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Sudetendeutsdier Schicksalsweg

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Nach dem Münchener Abkommen stand Hitler im Zenith seiner Erfolge, die die Welt anzuerkennen bereit war. Die Sudetendeutschen hatten ihn als Befreier von Fremdherrschaft begrüßt. Die Ernüchterung kam bald, als „die Partei“ im Sudetenland mit ihren beglückenden Einrichtungen begann. „Wenn wir das gewußt hätten…“ war eine damals oft gehörte Redewendung. Nationale Gesinnung, wie sie in langer Bewährung dieses Volk geübt hatte, war eben doch etwas anderes als Nazismus. Auch später sind, von Ausnahmen abgesehen, aus den Sudetendeutschen keine richtigen Nationalsozialisten geworden. Nicht vergessen war die österreichische Tradition; auch hatte das Zusammenleben mit den Tschechen trotz aller Spannungen zu einer Toleranz geführt, die von den deutschen Nationalsozialisten nie recht verstanden wurde.

Hitlers Einmarsch in Prag im März 1939 wurde von den Sudetendeutschen mit sehr ge- mischten Gefühlen aufgenommen. Die düstere Wirklichkeit war da. Selbst alte Kämpfer sprachen damals in staunenswertem Freimut von einer Ueberrumpelung und einem Wort- ‘ bruch. Wohin führte der Weg? Das Mün- chcner Abkommen war Hitler sehr ungelegen, denn es bedeutete einen Aufschub seines unverrückbaren Zieles, der völligen Zerschlagung der Tschechoslowakei. Die Su-detendeutschen selbst waren ihm nur Mittel zum Zweck.

Im Kriege haben die Sudetendeutschen dann ihren Blutzoll entrichtet, doch das Schlimmste brachte doch die Katastrophe des Nazismus 1945: Vogelfreiheit, totale, entschädigungslose Enteignung und eine totale Aussiedlung, die nur Halt vor einem Rest von 200.000 machte, welche -die amerikanische Zone Deutschlands wegen Ueberfüllung nicht mehr aufnehmen konnte. Später wurde diesen Zurückgebliebenen selbst von den Tschechen die freiwillige Aussiedlung nicht mehr gestattet. Man brauchte Arbeitskräfte. Benesch hatte sein großes Ziel, erreicht, das ihm bereits vor dem Abschluß des Friedens von St. Germain vorgeschwebt hatte. Das Potsdamer Abkommen, das auch die Unterschriften von Truman und Attlee trägt, hatte die Aussiedlung genehmigt.

Nach der letzten tschechischen Volkszählung im Jahre 1937 lebten in der Tschechoslowakei 3,119.000 Deutsche. Von diesen wohnen heute 2,000.000 in der Deutschen Bundesrepublik, 500.000 in der Sowjetzone Deutschlands, an die 80.000 mögen nach Oesterreich gegangen sein. Auf die in der Tschechei verbliebenen, auf Kriegs- und Austreibungsverluste entfällt der Rest.

Als fast das ganze Jahr 1946 täglich mehrere Züge mit Menschenfracht — an Gepäck durften zuerst 50 Kilogramm, später 70 Kilogramm pro Person mitgeführt werden — im bayerischen Furth im Walde anrollten, war die Lage zunächst nicht nur für die Ausgesiedelten, sondern auch für die Aufnehmenden eine trostlose. Doch mit mathematischer Regelmäßigkeit wurden die Transporte über das ganze Land, vor allem auf die Dörfer, verteilt. Nicht nur Landsmannschaften, auch Ortsgemeinschaften, ja selbst Familienbande wurden dabei zerrissen. Denn die Tschechen hatten die Transporte nicht nach Gemeinden zusammengestellt, sondern die Bevölkerung auch kleiner Dörfer vier bis fünf verschiedenen Transporten zugeteilt. So wurde eine Zerstreuung erzielt, so groß, daß ein Sudetendeutscher, der von Berchtesgaden nach Kassel wandern würde, jede Nacht bei einem persönlich Bekannten aus seiner Heimat einkehren könnte. Freiwilliger Umzug und spätere innerdeutsche Umsiedlung haben weiter vermischt. Heute wohnt eine Million der Sudetendeutschen in Bayern, eine weitere Million ist auf die Länder Baden-Württemberg verteilt. Eine kleine Gruppe hat in dem für Arbeitsuchende günstigen Industrieland Nordrhein-Westfalen Aufnahme gefunden. Konfessionell sind die katholischen Sudetendeutschen — wenn man von dem größtenteils evangelischen Württemberg absieht — demnach überwiegend in Gegenden mit katholischer Bevölkerung untergekommen.

