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Die Kirche in der Krise

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„Die Kirche der Zukunft wird eine Kirche sein, die sich von unten her durch Basisgemeinden freier Initiative und Assoziation aufbaut. Wir sollten alles tun, um diese Entwicklung nicht zu unterbinden.“ (K. Rahner, Strukturwandel der Kirche, Herder-Bücherei, 1972, S. 115)„Wo (für diese Basisgemeinden die) echte Mitte zwischen Sekte und bloßem Verwaltungssprengel der Amtskirche liegt, das ist wohl heute weithin noch eine dunkle und ungelöste Frage.“ (K. Rahner, S. 124).„Ich weiß zwar nicht, wo ich hinfahr / Dafür aber bin ich gschwinder dort.“ (Kabarettstrophe aus der Nachkriegszeit).

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„Die Kirche der Zukunft wird eine Kirche sein, die sich von unten her durch Basisgemeinden freier Initiative und Assoziation aufbaut. Wir sollten alles tun, um diese Entwicklung nicht zu unterbinden.“ (K. Rahner, Strukturwandel der Kirche, Herder-Bücherei, 1972, S. 115)„Wo (für diese Basisgemeinden die) echte Mitte zwischen Sekte und bloßem Verwaltungssprengel der Amtskirche liegt, das ist wohl heute weithin noch eine dunkle und ungelöste Frage.“ (K. Rahner, S. 124).„Ich weiß zwar nicht, wo ich hinfahr / Dafür aber bin ich gschwinder dort.“ (Kabarettstrophe aus der Nachkriegszeit).

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Die Krise, von der hier die Rede ist, brach nicht in der Kirche aus. Vielmehr ist es doch so, daß die freie Welt, die sich immer mehr darauf zugute hält, auch ohne Gott zurechtzukommen, auf einem Höhepunkt ihrer erfolgversprechenden Entwicklung zu „Wohlstand in Sicherheit“ in eine unerwartete Krise geriet: Junge Menschen, vor allem Intellektuelle, fingen an, die ihnen angebotene Form der Sicherheit und des Wohlstands abzulehnen, aus der Gesellschaft auszuziehen und sie namens einer Neuen Linken zu zerstören. Die entstehende Polemik wurde auf beiden Seiten von einem atheistischen Zeitgeist getragen, der erst dann in der Kirche spürbar wurde, als einzelne kirchliche Kreise es für richtig hielten, diesen Zeitgeist quasi als Treibstoff für das Vehikel ihrer kirchlichen Reformen zu benützen. Diese Rezeption eines „modernen“ Zeitgeistes in die Kirche wurde vor allem von Christen betrieben, die ansonsten eine „unbefangene Symbiose“ ihres „wissenschaftlichen Bewußtseins und seiner skeptischen Rationalität „mit ihrem“ metaphysischen und religiösen Bewußtsein“ für gefährdet hielten. Zumal für diese Menschen hat Karl Rahner sein Modell einer „Kirche der Zukunft“ entworfen: eine offene, ökumenische, von der Basis aufgebaute, demokratische, gesellschaftskritische Kirche (S. 99 ff.).

Das Modell ist nicht brandneu. Die Gebildeten des 20. Jahrhunderts lächeln über „anfängliche“ Irrtümer und Irreführungen jenes längst überholten wissenschaftlichen Absolutismus der ersten Aufklärungszeitalters vor 200 Jahren. Und in naher Zukunft wird man über die Aktivitäten derer lächeln, die um die Mitte des 20. Jahrhunderts diesen Absolutismus, der in der Ära der Wissenschaft nach Albert Einstein out ist, noch einmal mobilisieren wollten, um ihn unter anderem gegen den religiösen Glauben ins Treffen zu führen. Aber: so wie -den Christustreuen des ersten Aufklärungszeitalters das Weinen näher war als das Lachen, wenn sie sahen, wie auch damals Kleriker und Laien vor dem Zweifel, der Ironie und dem Spott der Atheisten und Deisten kapitulierten und ihren religiösen Glauben für halbfertige Erkenntnisse oder ganze Unwahrheiten des „herrschenden Zeitgeistes“ hingaben, so müßte heute unsereinem das Lachen vergehen. Denn auch jetzt wird mit einer „Neuen Sprache“ eine „Neue Wahrheit“ in der Kirche verbreitet, wird mit einer Wortmode der Intellektuellen eine beabsichtigte Machtergreifung in und über die Kirche verursacht, arten bereits begonnene Reformen in selbstzerstöre-rische Revolutionssophistik aus. • Eine offene Kirche soll die Kirche der Zukunft nach Karl Rahner sein. In einer quasi freien Marktwirtschaft des Religiösen wird der bescheidene Wert des Christenmenschen gehandelt: das eine Mal bedeutet „ein aus dem sogenannten Neuheidentum gewonnener Christ mehr als zehn ,Altchristen' noch halten“ (K. Rahner, S. 36), das andere Mal ist es für die Kirche wichtiger, „einen Menschen für den Glauben zu gewinnen ... als zwei von gestern im Glauben zu bewahren“ (K. Rahner, S. 77). Überhaupt ist die Frage der Rechtgläubigkeit in der „Kirche von heute“ noch gar nicht gelöst und die Grenzen der Kirchen und der Kirche sind „dunkel“. In der „Kirche der Zukunft“ wird man „eventuelle Korrekturen oder Verdeutlichungen einer solchen Lehre ruhig der Arbeit der Theologie selbst und der Zukunft überlassen“ können (K. Rahner, S. 61). Zwar weiß man hic et nunc nicht, wo man hinfährt, dafür, so verspricht der Progress, wird man früher dort sein.

