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Alte Wunden heilen nur langsam

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Alljährlich versammeln sich die vertriebenen Sudetendeutschen der Bundesrepublik zum „Sudetendeutschen Tag“, der diesmal mit etwa 250.000 Heimattreuen in Stuttgart stattfand. Vor vier Jahren waren sogar eine halbe Million Sudetendeutsche nach München zusammengeströmt, als der damalige bayrische Ministerpräsident Dr. Erhard seine Landesregierung zur „Schirmherrin der Sudetendeutschen“ erklärt hatte.

Heuer wurde vom „Sprecher“, Dr. Rudolf Lodgman von Auen, der „Europäische Karlspreis der Sudetendeutschen Landsmannschaft“ dem tschechischen Armeegeneral Lev Prchala verliehen, der als erster Exiltscheche bereits im Jahre 1950 in einem quasi-völkerrechtlichen Vertrag, dem sogenannten Wiesbadener Federa-tivabkommen, den deutschert Rückkehranspruch in die alte böhmisch-mährische Heimat anerkannt hatte.

Grußbotschaften zu dieser unter der Devise „Heimat, Deutschland, Europa“ stehenden Großveranstaltung, die von keinem Massenaufgebot eines politischen Parteitages erreicht werden kann, schickten Bundespräsident Heuss, Bundeskanzler Adenauer und, gering gerechnet, 50 amerikanische congressmen beider Parteien. Die durch Fahnenwald, Totenehrung und Wiedersehensfreude charakterisierte Atmosphäre erreichte bei der Großkundgebung ihren Höhepunkt, als der nun 80jährige, frühere Landeshauptmann von Deutschböhmen, Dr. Rudolf Lodgman von Auen, den Rückkehranspruch seiner vertriebenen Volksgruppe, das Recht auf die Heimat und das Selbstbestimmungsrecht der Mitteleuropäer geltend machte.

Leider repräsentiert der 1945 nicht mehr nach Prag zurückgekehrte Lev Prchala keine nennenswert zahl- oder einflußreiche tschechische Exilgruppe. Er leitet zwar in London das „Tschechische Nationalkomitee“, aber die meisten seiner Mitarbeiter von 1950 haben sich von ihm abgewandt und bilden die „Tschechischen demokratischen Federalisten“ um die in Köln erscheinende, wahrscheinlich von dem jetzt in Brasilien lebenden Schuhkönig Doktor Jan B a t a mitfinanzierte Zeitschrift „Bohemia“.

Den politischen Schwerpunkt in Deutschland haben die Tschechen in der tschechoslowakischen Abteilung des in Holzkirchen bei München ausstrahlenden Senders „Radio Free Europe“. Hier werden wohl auch die Mittel für das in München gedruckte, die Zeitungstradition des alten Prager Melantrich-Verlages fortsetzende Monatsblatt „Ceske Slovo“ abgezweigt. Die am Sender arbeitenden Tschechen werden fast durch die Bank von den Sudetendeutschen als an der Vertreibung mitschuldige Benesch-Leute abgelehnt, und die amerikanischen Geldgeber und Chefs der Bewegung „Kreuzzug für ein freies Europa“ werden sich Gedanken darüber machen müssen, daß etliche dieser gutbezahlten Rundfunkpropagandisten ins kommunistische Prag zurückgekehrt sind und Ar -t Vipcf-immt alles aus der Schule eeolaudert haben. Viele Sudetendeutschen meinen überdies, die Sendungen seien gar nicht geeignet, bei den Tschechen Eindruck zu machen.

Die exiltschechische Auslandsarbeit hat im Londoner Dr. - Benesch-Institut einen europäischen und im Mid European Stu-dies Center in New York einen amerikanischen Mittelpunkt. Während es in London einige Sudetendeutsche des Anglo-Sudeten-Clubs zur Beobachtung des Dr.-Benesch-Instituts gibt, dürfte das New-Yorker Studienzentrum für Europäische Fragen von dem (sudeten-) deutschen Botschaftsrat Dr. Turnwald von Washington aus kritisch verfolgt werden können

Den in den USA arbeitenden TSch&h'e'h Ist el jedenfalls gelungen.“fast, alle sich mit1 mittel* europäischen Fragen befassenden amerikanischen Wissenschaftler und Doktoranden mit Quellen und Materialien zu beliefern, die den früheren Volkstumskampf und die spätere Deutschenvertreibung verschweigen.

Den propagandistischen Gegenstoß führt seit zwei Jahren das in englischer Sprache erscheinende „Sudeten-Bulletin“ und das unter dem jungen Historiker Dr. Heinrich Kuhn in München arbeitende „Sudetendeutsche Archiv“.

Ein wesentlicher Teil der sudetendeutschen Wählerschaft, etwa 30 Prozent, dürfte sich bisher zum Gesamtdeutschen-Block BHE bekannt haben, der am 15. September 1957 der Fünfprozentklausel zum Opfer fiel und seither im Bundestag nicht mehr vertreten ist. Es erscheint fraglich, ob diese sich gesamtdeutsch-prokla-mi.erende.j tatsächlich aber„ käst, nur„die,vertriebene Wählerschaft umfassend Zweckpartei auf Landesebene noch lange weiterleben kann, ohne sich durch eine Wahlabsprache mit der CDU/CSU oder der SPD zu binden. .

