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Das osterreichische Wort

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In Oesterreich erscheint eine Taschenbuchreihe, deren jüngste Bändchen seit wenigen Wochen in den Auslagen der Buchhändler zu sehen sind. Ihr fünfzigster Band enthält eine Sammlung von Gedanken und Aussprüchen großer Oesterreicher. Blättert man darin, so wird wie in einem polyphonen Tonsatz vieles vernehmbar, erklingt mit einem Male die „Stimme Oesterreichs“, jenes Oesterreichs, von dem Hugo von Hofmannsthal einmal gesagt hat: „Es ist etwas Stummes um Oesterreich, es ist vieles da und dort, worauf Worte nur selten hindeuten, etwas Wesenhaftes, Unverbrauchtes, wovon in großen Stunden große Kraft ausgeht.“ Der Band trägt den Reihentitel „Das österreichische Wort“, das Programm eines Unternehmens, mit dem sich zu befassen der Mühe wert ist. Blättert man in den einzelnen Bänden, auf die wir noch speziell eingehen werden, so sieht man schon jetzt, wohin diese Reihe will, die auf etwa zweihundert Bände geplant ist: nach ihrem Abschluß werden achthundert Jahre österreichischer Dichtung und Geistigkeit als Hausbibliothek vor dem Oesterreicher stehen und den vielstimmigen Bogen von den Tagen Walthers von der Vogelweide und Ulrichs von Lichtenstein (die als Bände 44 und 37 bereits vorliegen) bis zu den preisgekrönten Dichtern unserer Tage spannen, jenen mit Würdi-gungs- und Förderungspreisen ausgezeichneten Verwaltern und schöpferischen Mehrein des „Oesterreichischen Worts“, wovon bereits jetzt die den Dichtern Felix Braun, Christine B u s t a. Franz Theodor Csokor und Rudolf Henz gewidmeten Bände 21, 43, 41 und 17 zeugen. Dazwischen klingen die Stimmen des 17., 18. und 19. Jahrhunderts, erzählen von Oesterreichs Bemühungen um den Osten (Hammer-Purgstall, Prokesch-Osten, Fallmerayer), künden von österreichischer Seele und Gemüt (Johann von Saaz, Abraham a Sancta Clara, Michael Denis, Marie von Ebner-Eschenbach, Nikolaus Lenau, Fürst Schwarzenberg, Enrica von Handel-Mazzetti, Peter Rosegger, Franz Stelz-h a m e r), beschwören den „Mimus Austriacus“ des hohen klassischen Theaters und der Volksbühne von Grillparzer über Raimund, Nestroy, Anzengruber bis zu Schönherr, lassen das österreichische Wesen bei Ladislaus P y r k e r ebenso erkennen wie bei Friedrich von Gagern oder Otto Stößl, bei Anastasius Grün, Robert Hamer-1 i n g, Theodor D ä u b 1 e r und Hermann Broch, um nur-einiget Geister zu zitieren, die schon aus diesen Taschenbüchern zuutmtiiedejix:,. .aarÖgOSTSJrSW *

So wie der fünfzigste Band das „Wort aus Oesterreich“ sammelt, dessen Gedanken Facetten des einen Kristalls vergleichbar sind, als den wir die unsterbliche „österreichische Idee“ begreifen können, die in gebrochenen Lichtern das Spektrum österreichischen Wesens widerstrahlen, so wollen die einzelnen Bände dieser Reihe, soweit sie bereits vorliegen und weiterhin folgen werden, das „Stumme um Oesterreich“ — wie die Kristalle in der Radiotechnik den Aether — zum Klingen bringen. Und man sollte wahrhaft meinen, daß unser Ohr erst jetzt — nach den Katastrophen, die seit 1914 über unsere Heimat und die Welt hereingebrochen sind — für diesen Klang hellhörig geworden ist. Das „Stumme um Oesterreich“ wollte ja mitten im ersten Weltkrieg Hugo von Hofmannsthal in der immer tödlicher werdenden Bedrohung der Monarchie in seiner „österreichischen Bibliothek“ zum Klingen bringen, damit in diesen „großen Stunden große Kraft“ von ihm für die Oesterreicher ausgehe. Die Zentrifugalkräfte jener Jahre waren aber stärker als der zentripetale, seherische Wille eines einzelnen, und die vier Jahrzehnte währende Geschichte des österreichischen und abendländischen „Kreuzweges“ nahm ihren Lauf.

