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Der Kardinal des österreichischen Volkes

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Er hat die Glocken der Freiheit nicht mehr erlebt. Jene Glockenklänge, die im späten Oktober die Stunde künden werden, an denen der letzte fremde Soldat Oesterreichs Boden verlassen haben wird. Er hat aber den Weg in die Freiheit miterleben dürfen: Theodor Innitzer. unser Wiener Kardinal, dessen Leben und Werk eng verbunden ist mit dem Weg des österreichischen Volkes durch die Erniederungen und Schmerzen der Epoche der Weltkriege, der Bürgerkriege, des Zerfalls. Dieser Sohn unseres Volkes hat sich rückhaltlos hingegeben. Wem? Eben diesem „armen Volke“, das da in Angst und Verwirrung, ohne von der Welt verstanden zu werden und, in großer Notzeit, immer wieder der Gefahr ausgesetzt, sich selbst nicht mehr zu verstehen, sein Leben lebte: zwischen Gestern und Morgen, an der Wegscheide zweier Weltzeitalter: kommend aus dem Zusammenbruch der patriarchalisch-alteuropäischen Epoche, wandernd, zwischen Ruinen und heißen Hoffnungen, in den verhangenen Morgen. Ein kleines Volk im Uebergang, ausgesetzt allen Stürmen der Zeit, ausgesetzt allen Täuschungen, die aus den Nebeln der Zeit ihm zukamen. Es läßt sich keine undankbarere Zeit und keine undankbarere Rolle denken, als die, die Theodor Innitzer zufiel: eine Zeit des Ueberganges, in der tastend nach neuen Wegen und neuen Mitteln gesucht werden muß, um die Gesellschaft der Menschen und die Kirche in ihr zu festigen und aufzuerbauen; in dieser Zeit nun das hohe und verantwortungsschwere Amt eines Kirchenführers zu übernehmen, hieß von vornherein eine Rolle annehmen, die nur getragen werden kann, wenn sie in ihrer Gänze als von Gott her angenommen wird.

Die Uebernahme dieser Rolle mußte zunächst in die Erniedrigung, in die Verkennung, in die Sehmach hineinführen. — Es ist in eben dieser Stunde an der Zeit, in Gottesfurcht, und ohne Menschenfurcht, offen auszusprechen: die Beleidigungen seines Namens, die unserem Wiener Kardinal so oft von Seiten gewisser einflußreicher Kreise des Weltkatholizismus angetan wurden, entsprechen sehr auf ihre Weise dem, was weiter im Osten heute Kirchenführern von ganz anderer Seite angetan wird. Kein Zufall ist das, sondern geschichtlich sehr „richtig“ im Zusammenspiel der Gegensätze: in Osteuropa geht es wie in Südamerika und anderen Kontinenten darum, eine ungeheure Kluft zu überwinden: Massen ohne Boden, ohne Bildung, sollen über Nacht in neue Lebensformen überführt werden — und aus Kirchenführern, die jahrhundertelang patriarchalische Führer ihres Volkes und große Herren der feudalen Welt waren, gewohnt, politisch zu herrschen und zu führen im großen Stil, von ihren bischöflichen und erzbischöflichen Palästen her zu regieren, sollen über Nacht, Seelsorger ihrer bedrängten Herde werden, die nichts besitzen außer ihr Kreuz und die Schmach, die ihnen angetan wird.

