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Dies andere Österreich ...

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Wer Oesterreich liebt, muß es wagen, alle seine Gesichter zu sehen. Oesterreichischer Patriotismus ist nicht Protzentum und Selbstbelügung. Der hier folgende Aufsatz ist ein Testfall: Wer unserem Land, seiner Vergangenheit und Zukunft wirklich gewogen ist, wird gerade in ihm die Stimme eines Liebenden vernehmen.

Die Furche

Als Oesterreicher zur Welt zu kommen, genügt nicht. Oesterreich muß man erlernen. Mit diesem zur einen Hälfte angeheitert-launigen, zur anderen bitter-resignierten Merksatz über Land und Leute zwischen Grinzing und Mauthausen mag man einigermaßen erfolgreich ein stimmungsvolles österreichisches Feuilleton einleiten können. Oder eine romantische historische Replik. Oder aber auch: die harte, bittere Wahrheit über Oesterreich.

Was immer man nun über den „gelernten“ Oesterreicher ins aphoristische Lesebuch der mailüftigen Alpen- und Alpenvorländer zu schreiben sich anschickt — wahr ist, daß der Lehrplan, dem sich einst dies historisch ambitionierte Donauvölkchen unterzogen hatte, ein europäischer war. Die Generationen vor uns waren immerhin Schulpflichtige einer Volksuniversität der übernationalen Integration, der Großraumverwaltung und der geistigen und kulturellen Missionen. Sie waren genötigt, sich andere Sprachen anzueignen und das Wissen um die Psyche fremder Völker, sie lernten die europäischen Spielregeln von Großstaatsbürgern mit allen ihren Konsequenzen auf dem Gebiet der Wissenschaft und Politik, der Kunst und Wirtschaft. Das ist die österreichische Wahrheit vergangener Jahrhunderte, die nicht mehr gilt. Sie ist zur Träumerei geworden, zu einer Legende, zu einem vergilbten Humanitäts- Schematismus mit herausgerissenen Seiten.

Für uns gilt nur noch die nüchterne Wahrheit, daß wir auf das Pflichtfach der Lokalpolitik zurückversetzt worden sind. .Unser Lehrstoff ist die Provinz. Das offizielle Kleingeistdenken. Die Beschränkung der kulturellen, politischen und wirtschaftlichen Agenden eines in verhängnisvoller Selbstüberschätzung begriffenen Randstaatvolkes auf Kommunalebene. Die vor der jeweiligen Bundeslandesobrigkeit an Eides S.att zu leistende Verzichterklärung auf den Intellekt.

Für uns jüngere Jahrgänge, die dies legendäre K.-u.-k.-Jenseits nicht mehr erlebt haben, und die jene umstrittene Bürgerkriegsrepublik der ersten Weltdepression mit den harmlos-unverbindlichen Erinnerungen an die Indianerspiele Halbwüchsiger verbinden, begann Oesterreich als eine Art unvermuteter Belohnung für unsere auf fremden Kriegsschauplätzen verlorengegangene Jugend im Frühjahr 1945. Es waren sonnige, reine, doppelbedeutige Frühlingstage eines befreiten und befreienden Lebensantritts, angefüllt mit Hoffnung, mit juveniler Begeisterung und ermutigendem Glauben. Es war unser Frühling. Es war die Zeit unserer ersten Jugendliebe zu diesem wunderreichen Oesterreich, das sich da aus den Trümmern erhob.

Der Glaube war gespeist aus dem Siegeszug des Menschenrechts, aus dem Auftrag, den der millionenfache Todesmut in den KZs der Welt übermittelte, und aus der Historie dieses neuen alten Landes an den Wällen Europas: aus jener verführerischen Chronik, die von Prag und Czernowitz bis Cattaro und Sarajewo reichte und aus der Hofkanzlei einer großen Kaiserin bis zu den wieder zugänglich gewordenen Bekenntnissen Kunschaks und Funders, und von Fischer von Erlach über Mozart und Grillparzer bis zu Polgar, Hofmannsthal und Freud und Loos und Schiele. Das Erbe schien so nahe und so greifbar wie die Zukunft einer wiedererstandenen geistigen Heimat.

Dann kamen fünfzehn Jahre österreichischen Alltags.