• In der ökumenischen Bewegung ist das bisher Erreichte nicht zu unterschätzen. Wie recht hat Karl Rahner in diesem Punkt. In einer Zeit, in der sich in der und um die katholische Kirehe oft ein trüber Skeptizismus verbreitet und ein Rationalismus, der mehr Wissen statt festeren Glaubens anbietet, weht uns der in Jahrhunderten der Bedrängnis bewahrte Glaube der Ostkirche an wie heimatliche Wärme, die vor der Gefahr der Erstarrung schützt. Im Umgang mit evangelischen Christen wurde vielen erst Wert und Unwert der evangelischen Theologie des 19. Jahrhunderts bewußt, deren Rezeption heute einzelnen katholischen Theologen Ultimo ratio zu sein scheint. Unvergessen bleibt unter Katholiken die Erinnerung an die aufragende Persönlichkeit des Patriarchen Athenagoras, an seine schicksalhafte Begegnung mit Papst Paul VI. Die ökumenische Bewegung unserer Tage, sagte Athenagoras den französischen Katholiken zu Weihnachten 1967, könne nicht in privatistischen Unternehmungen einzelner Christen vor sich gehen. Vielmehr mögen die Katholiken unter der Anführung ihrer Bischöfe konsequent und gläubig auf die erneute Begegnung zuschreiten. Und da war das Verwundern eines anderen Patriarchen über die Kirche des Westens, in der zuweilen mehr vom „Jungen Marx“ als vom „Jungen Christus“ die Rede ist. Die ökumenische Bewegung wurde und blieb dort Hoffnung und Trost aller Christen, wo sie, wie am Anfang der Konzilsperiode unter Johannes XXIII., primär agens und movens kirchlicher Reformbestrebungen war, nicht aber Vehikel jenes tagespolitisch orientierten modernen Politchristentums, zu dem sich unlängst der neugewählte Generalsekretär des Weltkirchenrates, Philip Potter, im marxistischen Sinne bekannte.

Die Kirche von der Basis her soll nach Karl Rahner die einzige Chance der Kirche von heute werden. In den zu Ende gegangenen sechziger Jahren waren die Polemiken der Basisgruppen der Neuen Linken so etwas wie hochexplosive Haftladungen, die man bestehenden Autoritäten, Institutionen und Normen anhängte, um sie total aus dem Weg zu räumen. Herbert Marcuse meinte, man müsse derlei „Gefängnisse der Freiheit“ erst einmal bis auf den Grund demolieren, ehe man nach der so erfolgten Freimachung des Baugrunds mit dem Bau künftiger Behausungen der Freiheit beginnen kann. Spricht so der Patriarch der Neuen Linken von „Gefängnissen“, dann haben für Karl Rahner die „über das Territorium ... ausgebreiteten Pfarren“ so etwas wie den „Stil von Polizeirevieren“ an sich (K. Rahner, S. 115).

Ganz anders sollen die Basisgemeinden geraten. Zumal sich in ihnen ganze Problemgruppen, von der Neufassung der priesterlichen Existenz bis zum Zölibat, auf Grund der neuen Basis via facti lösen werden. Hoffend, daß einer solchen Atomisierung der Kirche nicht das Pandämium des Sektenwesens folgen wird, vermutet Karl Rahner irgendwo im Dunkel die heute allseits gerühmte Mitte. Wobei seine Einschätzung atfs einer Äquidistanz mögliche Sekten von morgen und bloße Verwaltungssprengel oder „Polizeireviere“ einer „Amtskirche“ von heute ziemlich gleich wertet. Allen Ernstes wird ein solches Experiment in einem Zeitpunkt aufgezeigt, in dem die Anthropologie zum Beispiel auf Grund von Ergebnissen der Verhaltensforschung bereits bei der Einsicht angelangt ist, wonach

• Menschen auf die Dauer nichts gemeinsames tun können, ohne es nach gemeinsamen Regeln zu unternehmen,

• wonach diese abgehobenen Regeln gegenseitigen Verhaltens jeweils den Grundriß einer Einrichtung auf Dauer (Institution) ergeben und

• es in den Institutionen zum Mitvollzug der Normen bestimmter Autoritäten bedarf.

