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Die zweite Völkerwanderung

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Spätere Geschichtsbucher werden von zwei Völkerwanderungen berichten müssen. Diese zweite Völkerwoge überflutete 1945 auch unsere Landesgrenzen. Erst allmählich zeichnete sich ein klares Bild dieser lcidvollen Umwälzung ab. Ein Jahrzehnt nach jenen Ereignissen liegt für Oesterreich ein umfassender, tiefschürfender Bericht über die Flüchtlingsfrage vor*.

Das Vertriebenenproblem begann keimhaft bereits 1918 und endete nicht mit Hitlers Tod. Altösterreichs Zerfall war die Demonstration der Fabel von dem Bündel Pfeile, das nicht zu zerbrechen ist, bis man die Bindung löst und nun einen Pfeil nach dem andern leicht zu knicken vermag. Der Gewinn der Unabhängigkeit hat den Völkerschaften späterhin, wie Churchill sagt, „Qualen eingebracht, welche die alten Dichter und Theologen für die Verdammten reservierten“. Nach 1918 zogen viele Familien in das Rumpfösterreich, ihnen folgten Flüchtlinge aus Südslawien und Westungarn. Von 1920 bis 1933 erwarben 113.538 Personen (davon 100.893 aus den Nachfolgestaaten) die österreichische Staatsbürgerschaft, nur 26.574 erwarben eine fremde. Nach dem „Anschluß“ 1938 aber tauchten dann jene Termini auf, die nicht mehr verschwinden wollen: Umsiedler, Verschleppte, Evakuierte, Heimatvertriebene, Zwangsarbeiter, Kriegsgefangene, Flüchtlinge usw. Bis 1940 wurden etwa 30.000 Südtiroler im Bundesgebiet untergebracht, darauf riß der Strom der Menschen nicht mehr ab. Tausende Umsiedler kamen aus der Bukowina, Bessara-bien, der Dobrudscha, aus Litauen, Lettland und dem Baltikum. Als sich die Fronten verkürzten, folgte 1944 eine zweite Welle: 20.000 Siebenbürger, 25.000 Gottscheer und Bosniendeutsche, 36.000 Deutsche aus dem rumänischen Banat. Anfang 1945 strömten fremde Truppenteile (Ungarn, Kroaten, Wlassow-Truppen) auf österreichisches Gebiet. Etwa 300.000 Mann. Es wird geschätzt, daß sich in den Wochen nach der Kapitulation rund 1,680.000 NichtStaatsbürger und eine Million Besatzungsangehörige in Oesterreich zusammendrängten. Bei einem Kriegsverlust von fast 400.000 Personen (137.000 österreichische Kinder wurden vaterlos, 195 3 war in Linz jedes neunte Schulkind vaterlos!) und bei einer Abwesenheit von nahezu 450.000 Kriegsgefangenen trafen Ende Mai 1945 somit auf etwa 23 Einheimische 10 Nicht-staatsbürger. Heute, nach zehn Jahren, befinden sich in Oesterreich 500.000 Flüchtlinge.

Bald nach der Kapitulation begann die tschechische Regierung, noch vor den Potsdamer Beschlüssen, einen Feldzug zur Austreibung der Deutschen. Einer der blutigsten Todesmärsche war jener der Brünner Deutschen an die Grenze in Richtung Wien. Nach vorsichtigen Schätzungen flüchteten 70.000 Menschen ohne jedes Hab und Gut auf österreichisches Gebiet, davon 30.000 nach Oberösterreich. Am 2. August 1945 schlössen die Alliierten auf der Potsdamer Konferenz in rascher Einigung ein Abkommen über die Aussiedlung der deutschen Volksgruppen aus Polen, der CSR und Ungarn und wandten bereits am 20. September diese Beschlüsse auf Oesterreich an. Die Heimatvertriebenen sollten in die französische Zone Deutschlands gebracht werden, so daß endlose Bahntransporte durch Oesterreich rollten. Die Behandlung der Flüchtlinge war jeder Besatzung anheimgestellt, die nach eigenem Gutdünken verfuhr. Oesterreich, aus tausend Wunden blutend, hatte nur den Anweisungen zu gehorchen. Es darf nicht übersehen werden, daß damals die großen Organisationen' UNRRA und IRO die brennendste Not linderten und durch Abtransport von 1,2 Millionen Menschen den Bevölkerungsdruck milderten. Zunächst vertrat man den Standpunkt, daß Oesterreich, im Sinne der alliierten Verfügungen, nur Durchzugsland sei. Erst als durch die Ueberfüllung Deutschlands und durch die unzureichende Auswanderungsquote klar war, daß der Großteil der Flüchtlinge im Lande verbleiben würde, befaßten sich die Umsiedlungsstellen mit Angelegenheiten, die diesem neuen Umstand Rechnung trugen.

