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Ruheloses Europa

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Die in Bern erscheinende Wochenschrift „Der Weg“ hat. vor kurzem in einer Statistik über die Verluste des letzten Krieges, die Zahl der Heimatlosen mit 15 Millionen angegeben. Ungefähr gleichzeitig hat der holländische Delegierte Sassen im UNO.-Ausschuß für das Flüchtlingsproblem verlangt, daß man den entwurzelten Per; s o n e n, soferne nicht eine gerichtliche Untersuchung gegen, sie laufe, die Rückkehr in ihr Heimatland freistellen möge. Dieser Holländer sprach im gleichen Sinne wie sein Ministerpräsident Scher-m e r h o r n, der die Hoffnung aussprach, die Politik der Rache möge, zu Ende gehen und eine Politik der Vereinigung alter Kräfte und Nationen für eine Welt des Friedens moc auch in Europa beginnen.

Auf dergleichen Ebene liegen zahlreiche Erklärungen englischer Politiker. So hatten sdion im Oktober Abgeordnete aller Parteien die Befürchtung ausgesprochen, daß im Laufe des Winters durch die Zwangsvertreibungen von Deutschen aus ihren Heimstätten Millionen von Menschen der Gefahr ausgesetzt sein bürden, in Hunger und Kälte zugrunde zu gehen. Im Unterhaus rechnete man mit 13 M i 11 l'o n e n von Epidemien und ' Massensterben Bedrohter. — Der Labourabgeordnete Michael Foot schilderte die Leiden der aus den östlichen Gebieten Deutschlands ,',displaced persons“, der heimatlos gewordenen, deren Mehrheit aus Frauen und. Kindern bestehen, während die Abgeordnete Eleanor Rathbone die mutigen Worte aussprach, die den eigentlichen Kernpunkt des Problems treffen:

i „Erinnert euch, daß alle Leiden individuelles Leid sind, es gibt kein kollektives Leiden. Alle Verantwortlichkeit ist individuelle Verantwortlichkeit und j e de r ist verantwortlich für jedes Unheil, das irgendwo in der Welt verursacht wird, wenn er etwas unterlassen hat, das er hätte dagegen,tun können,“

Es konnte jeder vorausschauende Mensch schon während des Krieges damit rechnen, daß nach den Erfahrungen der letzten Jahre die Völker die deutschen Minderheiten zur Aussiedlung zwingen würden. Die Politik des Dritten Reiches hatte unglücklicherweise die Minderheiten als trojanisdaes Pferd zu benützen versucht, so daß die Katastrophe, die über die deutsdien Volksgruppen hereingebrochen ist, sich seit Jahren abzeidanete. Alle Voraussicht der nun eingetretenen Katastrophe erhöht noch die Tragik der Ausweisung der deutschen Minderheiten, die vielfach in einer Form durchgeführt wurde, die menschlich nicht gebilligt werden kann. Selbst der tschechoslowakische ' Präsident Benesch und der britische Lordkanzler Jovith haben in Reden diese Härten zugegeben.

Während aus Deutschland Millionen verschleppter Zivilarbeiter in ihre . Heimat Zurückströmen, wandern gegen 7 MÜH 6 n e n Deutsche aus Österreich, der Tschechoslowakei, Ungarn und Polen nach Deutschland.

Der Alliierte Kontrollrat hat provisorisch folgende Verteilung auf die einzelnen Besetzungszonen festgelegt: Von 3 !- Millionen deutschet Umsiedlern aus Polen sollen 2 Millionen in der russisdaen und 1 lA Millionen in der britischen Zone aufgenommen werden. Aus der Tschechoslowakei werden 2llz Millionen Deutsche umgesiedelt werden, und zwar 1,75 Millionen in die amerikanische und 750.000 in die russische Zone. Die Deutsdaen aus Ungarn werden in der amerikanischen Zone aufgenommen werden und 150.000 Reichsdeutsche aus Österreida in der französischen Zone.

Bereits im Herbst befanden sich nach einer Mitteilung des Londoner Rundfunks in der russischen Zone Deutschlands 7 Millionen deutsche Flüdatlinge aus Polen und der“ Tschechoslowakei. Für die Flüchtlinge wurden 500 Auffanglager errichtet und die UNRRA. errichtete in Berlin einen Suchdienst für deutsche Flüchtlinge.

Das Zentrum dieses Flüchdingstromes war bis zum Herbst 1945 Berlin. Millionen Umsiedler aus Polen und aus der Tschechoslowakei sind seit Juli 1945 durch Berlin gezogen, um in Mecklenburg, Brandenburg, Sachsen und Thüringen an g'e siedelt zu werden. Seit August ist Berlin jedoch Sperrgebiet; nur wenige tausend Flüchtlinge kommen täglich durch die Stadt, der große Umsiedlerzug wird um Berlin herumgeleitet.