Lehrmeister der zornigen Alten müßten die nun schon arrivierten Revolutionäre der sechziger Jahre sein: die bestehende Autoritäten demontieren wollten, selbst aber bestimmte Träger persönlicher Autorität (Mao Tse-tung, Ernst Bloch usw.) bedingungslos respektierten; gewisse Sachautoritäten (Bücher, Symbole der Neuen Linken) fast blindlings gebrauchte und jede Amtsautorität, die sich für Zwecke ihrer Machtergreifung gebrauchen ließ, dafür einspannte: Kardinäle in der Kirche, um andere „richtig katholisch zu machen“, staatliche Behörden, um zum Beispiel in österreicl Lehrbücher für den Religionsunter' rieht in den Unterricht zu bringen deren Text die Vermischung eine: bestimmten „neuen Theologie“ mi marxistischem Denken unter di< Jugend bringt.

• Im Zeitalter der Demokratisierung konnte dieses jetzt gepriesene Allheilmittel auch der Kirche nicht erspart bleiben. Nach Exzessen totalitärer Einparteiensysteme steht das altehrwürdige noch aus dem 18. Jahrhundert stammende Modell der Demokratie unter politischem Denkmalschutz, wurde aus einer bewährten Methode für die politische Willensbildung eine Ideologie, die quasi ein besonderes Menschentum garantiert. Staatsmänner und Politiker sind sich längst bewußt, daß die seit Generationen fällige „Demokratiereform'“ heute Thema Nr. 1 der freien Welt geworden ist. Die APO, die außerparlamentarische Opposition, hat den „Parlamentarismus alten Stils“ (Ernst Fischer, f 1972) als „längst überholt“ bezeichnet. Das aber hat kirchliche Kreise nicht gehindert, Krankheiten in der Kirche durch die Übernahme einer nicht gerade kerngesunden Demokratie heilen zu wollen. Karl Rahner zeigt selbst einige Gefahren der Demokratisierung in der Kirche auf: dumme und letzthin unfruchtbare Polarisierung (S. 42), die Kirche als Debattierklub (S. 59), harte Einseitigkeiten (S. 52), „bockige“ Konservative (bockige Progressisten gibt es nicht), Bischöfe, die es mit der Angst zu tun bekommen (S. 45) usw.,usw. In diese Serie gehört der kritische Hinweis auf das bisher geübte System der Wahl, besser: Auswahl der Synodalen. Die, zumal in deutschen Landen, vor allem mit Lehrern und Erziehern aller Kategorien, Beamten, Publizisten, gewerbsmäßigen Teilnehmern an Tagungen und Dialogen beschickten Synoden, hatten zuweilen eine beklemmende Ähnlichkeit mit jenem Frankfurter Professorenparlament von 1848/49, dessen Ineffizienz mit Ursache dafür war, daß die deutsche Frage des 19. Jahrhunderts einer Lösung durch Blut und Eisen überantwortet wurde. Anderseits breitete sich auch im sakralen Tagungsraum der Synoden jene modische Lust am Räsonieren und Formulieren en detail aus, eine Unduldsamkeit derer, die mit ihrer „Wortmode“ an die Macht kommen wollten, eine Unduldsamkeit der Intellektuellen, die den Schleier des Vergessens über manche lauthals verkündete „amtskirchliche Exzesse“ der Vergangenheit breiten müßte. Wie ein linder Hauch der Erinnerung kam unsereins die Situation in jenen katholischen Vereinen und Verbänden ins Gedächtnis, in denen einmal frei geworbene Mitglieder in freier Wahl ihre Amtsträger wählten und durchaus willens und imstande waren, der heute so perhor-reszierten Amtskirche gegenüber geradezustehen.