Fünfzehn Jahre des materiellen Wiederaufbaues und des ansteigenden Wohlstandes. Sonst nichts. Fünfzehn Jahre Oesterreich auf dem Wege zur geistigen Provinz. Fünfzehn Jahre Abendkurs in den neu-österreichischen Lehrfächern der retrospektiven Phrasen, der offiziellen Ignoranz, der Menschlichkeit vortäuschenden Sentimentalität, der Parteienherrschaft und der bürokratischen Despotie.

Fünfzehn Jahre österreichische Wirklichkeit: Was einst so anziehend besungen worden ist: die geniale Schlamperei, die kauzig-elegische Bescheidenheit, der melancholisch-skeptische Realismus eines intelligenten Volkes, das augenzwinkernde Amtskappel — all diese verliebten Träumereien unserer anheimelnd-kaffeehaus-

dünstigen Literatur (die wir trotz allem nicht missen möchten) — verwandelte sich vor unseren Augen in die graue Alltagswahrheit eines zu Unrecht romantisierten, griesgrämigen, selbstgefälligen, dem Vormärzgeist verhafteten Obrigkeitsstaates. Der Funke ist erloschen, das große Erbe hat die hochmütige Oligarchie überheblicher Amtspersonen angetreten und das kaum verhüllte Mißtrauen gegenüber den Spielregeln der Demokratie und die Geringschätzung der Intelligenz.

Dies Oesterreich, an dessen Genius die Welt einst glaubte, ist nur noch eine rhetorische Legende. An Wahrheit statt auf Verordnungswege publizierte Täuschung, die mit einem kaum verhüllten Terror zahlreicher Tabus auf-

rechterhalten wird: Tabus, herangezogen aus den Glanztagen einer echten, großen, im Geistigen und Kosmopolen fundierten Tradition, um jenes Mittelmaß zu verdecken, das den Anspruch auf die Nachfolge großösterreichischen (und eben nicht bloß niederösterreichischen) Geistes zu Unrecht erhebt.

Ebenso wie etwa die persönliche Leistung dem Obrigkeitsprinzip der Bürokratie zufolge vor der Oeffentlichkeit nicht nachgewiesen werden braucht, sondern im Gesetzblatt (nach vorheriger Konsultierung des Proporzes) postul'ert wird, fungiert auf allen Gebieten der Kultur, des Rechts und der Politik die Unberührbarkeit staatlicher Institutionen, vor denen der Bür-

ger in Ehrfurcht zu verstummen hat. So gilt der Staatsdienst in Bausch und Bogen nicht etwa als ein vom souveränen Volk bestelltes Verwaltungsamt im Dienst einer Gesellschaft freier Bürger, sondern ist oberste Instanz und Selbstzweck und souveräne Befehlsstelle, der man, sofern man etwas erreichen will, als Untertan sich nähern muß, mit dem Ausdruck respektvollster Devotion: als Geschöpf zweiter Ordnung und Freiwild im Labyrinth der Beamtenbeleidigungsgesetze, dessen Wort (und Ehranspruch) im Zweifelsfalle, unberücksichtigt des Leumunds und der Bildung, weniger gilt als das eines mit der Machtvollkommenheit der Staatsautorität ausgestatteten Weichenstellers. Aehnliches gilt in den Bereichen der von Karrierebeamten autoritär verwalteten Kunst, deren Weltgeltung auf besonderen Wunsch der Obrigkeit zunächst gebührend gefeiert und erst in zweiter Linie auf die Qualität des tatsächlich Geleisteten untersucht werden soll — und auch das nur so weit, als die kulturellen „Wahrzeichen“, die allzu oft hinter dieser Weltgeltung zurückbleibende Leistungen bieten, nicht gekränkt werden.

Sakrosankte Symbole, ihrer einstigen Bedeutung entblößte Ueberlieferung, Eigenkult, Selbsttäuschung und Beschönigung: damit offeriert sich dies Oesterreich der Wahlplakate und der Broschüren für Touristen, der Festreden und subventionierten Almanache. Preist sich an zu günstigen Devisenkursen, deklariert sich als geistige Großmacht und Erbland aller, anderswo unerreichten Konzilianz. Der Alltag aber sieht beträchtlich anders aus.

