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Sturm über Österreich

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In die Reihe der Erinnerungsbücher, die sich mit Oesterreichs Geschichte in der düsteren Periode von 1918 bis 1945 befassen, tritt nunmehr der mit Spannung erwartete zweite Band von Friedrich Funder. Der Titel flattert wie eine siegreiche Fahne über den aufwühlenden Geschehnissen und verkündet das Ergebnis des bitteren Ringens, in das die entfesselten Elemente das gepeinigte Land stießen: Oesterreich, 1918 als Rest eines Großreiches übriggeblieben, dann in seiner staatlichen Existenz ausgelöscht, ist 1945 neu erstanden. Die Altösterreicher haben die historische Abfolge schmerzlich miterlebt: Oesterreichisch- ungarische Monarchie, Erste Republik, Drittes Reich, Zweite Republik. Etwas viel für ein Menschenleben und begreiflicherweise genug des Stoffes für Autoren von Memoiren. Doch, je mehr von ihnen sich schriftlich äußern, verwickelte Vorgänge zu entwirren suchen und ihre Werturteile abgeben, desto schwieriger wird ein solches Unterfangen. Zwei Fragen erheben sich. Was sagt der Verfasser und wie sagt er das, was er zu sagen hat? Dazu eine Vorfrage: Wie steht es mit seiner Legitimation?

Jeder Oesterreicher ohne Unterschied der landesüblichen Schattierungen weiß, daß dieser Verfasser zu den allerersten Publizisten Oesterreichs und Europas zählt, daß er dank seiner gründlichen Vertrautheit mit Oesterreichs Vergangenheit und Gegenwart, nicht zuletzt durch seine führende Stellung und seine engen Beziehungen zu den maßgebenden Kreisen und Persönlichkeiten des In- und Auslandes, mit dem Abfluß der Ereignisse Schritt hielt und daß seiner vorzüglichen Feder die Gabe der Darstellung und Charakterisierung in weitaus überdurchschnittlichem Ausmaße eignet. Zwar sieht jeder die Welt durch sein Fenster an. Aber es ist ein Unterschied, ob dieses Fenster auf die Straße, vielleicht einen Hof führt oder ob es von einem hohen Luginsland eine weite Sicht gewährt.

Wer mit dem Verfasser an Hand von teilweise bisher unbekannten Dokumenten und reicher Erlebnisse den Gang durch Oesterreichs Geschichte von 1929 bis 1945 anzutreten willens i’st, kann sich einer gewissen Bangigkeit nicht erwehren. Er denkt als Zeitgenosse an die Gewitterschwüle, stickige, fast unerträgliche Luft dieser Jahre, die ein freies Aufatmen verhinderte, an den Stich in der Herzgegend, den die andrängende Kunde von Meintaten und gräßlichen Ereignissen immer wieder mörderisch auslöste, an das Zittern, das über dem Schwund von Recht, Sitte und guter Art den Nachdenklichen befiel, an die Trauer beim Vergleich zwischen einst und jetzt, an die Massenarbeitslosigkeit mit ihrem hinter Riesenziffern grinsendem Elend, an den immer mehr schwindenden Glauben an eine Rettung, an die Angst vor einer ungewissen Zukunft. Inmitten der Bewegung und Gegenbewegung eines latenten Bürgerkrieges, des krallenbewehrten Kampfes um die Illusion der Staatsmacht in einer Hand, schlug wie der Funke in ein Pulverfaß eine zweite Illusion, die der Erlösung von Not und Elend durch die Zusammenschmiedung der zwei Urkräfte des Nationalismus und Sozialismus. Und zündete. Aufbauwille und Leistungen konnten sich angesichts/ der Trommeln und Schüsse, der Kerker und der Galgen, der Propaganda und der Entfesselung wildester Haß- und Racheinstinkte nicht durchsetzen.