Die Umsiedler aus Polen kommen über Küstrin oder Frankfurt a. O Berlin hat 27 Lager, in denen die Umsiedler eine Quarantänezeit von vierzehn Tagen verbringen müssen. 'Im Rahmen der Bodenreform soll an die Umsiedler Land vergeben werden.

Die Ausweisung der Deutschen aus der Tschechoslowakei wurde ursprünglich bis Ende Juli 1946 projektiert. Etwa 800.000 Deutsche sollen bereits nach der russischen Besatzungszone in Deutschland überstellt worden sein. In den von den Deutschen geräumten Randgebieten wurden im Zuge einer großen Inlandwanderung über 1 Yi Millionen Tschechen umgesiedelt. Die Überstellungen nach der amerikanischen Zone sollen erst beginnen, sobald alle Sudetendeutschen mit Identitätskarten ausgestattet worden sind;

Die Ausweisungen aus der Tsdaecho-. Slowakei sind bis auf das Frühjahr verschoben ' worden. Nach dem ursprünglichen Plan sollten 25.000 Deutsche im Dezember und 125.000 im Jänner ausgewiesen werden. Der Aufschub, der hauptsächlich auf die Wetterund Ernährungsbedingungen in Deutsdiland zurückzuführen ist, hat die tschechischen Pläne zur Wyderbesied-lung der Grenzgebiete umgestoßen.

Es ist möglich, daß der ganze Ausweisungsplan umgeändert wird, da sich die Erkenntnis von den Vorteilen durchsetzt, erfahrene deutsche Arbeiter für die Exportindustrie zurückzuhalten.

Verhandlungen zwisdien den amerikanischen und den tschechoslowakischen Militärbehörden haben zu einer Vereinbarung geführt, die für die nach Deutschland umzusiedelnden Sudetendeutschen eine bedeutsame Verbesserung darstellt. Die Umsiedler, die bisher nur 30 Kilogramm Gepäck mitnehmen durften, werden leicht zu befördernde Gegenstände mitnehmen können, jedoch keine Wertgegenstände, die auch tschechoslowakische Staatsbürger im Falle ihrer freiwilligen Auswanderung zurücklassen müssen. Ferner soll die Umsiedlung in Zukunft so weit als möglich gemeindeweise durchgeführt werden, damit das Zerreissen von Familien und Gemeinden vermieden wird. Es soll auch Vorsorge dafür getroffen werden, daß das in der Tschechoslowakei zurückbleibende Eigentum inventarisiert wird, damit die Früheren Besitzer aus einem in Deutschland zu errichtenden Fonds Entschädigungen erhalten können.

Es scheint, daß sich' die ungarischen Parteien und Behörden noch nidat entschieden haben, bis zu welchem Aumaß die Ausweisung der Deutschen vom ungarischen . Standpunkt aus wünschenswert ist. Als Verdienst darf es den Sozialdemokraten gebudat werden, einen mäßigenden Einfluß ausgeübt zu haben.

In Rum ä/-n i e n hat sich die Zahl der deutschen Minderheit infolge von Verschickungen und von Auswanderungen auf die Hälfte vermindert. Die letzten deutschen Kultur- und Erziehungsorganisa t'ionen in Rumänien wurden vor kurzem formell aufgelöst und ihr Vermögen eingezogen. Bis jetzt wurden keine Pläne für die Umsiedlung der zurückgebliebenen rumänischen Volksdeutschen ausgearbeitet. Die Regierung Groza rechnet nicht mit einer Intervention der Alliierten in dieser Angelegenheit und hofft, daß die derzeitigen Maßnahmen, wie Zwangsarbeit für Männer im Alter von 17 bis 45 Jahren, im Zusammenhang mit der Konfiskation von Grund und Boden „genügen“ werden.

Jugoslawien hat erklärt, daß es in seinem Lande ein Problem ' der deutschen Minderheiten nicht mehr gebe. Vor dem Krieg lebten eine halbe Million Deutsdie in Jugoslawien, deren größter Teil das Land verlassen habe. Nur ein paar Tausend seien zurückgeblieben. Die jugoslawische Auffassung, im Lande keine Deutschen mehr zu haben, ist erstaunlich; seinerzeit wurde zwar das Deutschtum Kroatiens, Bosniens tmd Slawoniens fast völlig umgesiedelt, aber Beispiel von den auch nach jugoslawisdier Statistik im serbischen Banat lebenden rund 120.000 Deutsdaen haben seinerzeit nicht mehr als 30.000 die Flucht ergriffen. Das Schicksal der übrigen nahezu 100.000 Banater Volksdeutschen scheint nach dieser Erklärung kaum geklärt.