Zukünftig sind daher die Sudetendeutschen vor die Notwendigkeit gestellt, ihr heimat- und sozialpolitisches Anliegen in den großen Parteien zu Gehör zu bringen, was sowohl eine

Frage der Qualität der Kandidaten und des Gewichts ihrer Persönlichkeiten als auch ihrer zahlenmäßigen Stärke sein muß.

Unter den etwas mehr als 500 Bundestagsabgeordneten gibt es insgesamt 64 Vertriebene, darunter acht Sudetendeutsche der CDU/CSU und sechs Sudetendeutsche der SPD. Dem Kabinett Adenauer gehört der sudetendeutsche, auf der Liste der Deutschen Partei gewählte Bundesverkehrsminister Dr.-Ing. Seebohm an, der nach Dr. Lodgman als der einflußreichste Mann der Volksgruppe angesehen wird. Man weiß, daß ihn der Bundeskanzler wegen einiger Sonntagsreden nicht gerade liebt.

In der CSU gilt Hans Schütz auf Grund seiner Prager Parlamentsjahre als erfahrenster Sudetendeutscher, in der SPD ist der nun 60jährige Wenzel J a k s c h, der den Krieg über in England, solange es ging, mit Benesch verhandelt hat, ein Mann von Format. Sein kürzlich erschienenes Buch „Europas Weg nach

Potsdam“ darf als eine fundierte zeitgeschichtliche Deutung der Jahre 1918 bis 1945 angesehen werden. Hans Schütz hat sich in der „Ackermann-Gemeinde“, in Oesterreich heißt sie „Klemens-Gemeinde“, eine Gesinnungs-gfimeinsehafund., Jm. . „Yo&sboten,“ r,eimohfir merkenswerte Wochenschrift gescha,fferiw,ä)b,-rend Jaksch und Reitzner in der „Seliger-Ge* meinde“ ihre Anhänger sammeln, die „Die Brücke“ lesen. Als dritte stark national eingestellte Gruppe arbeitet der „Witiko-Bund“. Zusammen mit einigen um Dr. Lodgman hauptberuflich Tätigen der Sudetendeutschen Landsmannschaft verkörpern diese und andere Politiker im Sudetendeutschen Rat gewissermaßen den politischen Willen der Volksgruppe.

Auf tschechischer Seite stehen ihnen die Männer des Rates der freien Tschechoslowakei gegenüber, die in den USA für die Befreiung der Tschechoslowakei von der kommunistischen Herrschaft arbeiten, ohne allerdings darunter auch die Rückkehr der Sudetendeutschen in den früher gemeinsamen Staat zu verstehen. Diese sogenannten Rada-Tschechen sind gewiß Männer mit internationaler Erfahrung, denn es finden sich unter ihnen frühere Botschafter, wie Dr. O s u s k y und L i s i c k y, ehemalige Minister, wie S t r a n s k y und Z e n k 1, und eine ganze Reihe von gewiegten Parlamentariern, die im Anbahnen von Beziehungen reiche Erfahrungen sammeln konnten. Einer ihrer besten Publizisten, der frühere Außenhandelsminister Dr. Hubert R i p k a, ist allerdings vor fünf Monaten in London gestorben.

Auf internationalem Boden jedenfalls werden es die auf die Auslandsarbeit nicht ausreichend eingestellten Sudetendeutschen den tschechischen Routiniers gegenüber n' ' t leicht haben.

Für beide, wie man will, Partner oder Gegner, .wird das Jahr 1958 ein sehr denkwürdiges Jubiläum bringen.

Am 29. September werden es gerade 20 Jahre her sein, seit die gemeinsame Heimat Böhmen und Mähren durch das Münchner Abkommen zerschnitten wurde.

Eine Art Auftakt dazu hat es bereits gegeben.

Vor wenigen Monaten erschien nämlich in einem angesehenen Stuttgarter Verlag das Buch des jetzt in Kanada lebenden, an der Heidelberger Universität wissenschaftlich ausgebildeten Exiltschechen Dr. Boris C e 1 o v s k y, „Das Münchner Abkommen 1938“, das allerdings von sudetendeutscher Seite angefochten wird. Die Sudetendeutschen fühlen sich provoziert und haben ihrer Empörung laut Ausdruck gegeben. Dem „Institut für Zeitgeschichte“, das Celov-skys Buch aus wissenschaftlichen Gründen empfiehlt, wird vorgeworfen, die deutschen Interessen geschädigt und die Stellung der Sudetendeutschen vor dem Ausland erschwert zu haben.

Vielleicht kann man allgemein die Sudetendeutschen in die „Münchner“ und „AntiMünchner“ einteilen.

Die ersteren halten das Münchner Abkommen für gerecht und sind nur bereit, in eine wieder zum Reich oder Bund gehörende Heimat zurückzukehren, die Anti-Münchner sehen in dem sudetendeutschen wie in dem österreichischen Anschluß eine Art Annexion, die nichts mit einem frei eingegangenen völkerrechtlichen Vertrag zu tun hat und würden auch in einer vierten Tschechoslowakei der historischen Grenzen weiterleben wollen. In diese große Einteilung spielen natürlich eine Menge strittiger Fragen hinein, die teils im internationalen Recht, teils in der politischen Psychologie wurzeln. Man kann nur hoffen, daß es den Sudetendeutschen und Tschechen eines Tages doch noch gelingen wird, über den Schatten von München hinwegzukommen.

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