Einzig die kirchliche Organisation hatte den Krieg und den Zusammenbruch ohne wesentliche Einbuße überdauert. So kam es, daß die Kirchengemeinden Sammelpunkt für die Vertriebenen und Flüchtlinge wurden. Während der Vergeltungsgedanke zu der diskriminierenden Flüchtlings-hilfe der IRO und zu einer zweifachen Rechtsstellung führte, die Deutsche von Hilfe ausschloß, hat die Kirche nie das willkürlich gesetzte Recht eines Staates anerkannt. Sie steht auf dem Boden des natürlichen Rechtes, das dem Menschen ein Recht auf seine Heimat gibt. Nie wird man von jenen dunklen Tagen reden dürfen, ohne der tatkräftigen Arbeit der Kirchen zu gedenken. Nach 1945 haben sie für die Flüchtlinge weit über ihre seelsorgerische und fürsorgliche Tätigkeit hinaus Bedeutung erlangt. Zugunsten dieser Menschen lockerten sie im Inland und Ausland den Boden für eine großzügige Hilfe auf. Ihnen flössen die ersten Liebesgaben aus dem Ausland zu. Die Caritas, die Evangelische Flüchtlingsfürsorge, die National Catho-lic Weifare Conference, der Lutherische Weltbund u. a. stellten im Verlaufe der Jahre 1945 bis 1954 Waren und Gelder im Gesamtwerte von mehr als einer Milliarde Schilling bereit.

Als die Flüchtlingsorganisationen ihre Tätigkeit einstellten, bürdete man Oesterreich schwere Lasten auf. Abgesehen von Renten, Pensionen, Fürsorgegeldern und Krediten, gaben Bund und Länder seit 1945 für die unmittelbare Flüchtlingsbetreuung 1,5 Milliarden Schilling aus.

Seit dem Abtransport in den Jahren 1945 bi 1947 blieb die Zahl von einer halben Million Flüchtlingen ziemlich unverändert. 1947 waren 113.000 Personen in staatlichen Barackenlagern untergebracht, 1952 noch 60.000, Juli 1954 40.000. Von 1945 bis 1. Juli 1954 erhielten nach einer Verlautbarung des Innenministeriums 262.536 Personen die österreichische StaatsBürgerschaft zuerkannt, lieber die deutschen Volksgruppen in Oesterreich mit dem Stichtag 1. Juli 1954 zeigt die Tabelle folgendes Bild:

Sudetendeutsche ..................... 122.700

Donauschwaben

aus Rumänien .............. 8.200

aus Jugoslawien ............. 94.200

aus Ungarn ................ 6.000 10S.400

Volksösterreicher Untersteirer, Unterkärntner (1945

über 20.000) ............. 12.000

Ostburgenländer ............ 7.500

Südtiroler .................. 29.800

Kanaltaler.................. 1.600 50.900

Karpathendeutsche ................... 11.500

Siebenbürger Sachsen (1945 rund 20.000) . 9.600

Bukowinadeutsche (1945 rund 19.000) ... 9.500

Deutsche aus Calizien ................ 8.000

Gottscheer (1945 rund 15.000) ......... 6.800

Sathamarer Schwaben (1945 rund 20 000) . 6.600' Bessarabiendeutsche (1945 rund 16.000) .. 6.500 Insgesamt deutschsprachige Heimatvertriebene ....................... 340.500

Die Verhältnisse in Deutschland und Oesterreich — schließt der Bericht — sind grundverschieden und Vorbilder nicht übertragbar, auch wenn sich zufällig als Erbe des Krieges gleiche Probleme ergeben. Deutschland wurde von den Siegermächten aufgetragen, die Ausgetriebenen aufzunehmen. In Potsdam war man sich, als man dics befahl, wahrscheinlich nicht der Tragweite des unmenschlichen Entschlusses bewußt. Der Unterschied von östlicher und westlicher Auffassung von Staat und Volk und die Unkenntnis der komplizierten Minderheitenfrage in Ost-und Südosteuropa ist den westlichen Unterhändlern vielfach zum Verhängnis geworden. Das heutige Oesterreich ist aber weder der Rechtsnachfolger der alten Monarchie noch des „Tausendjährigen Reiches“. Oesterreich hat niemals irgendeine Verpflichtung übernommen. Sein Eintreten für die Flüchtlinge ist freiwillig und wurzelt nicht in einem Auftrag, sondern in der Hilfsbereitschaft des österreichischen Volkes und dem humanitären und christlichen Geist seiner Bewohner. Das Flüchtlingsproblem ist kein durch Oesterreich heraufbeschworenes Problem. Es kann für dessen Existenz nicht verantwortlich gemacht werden. Im Gegenteil, dieses kleine Land trägt eine riesige Sozialhypothek, die durch fremdes Verschulden zustande kam. Das Flüchtlingsproblem ist ein Weltproblem. Das österreichische Volk, seine Regierung, seine Kirchen und die großen Körperschaften haben diese Frage zu lösen versucht, nach ihren Kräften die Flüchtlingsnot zu lindern gesucht. Die Normalisierung der Verhältnisse zeigt, daß der eingeschlagene Weg der richtige war. Eine wirkliche und endgültige Lösung dieses Komplexes von Problemen wird allerdings von Oesterreich allein bei allem guten Willen weder gefordert noch erwartet werden dürfen. Es wäre aber auch verfehlt, wollte man das Flüchtlingsproblem nur als eine politische und wirtschaftliche Angelegenheit ansehen. Es stehen vielmehr, wie Amadeo Silva-Tarouca sagt, „nicht materielle Werte, nicht Wirtschaftsfragen, sondern die geistigen Güter der Einheit und Menschlichkeit auf dem Spiel“.

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