Oesterreich, hart am Rande der Ostwelt, von deren Erdbeben immer wieder gestreift, wie vom Strahl der Blitze unferner Gewitter, ist in die Erschütterungen des volkhaften Untergrundes, die im Osten zur Weltrevolution hochdrängten, früher einbezogen worden, als der scheinbar saturierte und befriedete Westen. Unser Kardinal wurde geboren und wuchs heran in jenem nordböhmischen Raum, hart an der Grenze Deutschlands und des Ostens, in dem ein deutschsprachiges Proletariat und Kleinbürgertum unter dem Staudruck der Industrialisierung und des Nationalismus im späten 19. Jahrhundert jenen politischen Radikalismus entwickelte, der später, in den ersten Zellen des Nationalsozialismus, die Funken entzündete, die Europa in Flammen setzen sollten. Der „kleine Innitzer“, der da heranwuchs in einem Haus, in dem die Mutter ihr Leben lang ihren Schmerzensweg ging, ging nicht diesen einen Weg, der sich für viele begabte junge Menschen, die das Leid ihres Volkes sahen, als der natürliche vorstellte: den Weg in die Politik und in die Wirtschaft, zur Macht und zum Kampf um die Macht. Der junge Hilfsarbeiter in der Sfeckschen Fabrik ging den anderen Weg. Er wählte sich als Führer jenen Mann, der, tiefer ergriffen als alle anderen Führer in dieser Welt, sein Wort sprach „nisereor super turbam“, mich erbarmt dieses elende Volk da, und der dieses Wort einlöste durch sein Opfer am Kreuz. Es besteht ein tiefer Zusammenhang zwischen diesen Tatsachen: der Theologe Innitzer wählt sich als Lebenswerk die Betrachtung der Leidensgeschichte des Herrn, ihr widmet er sein wissenschaftliches Hauptwerk und in seiner Betrachtung trägt er sein Leben aus. Diese „Beschäftigung“ mit dem Leiden seines Führers, seines Herrn, führt ihn direkt zu seinem unermüdlichen Einsatz für das „arme Volk“, für die Kleinen, Erniedrigten und Beleidigten — und wer war in Oesterreich in dieser Zwischenzeit und Zwischenwelt nicht mindestens einmal erniedrigt und beleidigt, kam nicht mindesten einmal unter die Räder? Also kümmerte sich Theodor Innitzer — das Wort „k ü m m e r n“ in der Vollschwere des Leides, des Mitleidens und seiner Last verstanden, um alle, buchstäblich um alle: um die

„armen Teufel“ verelendeter Wiener—, so wurde er 1929, im Jahr der Weltwirtschaftskrise Sozialminister im Beamtenkabinett Schober; um jene armen Teufel, die dann unter die Räder des Bürgerkrieges kamen: verfolgte Schutzbündler und Februarhäftlinge, inhaftierte Nationalsozialisten in den Jahren 1934 bis 1936, verfolgte „Mischlinge“ und Juden ab 1938 — für sie richtete er in höchster eigener Gefahr im erzbischöflichen Palais ein eigenes Referat ein und barg viele in seinem Haus. Und ab 1945 wieder um Menschen, die ihn selbst in den Jahren zwischen 1938 und 1945 verfolgt und ihm alle Schmach angetan hatten ...

Theodor Kardinal Innitzer, Erzbischof von Wien, band sein Leben an unser Volk und Land, an ein Land „kleiner Leute“, in einer Weise, die ihm nicht nur von großen Herren in aller Welt, wir wiederholen es, im westlichen Weltkatholizismus, ar,g verdacht wurde, sondern auch von seinen Freunden und Nächsten hier. Vielleicht ist die Verkennung von Seiten der Nächsten das Aegere, Schmerzlichere, auch schwerer zu Ertragende. Wie viele rümpften da die Nase über die „Leutseligkeit“ des „Herrn Kardinals“.

