher unbestellten landwirtschaftlichen Nutzflächen in die Frühjahrsbestellung 195 5 mit einzubeziehen. Zeichen der allgemeinen Mißstimmung: die Stadtverwaltung von

Belgard ist angewiesen worden, Personen, die bisher in der Landwirtschaft tätig gewesen sind, nur in besonderen Ausnahmefällen Wohnraum in der Stadt zur Verfügung zu stellen, um die allgemeine Landflucht von dieser Seite aus zu bekämpfen. Die Schneidemühler Zeitung „Zielony Sztandar“ („Die grüne Standarte“) hat im April 1955 die Nichterfüllung des landwirtschaftlichen Ablieferungssolls darauf zurückgeführt, daß die Siedler im nördlichen Teil des früheren Westpreußens durch Drohbriefe von „Gutsherren, die unter Adenauers Fittiche flüchteten“ irritiert würden. Die Stettiner Presse hat in ähnlichem Sinne zu berichten, daß der „Saboteur“ Jan Olejniczak zu vier Jahren Gefängnis verurteilt worden ist, weil er polnische Bauern gewarnt habe, sich in Pommern anzusiedeln. Die Polnische Staatsjugend schlägt laut die Werbetrommel, um die Jugendlichen zum Zuzug nach den Städten Alienstein, Danzig, Stettin, Breslau und Gleiwitz und in die Landbezirke zu ermuntern: eines der unbedachten Ergebnisse des Wirkens losgelassener Jugend im Wilden Westen muß die Zeitung „Zicia Warszawy“ („Das Leben Warschaus“) vermerken, wenn sie von der „erschreckenden Laxheit der Moral bei den auf dem ehemaligen Rittergut Borklach arbeitenden Jungpionieren“ erzählt.

In diesem Drunter und Drüber hat sich die Stellung des deutschen Elements, soweit es um die Aussiedlung herumkommen konnte, merklich gefestigt. Polen hat von allen Anfang gegenüber der deutschsprachigen Bevölkerung in diesem seinen praktisch annektierten Westen eine gewisse Großzügigkeit an den Tag gelegt und versucht, auch in den ersten Jahren des überbordenden nationalistischen Chauvinismus möglichst viele Deutschsprachige als „germanisierte Polen“ zu bezeichnen und damit im Lande zu halten. Inzwischen hat über Moskaus Verlangen, das sowohl der Stalinschen Nationalitätenauffassung als auch der Rücksicht auf die Stimmung in der deutschen Sowjetzone entspricht, auch die bürgerliche Gleichberechtigung Jener eingesetzt, die sich zur deutschen Minderheit bekennen. Die Warschauer Politik läuft seitdem doppelgleisig, in ständig variierender Mischung von polnischem Nationalismus und kommunistischem übernationalem Patriotismus, ▼on Propagierung der historischen Polonität

Ost- und Westpreußens, Pommerns, Ostbrandenburgs und Schlesiens und gleichzeitiger Betonung der Rechte des autochthonen Deutschtums. In der Woiwodschaft Breslau leben rund 140.000 Deutsche, die die polnische Staatsbürgerschaft wiederbekommen haben — oder als „Optanten“ dafür gelten — und sie haben 65 deutsche Grundschulen. -In Danzig zählte man jüngst 7500 Deutsche, von denen etwa 3000 in polnischen Staatsbetrieben arbeiten; die älteren und die arbeitsunfähigen erhalten, wenn sie den Status „Optanten“ besitzen, auch eine kleine Rente. Ungern sieht man, trotz der Freundschaft mit der „Deutschen Demokratischen Republik“, alle NichtOptanten — die auf deutsches Staatsgebiet zurückwollen. Wohl hat Polen im Herbst 195 3 mit der DDR eine Aktion zur Zusammenführung von Familien vereinbart — doch werden praktisch immer weniger Deutsche aus den „polnisch verwalteten Gebieten“ ziehen gelassen — im Mai 1955 waren es von rund 2000, die sich zur Ausreise meldeten, nur 155, denen sie gestattet wurde. Die Freundschaft mit der DDR erschöpft sich in den polnischen Westgebieten in minimalen Details: an der Breslauer Universität studieren 24 Gaststudenten aus der DDR — in Swineujscie (dem früheren Ostseebad Swinemünde) durfte ein Vertreter der DDR im Maiumzug mitmarschieren. Die Deutschen, die sich zu Polen bekennen, dürfen dagegen unter anderem: „eine deutsche Erziehung im sozialistischen Geiste genießen, die sie mit dem urpolnischen Charakter der Westgebiete vertraut macht“ (Ausspruch des Lehrers

Walter Berger an der Grundschule Gottesberg-Waldenburg); am Korrespondenzlyzeum ia Köslin Sonntagsunterricht nehmen, um ihre Reifeprüfung nachholen zu können; im Sinne des neuen „Feiertagskurses“ Trachtenumzüge abhalten; die Breslauer deutschsprachige „Arbeiterstimme“ lesen, in der ihnen kürzlich der Vorwurf gemacht wurde, sie hielten sich der (kommunistischen) Arbeiterpartei fern und verschlössen sich den Notwendigkeiten der Rüstungsproduktion; und schließlich, wenn sie seit vierzig Jahren in den westpolnischen Gebieten leben, seit zehn Jahren Mitglieder der KP und seit mehr als vier Jahren wieder polnische Staatsbürger sind, seit 1. April wieder Bürgermeister werden. Das ist Polens Westen heute...

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