Die Befürchtungen, wie der Darsteller zwischen Scylla und Charybdis, der historischen Wahrheit und der von Christentum wie Menschlichkeit gleich geforderten Versöhnungsbereitschaft oder zwischen den grausamen Tatsachen und dem persönlichen Erlebnisrückschlag durchfinden werde, erweisen sich als unbegründet Im Gegenteil. Dieses Buch ist trotz seines unbestechlichen Dranges nach historischer Wahrheit so von christlichem Ethos des Verstehens und Ver- zeihens durchleuchtet, daß jeder kritische Leser tief davon berührt sein und Funders Erinnerungen hoch über ähnliche Memoiren stellen wird. Der Verfasser gliedert seine Mitteilungen in sechzehn Kapitel: An der Schwelle schweren Geschehens, Angriff in der Weltkrise; Demokratie in Erprobung; Der Versucher in der Aula; Abschied von der christlichsozialen Partei; Die Bauern stehen auf; Irrtum, der Geschichte machte; Nach dem Unglück die Tat; Ringen um die berufsständische Ordnung; Vorakt zur Tragödie; Rebellen am Ballhausphtz, Die Iden des März; Mächte und Ohnmächte; Führertragödie unter dem Hakenkreuz. Gefahrvolle Begegnung; Als Oesterreich den Sturm bestand. Die Kapitel sind inhaltlich — nicht dem Wert nach — ungleich. Sie behandeln Zusammenhänge (z. B. An der Schwelle), den Abfluß von Ereignissen (z. B. Angriff in der Weltkrise), überwiegend Ausschnitte aus dem Geschehen, eine besonders bemerkenswerte, fast theoretische Abhandlung (Ringen um die berufsständische Ordnung), Einzelheiten (vor allem Irrtum, der Geschichte machte — Feys bekannte Rede gegen die Nationalsozialisten: nicht gegen die Sozialdemokraten gerichtet!) und persönliche Erlebnisse (das Kapitel nach der Verhaftung des Verfassers). Dennoch oder vielleicht gerade infolge dieser glücklichen Ąb- mischung entsteht nicht der Eindruck von zufälligen Erinnerungsfragmenten oder auch nur eines Mosaiks, sondern ein starker, überlegener Geist hat das Material zu einer geschlossenen Einheit gefügt und geordnet. Der Bezugspunkt der Darstellung ist das unglückliche, von allen Seiten verlassene Oesterreich, dessen heroische Bemühungen um seine Existenz durch innere Schwierigkeiten und äußere, offene und versteckte Feinde, immer wieder vereitelt werden. Aber das ganze ist gesehen durch das Temperament eines weitblickenden Mannes und noblen Charakters, der Friedrich (Funder heißt. Man vergleiche die mit innerer Anteilnahme entworfenen Porträts von Ender, Seipel, Miklas und Dollfuß, die Zeichnungen von Schuschnigg, Vaugoin, Starhemberg, Fey und Kar- winsky, das breite Bild eines Anton Rintelen, die Ausführungen über Seitz, Helmer, Bauer und Deutsch und die überraschende, fast liebevolle Anteilnahme an Hauptmann Leopold, die „typische Verkörperung des österreichischen Nazismus”, dessen Herz trotz allem ein „österreichisches Herz” geblieben ist (S. 286). Ein Werk, das quellenmäßig aus dem Vollen schöpft, muß neue Aufschlüsse bringen und die österreichische Geschichte mit wertvollen Erkenntnissen bereichern. Dem Verfasser standen außer seinem Privatarchiv die Schriftennachlässe von Bundespräsident Wilhelm Miklas, Vizekanzler Richard Schmitz und Finanzminister Dr. Viktor Kienböck, Aufzeichnungen des Bundeskanzlers Dr. Kurt v. Schuschnigg, Außenminister Dr. Guido Schmidt, Unterrichtsminister Dr. Emmerich Czermak, Staatssekretär Carl von Karwinsky und des Publizisten Dr. Emil Franzei, sowie Aktenmaterial zur Verfügung, das nationalsozialistische Funktionäre bei ihrer überstürzten Flucht im Herold-Hause zurückgelassen hatten. Für ein Erinnerüngswerk reichlich viel, so daß es künftig bei einer historischen Gesamtdarstellung dieser Zeitepoche stets herangezogen werden muß.

Das Flachland fehlt’ in diesen Erinnerungen, dazu war die Zeit zu bewegt. Dagegen ragen Höhepunkte empor, etwa das Kapitel über die berufsständische Ordnung, das auch heute noch alle Beachtung der Berufenen verdient, das düstere Drama am Ballhausplatz, auf das teilweise neues Licht fällt, nicht zuletzt das persönliche Schicksal des nach Dachau verschickten Verfassers, das durch wahrhaft christlich- aszetische Zurückhaltung bewegt. Ueberhaupt: bei allen Verirrungen spricht das christliche Ethos wie ein Verteidiger, und selbst beim Unfaßbaren sucht ein abgeklärter Geist zu verstehen, dem Feindesliebe keine Katechismusphralse geblieben ist. Nirgends wird zurückgeschlagen, nirgends der Dolch in der Wunde umgedreht. Es fehlt jedes Pathos des Gedemütigten, jede Spur einer nicht bewältigten Wut über erlittene Erniedrigung, alle kleingehackte Verbitterung und jede Pose des Siegers.

Vielmehr beherrscht die inneren Spannungsgesetze dieses Buches ein frischer, der Zukunft zugewandter Geist, es fehlen alle Züge der Phasenerstarrung und geistigen Vergreisung, eine fast jugendliche Schwungkraft, der Glaube an Oesterreich, reißt mit und läßt die Person, trotz des Erlebnischarakters des Buches, vor der Sache Austria zurücktreten. Dieses Oesterreich, von dem Funder spricht und wie er das kleine Land im Fadenkreuz Europas sieht, ist nicht mehr das Oesterreich des Freiherrn von Hormayr und Charles Sealsfield, auch nicht des edlen Silvio Pellico, noch viel weniger das Restösterreich nach 1918, sondern der verjüngte Erbe alter Kultur und Träger neuer Aufgaben im Herzraum unseres Kontinents. Das Buch sei über den Kreis aller, die Oesterreich innerlich bejahen, auch den Abwartenden, Enttäuschten und Zweiflern, nicht žuletzt dem interessierten Ausland empfohlen, das sooft mit heilsamen Ermahnungen und guten Ratschlägen zui Hand ist, ohne wahres österreichisches Denken um Fühlen zu begreifen. Hier hat ein Oesterreicher übe] Oesterreich geschrieben.

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