Von dieser Leutseligkeit muß hier gesprochen werden, weil sie in ein Herzstück seines Wesens hineinleuchtet. Diese „Leutseligkeit“ unseres Wiener Kardinals, dieses Eingehen auf Sorge und, Freude des „Volkes“, der kleinen Leute, bekräftigt durch zahllose karitative Taten und Werk — der Kardinal gab sein eigenes Geld oft bis zum letzten Groschen aus, fast mit Gewalt mußten ihm neue Kleider aufgenötigt werden, er spaltete sein Holz für das Feuer im Zimmer bis in sein höchstes Alter selbst —, diese Leutseligkeit, die ihn als Priester, Seelsorger und Hirt zu einem unermüdlichen Visitator auch der kleinsten Pfarren und Gemeinden werden ließ, hatte zwei Wurzeln, eine natürliche und eine übernatürliche. Die natürliche Wurzel, eine tiefe leiderfahrene Menschlichkeit, teilte er mit dem Begründer der österreichischen Sozialdemokratischen Partei, mit Viktor Adler, der, aus seinem Erleben als Armenarzt heraus, seinen politischen Genosse“n immer wieder einschärfte! „Habts die Leut gern!“ Die übernatürliche Wurzel stammt aus der Betrachtung des Kreuzes Christi, aus der immer neuen Beschäftigung mit dem Leiden und der Schmach unseres Herrn. Der Kardinal von Wien hatte in seiner Zucht eine Spiritualität des Kleinen erworben, die ihn zu einem Praktiker jenes „kleinen Weges“ machte, der durch Therese von Lisieux weltberühmt wurde. Freunde und Feinde, Nahestehende und Fernstehende übersahen die Tiefe und Größe dieser Spiritualität so oft, weil sie, echt österreichisch, innig und intim verbunden war mit der Gemütskraft und Gemütsart „der kleinen Leute“, des österreichischen Volkes. Man sollte, im Gedenken an den Kardinal unseres Volkes, Grillparzers „Armen Spielmann“ und Stifters Vorrede zu den Bunten Steinen mit ihrem Hymnus auf die Größe der „kleinen Dinge“ nachlesen, um die Würde, die m e n s c h-liehe und katholische Würde dieses Kirchenmannes aus Wien zu verstehen! Eben dieses „Kleine“, eben diese „Kleinheit“, diese Hingabe an die Kleinheit seines Volkes war es ja, was unseren Kardinal so verdächtig machte in gewissen Kreisen des westlichen Weltkatholizismus. Landauf, landab, von Rom bis Paris und weit darüber hinaus, konnte man da — genau so wie unserem Land -und Volk Oesterreich gegenüber — Mienen der Verachtung beobachten: „Wie konnte nur dieser Kardinal von Wien sich mit Adolf Hitler einlassen?“

Dieser Hohn und Spott übersah geflissentlich die Tatsachen und die Wirklichkeit der Kirche und des Weltkatholizismus. Hundert Prälaten der Kirche haben, gerade auch im Westen, in den letzten Jahrzehnten das getan, was Kirchenführer zu allen Zeiten getan hatten: sie hatten versucht, mit dem Machthaber des Tages ein Auskommen zu treffen — mochte d'eser ein Eroberer von außen oder ein Tyrann von innen sein. Italienische, französische, belgische, holländische, spanische und südamerikanische Kardinäle haben so gehandelt, Dem Kardinal von Wien aber verdachte man es. Weil man ihn nicht verstand. Weil man seine Sorge für seine Leute nicht verstand. Bis dann die Welt aufhorchte, als er. im Herbst 1938, lange bevor sich Widerstand in anderen Kreisen regte, in seiner großen Rede im Dom von St. Stephan Kirche und Volk offen, in mannhafter Rede, verteidigte wider die Gewalt des Verführers. Am 8. O k t o b esr 19 3 8 erhob sich denn auch der Sturm der Wut; fanatisierte Nationalsozialisten stürmten das erzbischöfliche Palais, plünderten und schändeten es. In der Nacht nach dem 8. Oktober 1 9 5 5 ist der Kardinal gestorben. Es scheint uns heute, nach seinem Tode, wie ein Hinweis auf die harten Gnaden, die ihm auf seinem Lebenswege zukamen, daß so manche wichtige Daten seines Lebens mit schicksalschweren Daten der Geschichte unseres Volkes zusammenklingen. Der Oktober, ein Schicksalsmonat der altösterreichischen Monarchie, brachte ihm die Bischofsweihe und feierliche Inthronisation (16. und 30. Oktober) im Schicksalsjahre 1932 Kardinal wurde er am 13. März 1 9 3 3, am Tage des „Anschlusses“, fünf Jahre später, sein fünfzigjähriges Priesterjubiläum erinnert an jenen 2 5. I u I i, der ja nicht nur der Gedächtnistag seiner Priesterweihe ist ... Diese Daten, die gleichnishaft seine Verbundenheit mit seinem Volke ansagen, weisen zurück auf den Anfang seines Lebens: Theodor Innitzer wurde am 2 5. Dezember 18 7 5 geboren — und hat durch sein ganzes Leben diese erste und letzte Verbundenheit mit dem „kleinen“ Jesus, mit dem Gottsohn als Kind, als schwacher Mensch, als Mensch des Volkes, der kleinen Leute, bewahrt.