Wer über die kulturelle Ambition der Republik das Richtige erfahren will, der begebe sich unter die demonstrierenden Professoren und Studenten, die auf der Straße dagegen protestieren müssen, daß in den Hörsälen zum Studieren zuwenig Platz ist. Wer sich über die Persönlichkeiten Aufschluß verschaffen will, die ihren Wählern von der internationalen Mittlerrolle Oesterreichs zu berichten wissen, der begebe sich ins Parlament, in dieses als Befehlsempfangsstelle der Parteiklubs mißbrauchtes Wahrzeichen der Demokratie auf dem Ring, und lausche dem Weitblick und der Umgangssprache der darin Sitzenden. Wer die für Oesterreich so wortreich reklamierte Toleranz auf die Probe stellen will, der begebe sich nach Linz und Graz und Salzburg, um dort den deutschtümelnden Nationalismus in alter Frische auf sich einwirken zu lassen, und jenen Ungeist der Ressentiments, dem der kaum verhüllte Antisemitismus Wiens Gleichwertiges zu bieten hat. Und schließlich: Wer die in Oesterreich sprichwörtlich beheimatete Liebenswürdigkeit in Augenschein nehmen will, der begebe sich mit einem unvollständig ausgefüllten Erlagschein an einen Schalter unserer Postämter. Und wer sich über die gepriesene österreichische Gemütlichkeit (mitsamt dem goldenen Herzen) Klarheit holen will, der begehe sich in eine überfüllte Wiener Straßenbahn . . .

Die im (meistenteils vom Proporz an Eignungs Statt berufenen) offiziellen Oesterreich anzutreffende Selbstherrlichkeit läßt mit Sicherheit erwarten, daß diese Zeilen der „böswilligen Schmähung und Verunglimpfung" bezichtigt oder zumindest als über die Maßen übertriebenes, „zersetzendes Produkt einer negativen Geisteshaltung“ gebrandmarkt werden. In einem Land, in dem es die allmächtige Hegemonie der kleinstädtischen Intoleranz innerhalb weniger Jahre naöh der Neuetablierung der Demokratie fertiggebracht hat, daß die Aeußerung unbequemer Wahrheiten ganz allgemein als mit den „guten Sitten“ der gutbürgerlichen Gesellschaft unvereinbar empfunden wird, ist eine andere Reaktion als die der entrüsteten und diskriminierenden Zurückweisung einer unerwünschten Kritik wohl auch kaum möglich.

Nun soll erst gar nicht der Versuch unternommen werden, an Hand dieser Kritikfeindlichkeit auf die Anfälligkeit des herrschenden Systems hinzuweisen — es würde nichts fruchten: es will lediglich einmal klar und unmißverständlich ausgesprochen werden, daß das Wort den Buchstaben der österreichischen Gesetze nach wohl frei ist, daß es aber nicht viel gilt. Es gehört nicht zum „guten Ton“, dies freie Wort, es ist verpönt. Wer nicht in den

Konformismus der offiziellen Schönmacherei einstimmt, wird ganz einfach des Verrates an Oesterreich verdächtigt und gilt übereinstimmend als anrüchig, als „destruktiv“, ja nahezu als charakterlich defekt. Mit dieser simplen, wenngleich äußerst wirkungsvollen, weil konsequent gehandhabten Methode der inoffiziellen Aechtung wird jedwede geistige Opposition wider den österreichischen Provinzialismus eingeschüchtert, aus der „seriösen“ Polemik (und Publizistik) der Konformisten herausgedrängt, vor der Oeffentlichkeit diffamiert.

Abschließend wäre es, schon um der Redaktion die Veröffentlichung dieser Zeilen zu erleichtern, am Platz, auf die unerschütterliche Lieberzeugung zu verweisen, daß die Kritik an Mißständen und falsch deklarierten Tatbeständen nützlich ist und notwendig — oder gar zu beteuern, wie schwer es fällt, soviel Schmerzliches wider das Land der Väter niederzuschreiben. Auf beides wird verzichtet. Das erstere würde überhört werden, das zweite würde man nicht glauben. Uns Jüngere bewegt nur e i n Gedanke: Der Gedanke an die Gefahr, daß Oesterreich von jenen, die über dies Oesterreich „nichts kommen lassen", verspielt wird und seine Zukunft untergraben, so lange, bis nur noch ein Heurigenrefrain mit Weltgeltung überbleibt Von dem, was einmal war.

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