Die von der Basis her demokratisierte Kirche, Modell Rahner 1972, wäre nie existenzfähig. Auf ihrem Weg ins „Dunkel“ wäre sie mit einem unausstehlichen Maß an fallweisen Improvisationen und mit jenem Affekt beladen, in dem sich das Verhalten der einzelnen in zusammenhanglosen Versuchen einer Jetztbewältigung erschöpft und Serien unberechenbarer Widerstände schließlich in virtuelle Gewalttätigkeit münden. Der Kirchenhistoriker Hugo Rahner (f 1969) hat dazu reichliches Material gefördert. Der Kulturpolitiker wird sich am Rande die Bemerkung gestatten, daß sich gerade in den Bereichen der Geisteskultur, wie des Sittlichen und des Religiösen, die Methode des Majorzprinzips kaum dazu eignet, Kriterium der Relevanz zu sein. • Die Kirche soll eine gesellschaftskritische Kirche sein. Wer könnte diesen mutigen Aufruf Karl Rahners mit größeren Hoffnungen begrüßen als der Politiker christlicher Herkunft und Anschauung, der es tagtäglich in der Praxis erlebt, wie der herrschende Zeitgeist kaltblütig über den Glauben hinweggeht, soweit dieser überhaupt noch von der Kirche als Kriterium bei Entscheidungen in der Öffentlichkeit ins Treffen geführt wird. Bei der Wahl der Methoden geht es Karl Rahner nicht darum, unter welchem Stichwort „abstrakter Art“ zumal „tiefgreifende gesellschaftliche Veränderungen“ vor sich gehen sollen. Revolutionen? Nun ja, es muß dabei nicht so mörderisch zugehen wie 1792 bis 1794 in Paris oder nach 1917 in Rußland. Mao Tse-tung, in Sachen Revolution mit größerer Sachautorität ausgestattet als Karl Rahner, nennt allerdings die Revolution einen „Akt der Gewalt, eine brutale Aktion“. Audi Lenin möchte mit jener „Irreführung durch hysterische Hypermoderne, die ohne Substanz arbeiten“ nichts zu tun haben. Er hält gar nichts von gewissen „Banaltheorien über Revolution, bei denen jeder mitmachen kann, vom Bankier bis zum Zaren“.

Nicht wenige katholische Theologen haben sich auf Ernst Blochs Theorie von einer erlaubten Gewaltanwendung eingelassen. Kampf, der einer „sozial-humanen Vernunft“ dient, ein „menschenfreundlicher Kampf“ soll demnach nicht nur erlaubt sein, sondern jetzt „aktiv ohne Ausrede“ geführt werden. „Echte Revolutionäre“, wie Angela Davis, wissen laut Herbert Marcuse von sich aus und untrüglich, wann „Gewalt am Platz ist und wann nicht“. Zu Beginn der Neuzeit haben sich Theologen auf die Frage des erlaubten Tyrannenmordes eingelassen; die breite Blutspur, die solchen Spekulationen folgte, wäre harmlos im Vergleich zu jener, die in Europa entstünde, wenn über den Gräbern -von Millionen unschuldiger Opfer jüngster Vergangenheit eine Revolution 1 ausgerufen und ausgefochten würde.

Karl Rahner schließt seinen letzten Band mit einem Begriff des Politischen im Falle des Parteienstaates. Er hält dafür, daß ein Christ bei seinem Engagement für eine bestimmte politische Partei selbst die Antwort auf die „Frage des geringeren Übels“ finden müßte. Ob wohl eine solche Antwort Ludwig Windt-horst genügt hätte, um gegen den auf dem Höhepunkt seiner Macht und seines Ansehens befindlichen Otto von Bismarck einen Kulturkampf durchzustehen? Ob ein kalkuliertes geringeres Übel für Heinrich Brüning der Haltepunkt seines Bemühens am Rand der Katastrophe der dreißiger Jahre gewesen ist? Ob es für Leopold Figl wohl ein genügender Trost war, zu wissen, es geschehe um des geringen Übels willen, als er 1938 und 1944 seinen Weg ins KZ und bis in den Schatten der Guillotine ging, als er nach 1945 in der oft grausam gefährlichen Einschlicht der sowjetisch besetzten Ostzone ausharrte? Und: Ob es nur das geringere Übel ist, das christliche Politiker ausharren läßt, angesichts diverser Experimente eines atheistischen Marxismus verschiedener Schattierungen?

Ja — sind denn die „anderen“, mit denen es ein christlicher Politiker zu tun bekommt, nicht mehr als Vertreter eines „größeren Übels“? Darf sich der christliche Politiker eine solche Hybris leisten? Und würde gegebenenfalls das Politische nicht in die Gegensätzlichkeiten eines primitiven und brutalen Freund-Feind-Verhältnisses geraten ?

So wenig die Kirche mit dem Kontrahierblick des Malkontenten durch die säkularisierte Welt von heute -gehen dürfte, so wenig dürfte sie sich auf „Symbiosen“ mit diesem Zeitgeist einlassen, wo diese nur Appeasement wären und damit Anfang ihrer Kapitulation und Unterwerfung unter diesen Zeitgeist. Diese Gefahr besteht zumal dann, wenn der herrschende Zeitgeist eine willkürliche Vermischung von Religion und Ersatzreligion ist oder wenn er Ersatzreligion, das heißt eine Ideologie, anstatt der ihm entgegenwirkenden Religion anbietet.

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