Nun scheint es, hat der Stiasny-Verlag in Graz unter geänderten und, fast möchte man sagen, innerlich besseren Bedingungen die Aufgabe Hofmannsthals wiederaufgenommen und will sie zum schönen Ende führen. Unternehmen ähnlicher Art waren ja bei uns leider schon oft zum Scheitern verurteilt. Gelingt dieses, so wird man dem Verleger und seinen Mitarbeitern einmal aufrichtigen Dank zollen müssen I

Fünfzig Bände einer solchen Reihe in Taschenbuchformat — ein Paradoxon für die merkantile Grundforderung der Taschenbuchproduktion, nur „Bestseller“ in ihr Programm aufzunehmen! — laden jedoch auch zur Besinnung ein: jene, die sie lesen sollen, aber auch jene, in deren Hände die Planung und Gestaltung dieser Reihe gelegt ist. Der Leser mag sich vielleicht erstaunt fragen, ob wir tatsächlich so reich sind, daß wir achthundert lahre historischer Entwicklung mit repräsentativen österreichischen Geistern kontinuierlich besetzen können. Ueberrascht wird er feststellen, daß wir Oesterreicher, die wir sonst still unser Teil denken und die andern reden lassen, gar nicht so „stumm“ sein müßten, wie wir es anderen gegenüber gerne sind, ja, daß. wir fast blind in unsere geistige Truhe hineingreifen können, um einen Schatz in unseren Händen zu halten. Und das gilt nicht nur etwa für das sogenannte „österreichische Jahrhundert“ von 1740 bis 1848, in dem sich Oesterreichs Stil und Idee am reinsten ausgeprägt haben, so daß man ihren Spuren und Nachwirkungen heute noch allenthalben in den sogenannten „Nachfolgestaaten“ begegnen kann. Die große Dichtung zwischen Kafka und Broch kann als einziger Versuch, Oesterreich zu retten, gedeutet werden, als Versuch, die Angst, die zur grauen Herrin der Welt geworden ist, zu überwinden.

Dies alles sichtbar zu machen, bewußt werden zu lassen, ist wohl das Hauptanliegen der Planer und Gestalter dieser Reihe, die mit diesem „Taschenbuch sui generis“ dem Menschen unserer Tage etwas anbietet, das er im Strom der allgemeinen Reizüberflutung am dringendsten braucht: Sammlung, Konzentration nicht nur auf ein Berufsspezialgebiet, sondern vor allem Besinnung auf den eigenen, menschlichen Wesensgrund, auf das eigene Selbstverständnis.

Wir verstehen uns selbst nur aus unserer Vergangenheit, wenn wir den Werdeprozessen liebevoll nachspüren. Darum kommt den jeweiligen Einleitungskapiteln der einzelnen Bände besondere Bedeutung zu. Nach den ersten tastenden Versuchen zwischen Biographik und Literarästhetik nehmen sie nun immer deutlicher Kurs auf eine allgemeine österreichische Zeit- und Geistesgeschichte, gesehen eben durch das Medium des jeweiligen Dichters, den sie behandeln, weil ja die Dichter stellvertretend für den österreichischen Menschen stehen, den sich die „österreichische Idee“ nach einem schönen Worte Richard von Schaukais immer wieder neu schafft. Die Gestaltung dieser Einleitungskapitel dürfte wohl noch manche Nuß zu knacken geben, weil sie praktisch „in nuce“ viele Wissensgebiete klar und einfach zusammenfassen, Wiederholungen bei der Darstellung gleicher Zeitabschnitte möglichst vermeiden und dennoch immer wieder neu, interessant und spannend sein sollen. Dieses österreichische Taschenbuch will bei allem Wissenswerten, das seine Einleitungen zu bieten haben, vor allem aber die Freude am Schönen und Echten wieder verlebendigen. Schon die Art seiner Aufmachung bezeugt es und bekundet zugleich den Willen des Verlages, den Menschen der Gegenwart mit dem künstlerischen Ausdruckswillen moderner Graphik zu konfrontieren. Das führt zu einer sehr individuellen Umschlagsgestaltung, die allen Uniformen, wie der Oesterreicher selbst, im tiefsten Grunde abhold ist. Daß allerdings auch der Begriff des Schönen, abgesehen von aller natürlichen Subjektivität, für viele von uns heute problematisch geworden ist, das sollte uns um so mehr zu einer ernsten Auseinandersetzung mit den Weisen seiner Gestaltung — den mehr konkret-realistischen wie den abstrakt-vergeistigten, die Idee aufspürenden — herausfordern! Vor allem aber will diese Reihe, das kann man den vorliegenden Bänden bereits deutlich entnehmen, durch das Wort der Dichter, aus dem wir unser eigenes Wesen wohl am besten kennen und verstehen lernen, zur Besinnung rufen, zur Besinnung auf das eigene Selbst- und Personsein. Personare heißt ja das Durchtönenlassen der ureigenen Stimme durch die jeweiligen, sich ständig wandelnden Lebensmasken, die wir tragen müssen. Die industrielle Massengesellschaft, der wir ja alle angehören und die wahrlich ohne eigene, individuelle Stimme ist, hat heute das lebendige, persönliche Wort nötiger denn je, will sie nicht in den Laboratoriumswüsten der „zweiten“, technischen Schöpfung, an der sie fieberhaft arbeitet, zugrunde gehen!

Durch acht Jahrhunderte haben die Dichter, die sich sehr zu Unrecht heute zu einem einsamen Monolog verdammen, zu uns gesprochen und sie sprechen noch immer zu uns. Ihr Wort soll das „Stumme um Oesterreich“ erlösen, denn wir alle suchen nach dem „gültigen“, dem heilmachenden Wort, weil es uns angesichts der oft unheilvollen Tendenzen des heraufkommenden Aeons mehr als einmal die Rede verschlagen will.

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