Die Lebensverhältnisse für die in Jugoslawien verbliebenen Angehörigen der deutsdien Minorität sollen besonders ungünstig sein, da das kollektive Verschuldensprinzip gerade dort angewendet worden ist.

Die Aufnahme der Umsiedler wird in den nächsten Monaten vor allem in Bayern erfolgen. Der Präsident des Bayrischen Roten Kreuzes teilte kürzlich mit, daß man' mit dem Zustrom von 1,250.000 Zuwanderern in den nächsten Monaten redinet, deren größter Teil durch Österreich hindurchgehen wird.

In Österreich selbst leben viele Hunderttausende Entwurzelter. Ab 15. April 1 9 4 6 werden 150.000 Deutsche aus Österreich in die französisdie Zone aufgenommen. Vorher sollen 250.000 Flüchtlinge aus der amerikanischen Zone in die französische übergeführt werden. Der Austausch deutscher Flüchtlinge zwischen den einzelnen deutschen Besatzungszonen ist ziemlich groß. Der schwedische Außenminister Rasmussen hat kürzlich über die völlige Umkehrung der ethnischen Verhältnisse im nördlichen Holstein zuungunsten der dänischen Minderheit gesprodien. Durch d;e Flüchtlinge hätte sich die Zahl der Deutschen , dort verdoppelt.

Es sei schließlidi erwähnt, daß in der Steiermark 130.000 Fremde, darunter fast 35.000 Volksdeutsche leben. Nur 16.000 sind davon in Lagern untergebracht; der Rest belastet die heimische Wohnraumlenkung.

Anderseits gibt es zahlreiche österreichische Selbsthifeorganisa-tionen, die ihren Landsleuten bei der Rückkehr ins Vaterland behilflich sind. Unter diesen Repatriierungskomitees ist das in der Tschechoslowakei das erste und größte. Es hat in allen größeren Städten der Tschechoslowakei Zweigstellen, in denen bisher rund 60.000 Österreicher registriert wurden, von denen etwa ein Drittel bereits in die Heimat zurückgekehrt ist. ,

Auch in Deutschland sind in allen größeren Städten Repatriierungskomitees eingerichtet worden. In Berlin, wo sich mehr als 1 0.0 00 Österreicher gemeldet haben, hat das Komitee ein eigenes Lager errichtet, da die Repatriierung der Österreicher aus ganz Norddeutschland über Berlin erfolgt. Man rechnet, ohne die Kriegsgefangenen, mit ungefähr 50.000 Menschen, die von dort nach österreidi gebracht werden müssen. — Die Hamburger Stelle hat neben der Betreuung der Österreicher aus Nordwestdeutschland auch die Rückführung der aus Norwegen entlassenen österreichischen Kriegsgefangenen durchzuführen. — In Bayern sind in den Repatriierungskomitees etwa 6 5.0 0 0 Österreicher erfaßt worden.

Es ist selbstverständlich, daß sich die Wanderungsbewegung nicht nur auf Deutsche beschränkt.. Die europäischen Grenzveränderungen haben große Umschichtungen hervorgerufen So hat etwa das Grenzabkommen zwischen Polen und der Sowjetunion die Umsied'ung von mehr als einer Million Polen zur Folge. Die Tschechoslowakei verhandelt mit der ungarischen Regierung über die Ausweisung der 4 5 0.0 00 Ungarn in der Slowaken Die tschechische Regierung schlägt vor, die in Ungarn ansässigen rund 150.000 Slowaken in die Tschechoslowakei zurückkehren zu lassen.

Keine große Rolle wird die Einwanderung in d;e Vereinigten Staaten spielen 'können. Die Emigrationsquote für Zentral-, Ost- und Mitteleuropa beläuft sich jährlich auf etwa 40.000 ' Personen, von denen ungefähr zwei Drittel auf Deutschland entfallen.

Viele Flüchtlinge können auch aus politischen Gründen nicht in ihre Heimat zurück. So ist kürzlich 3 0.0 0 0 Balten in Schweden von der Regierung zugesagt worden, daß sie nicht zwangsweise hqm-befördert würden, soferne sie sich jeder politischen Betätigung enthielten.

Millionen von Menschen sind heimatlos, geworden, weitere Millionen sollen die Heimat infolge der Anwendung des kollektiven Schuldprinzipes in den nächsten Monaten verlieren. Der Appell an die Menschlichkeit darf nicht umsonst verhallen.

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