Diese Kleinheit hat nun — wie sollte es anders sein? — ihre reiche Frucht getragen, so wie es dem Senfkorn in der Frohen Botschaft verheißen ist. In der Zeit seines Episkopats ist in der Wiener Erzdiözese mehr geschaffen worden als in Jahrhunderten vorher. Das gilt für den Kirchenbau, gilt für Werke, die für Europa und darüber hinaus vorbildlich wurden, wie das Seelsorgeamt und Seelsorgeinstitut, gilt für die heute weltumspannenden Werke, die mit unter seiner Hut wachsen konnten, vielbefeindet, vielbedrängt, wie die Klosterneu-burger Volksliturgische Bewegung. Der Kardinal von Wien hat sein Hirtenamt in einer Weise geübt, die für viele Hirten und Oberhirten der heiligen römischen katholischen Kirche als vorbildlich vorgestellt werden darf, gerade heute, in der pluralistischen Großgesellschaft des Atomzeitalters. Er ließ vieles gelten, wachsen', sich entfalten, gerade auch Experimente und Versuche, die ihm persönlich vielleicht nicht liegen mochten. Er schuf einen Raum der Freiheit, der heute, wie jeder Kenner der Verhältnisse des Weltkatholizismus bestätigen wird, selten genug zu finden ist, da die Versuchungen des Zentralismus und Bürokratismus, der überspannten Machtschaltung und des Dirigierens bis ins Kleinste hinein, auch in der Kirche riesengroß geworden sind. Also hat sich dieser Hirt unseres Volkes als ein Sämann und ein Gärtner erwiesen, als ein Stifter von Friedensraum in friedloser Zeit, an friedlosem Ort. Wenn heute Wien, die Großstadt an der Grenze zwischen Ost und West, herausgefunden hat aus der Aera der Bürgerkriege, herausgefunden auch aus den Versuchungen des Totalitaris-mus aller Farben, eben dieses Wien, in dem eine unglückliche Verbindung politischer und religiöser Positionen Massen von Menschen zum Austritt aus der Kirche bewogen hatte, dann ist diese Befriedung Wiens mit ein Werk des Proletariersohnes aus Neugeschrei, der hier zum Seelsorger und Hirten eines „armen Volkes“ herangewachsen ist — in einem Leben, das reich an Ver-demütigungen, an Verkennung — analog dem Leben seines Volkes in dieser Zwischenzeit war, und reich an Früchten und an Segnungen, die aus seinem Samen erwachsen sind.

Das Volk von Wien und das Volk von Oesterreich und alle seine Führer und Verantwortlichen, die um die Last ihrer Verantwortung wissen, neigen sich mit uns an der Bahre dieses ersten Bürgers unseres Staates und unserer Stadt; mögen die Glocken, die seinem Sterblichen letztes Geleit geben, hinüberklingen in jene Glockenklänge, die unserem Volk in diesem Oktober mahnend und froh die Aufgabe von Morgen künden, die so ganz dem tiefsten Inneren des verstorbenen Kardinals von Wien entsprechen: schafft Frieden, ihr Menschen von Wien, von Oesterreich, in euch selbst; schafft

Frieden in euch selbst, und ihr werdet so der Welt den Frieden geben, auf den ihre Besten warten.

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