In den ersten Jahren war das Wehklagen der Flüchtlinge groß. Die gesetzliche Bezeichnung ist heute „Heimatvertriebene“. Sie trauerten weniger um die materiellen Verluste als um die verlorene Heimat, den Verlust der gewohnten Umwelt. Auffallend häufig waren die Todesfälle alter Leute kurze Zeit nach der Aussiedlung. Ihre Herzen brachen buchstäblich aus Bangigkeit. In vielen Vertriebenen regte sich ein unbändiger Wille zur Rückkehr. Für einen Psychologen müßte es eine interessante Aufgabe sein, zu untersuchen, warum völlig normale und vernünftige Leute der felsenfesten Ueberzeugung sein konnten, sie würden in längstens zwei Jahren von ähnlichen Transporten wieder in ihre Heimat gebracht werden, dort würde ihnen, so hofften sie, alles zurückgegeben werden, wie sie es verlassen hatten.

Unterdessen ist es unter den Flüchtlingen .stiller geworden, sie haben in der neuen Umgebung Fuß’ gefaßt. Der Prozentsatz, der öffentlicher Wohlfahrt zur Last fällt, ist heute nicht mehr viel größer als bei den Einheimischen. Der Staat hat Vorbildliches dazu geleistet. Erinnert sei — trotz einiger noch bestehender Mängel — an das Lastenausgleichsgesetz und das Gesetz zum Artikel 131 des Grundgesetzes zur Regelung der Rechtsverhältnisse der verdrängten und vertriebenen Beamten und Angestellten des öffentlichen Dienstes. Am schlechtesten schneiden die Bauern ab. Woher soll die dicht bevölkerte Bundesrepublik Siedlungsland und Bauernhöfe nehmen? Sehr zum Schaden der Gesamtzusammensetzung des Volkes werden immer mehr Bauern zu Arbeitern. Unter großzügiger Förderung des Staates haben die Vertriebenen zum Teil ihre Industrien und Gewerbe wieder aufgebaut. Vor allem in der Textilbranche. Das eindrucksvollste Beispiel bieten die Glashütten von Neu-Gablonz, einer aus wilder Wurzel entstandenen Stadt bei Kaufbeuren, die heute bereits 18.000 Einwohner zählt. Für Bayern sind die Flüchtlinge längst aus einem Passivum zu einem Aktivum geworden, wie bayerische Regierungssprecher wiederholt offen erklärt haben. Bayerns Schirmherrschaft über die Sudetendeutschen, die Ministerpräsident Ehard zu Pfingsten dieses Jahres verkündet hat, ist hierfür ein äußerer und gefühlsmäßiger Ausdruck. Aus Dankbarkeit zeigt die Volksgruppe in Zukunft neben ihren Fahnen immer auch die des Landes Bauern. Von irgendeiner Spannung zwischen Einheimischen und Flüchtlingen kann heute kaum noch irgendwo die Rede sein. Obwohl es ungezählte, rührend geschriebene Heimatblätter und -blättchen gibt und die Heimattreffen kein Ende nehmen, schreitet die Assimilierung unerbittlich fort. Es werden mehr Ehen zwischen Flüchtlingen und Einheimischen als zwischen Flüchtlingen untereinander geschlossen. Die Kinder sprechen den Dialekt der Eltern nur noch im Elternhaus,mit ihren Schulkameraden und sonst im Verkehr reden sie ein reines Bayerisch oder Schwäbisch. Ratlos stehen die Volkskundler einem Problem gegenüber: Einerseits wünscht man die Assimilierung, anderseits soll die alte Heimat nicht vergessen werden. Auch aus politischen Gründen nicht. Nach dem’ Absterben auch nur einer Generation ist die Gefahr groß. Dann werden nur noch einige tschechische Familiennamen künden, woher die Vorfahren jenes Bayern, Franken oder Schwaben gekommen sind. Der ehemalige Dozent für Volkskunde der Prager deutschen Universität, Dr. Lemberg, der heute Kulturreferent im Ministerium für die Angelegenheiten der Bundesvertriebenen ist, hat offenbar nicht Recht behalten mit seiner Erwartung, daß durch die Umsiedlung und Volks- verfnischung Neustämme entstehen würden. Nein, dazu ist die eingesessene Bevölkerung zu stark selbst in den Orten, wo die Flüchtlinge den Bürgermeister stellen. Aber eine biologische Blutauffrischung wird vielerorts stattfinden, wahrscheinlich zum Segen für manche ober- und auch niederbayerische Gegend.

Die Sudetendeutschen verkörpern in Deutschland keine Minderheit, sie haben sich freiwillig zur Durchsetzung wirtschaftlicher und namentlich politischer Ziele als eigene Volksgruppe konstituiert. Eine künftige Geschichtsschreibung wird anerkennen müssen, daß das Sudetendeutschtum seinen charakterlichen Kern bewahrt hat.

Freilich, im Egerland, diesem einstigen Garten deutscher Erde, und in der Stifter-Heimat des Böhmerwaldes siedeln heute als unstete Wanderer — Zigeuner.

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