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Der eindimensionale Christ

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Nicht um Herbert Marcuses epochemachendes Buch „Der eindimensionale Mensch“ vorbehaltlos und in allem zu akzeptieren, wird sein Titel auch auf den Christen übertragen, sondern weil sich einfach beim Lesen Parallelen zum innerkirchlichen Leben assoziieren und „weil der Einbruch der Methode des eindimensionalen Denkens in die Theologie gerade erst stattflndet“, schreibt eben ein Theologe.

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Nicht um Herbert Marcuses epochemachendes Buch „Der eindimensionale Mensch“ vorbehaltlos und in allem zu akzeptieren, wird sein Titel auch auf den Christen übertragen, sondern weil sich einfach beim Lesen Parallelen zum innerkirchlichen Leben assoziieren und „weil der Einbruch der Methode des eindimensionalen Denkens in die Theologie gerade erst stattflndet“, schreibt eben ein Theologe.

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Es ist interessant, daß im ganzen Buch Marcuses die Alternative von konservativ und progressiv, die heute die christlichen Gemüter erhitzt, überhaupt nicht gestellt wird. Diese Art zu reden versucht nämlich nur, den Teufel mit Beelzebub auszutreiben, Eindimensionalität mit Eindimensionalität. Es gibt eindimensionale Konservative (sture Verwaltungstechniker, moralisierende Seelsorgspraktiker) und eindimensionale Progressisten (Anbeter von Meinungsumfragen und Statistiken, die unter Demokratisieren soviel wie Nivellieren verstehen; ihr typischer Stil „Warum es nicht einmal mit Gott versuchen?“, „Gott im Nachrichtennetz“, „Gott ist auch drinn“, oder „Gemeinsamer Gottesdienst“, wie Marcuse zitiert oder es der englische Film „Privileg“ vorführt). Es gibt aber auch vieldimensionale Konservative, wie zum Beispiel Johannes XXIII,, und viel- dimensionale Progressive, wie zum Beispiel Teilhard de Chardin in seinem „Göttlichen Bereich“. Nur fällt bei ihnen die Bezeichnung „konservativ“ oder „progressiv“ nicht entscheidend in die Waagschale. Ein „trojanisches Pferd“ kann in beiden Ställen stehen, wie auch ein „Verlust der Mitte“ beiden passieren kann. Das heißt nur alte Krankheitssymptome durch neue überdecken, statt die Krankheit an der Wurzel zu packen. Die Alternativen lauten anders.

Was heißt Eindimensionalität? Eigentlich wurde sie der Sache nach schon früher bestimmt. Rilke wehrt sich in seinem Spätwerk genauso wider sie wie Anouilh in seinen Theaterstücken. Heidegger, dessen Schüler Marcuse war, spricht von der Verdinglichung und Ernst Jünger von einem aktiven Nihilismus. Letzterer hat am deutlichsten, wenn auch nicht mit Marcuses Ausführlichkeit, in seiner Schrift „Über die Linie“ (früher schon im „Arbeiter“) gezeigt, wie Nihilismus keineswegs als Dekadenz, Bosheit und Chaos erscheinen muß, sondern höchste Aktivität, aber eben eindimensionale, bedeuten kann: Perfektion, Präzision im rein technischen Sinn, Organisation, Vitalität, humanitäre Philanthropie, Ausmerzung alles Wunderbaren (in Kunst, Mythos und Religion). Das sind trotz oder gerade wegen ihrer Positivität Reduktionsvorgänge, deren Folgen „Repressionen“ sind.

Die Manipulierbarkeit des Menschen ist nach Marcuse durch dieses Organisationsschema so perfekt geworden, daß sie keine direkte Diktatur oder Versklavung schaustellt, sondern ein „Mitschwingen“ in anonymer Diktatur der Wohlfahrtsstaaten. „In der mechanisierten Versklavung… schwingen die Dinge mehr als daß sie unterdrücken, und sie schwingen das menschliche Instrument — nicht nur seinen Körper, sondern auch seinen Geist und sogar seine Seele.“ Auch die Proteste werden vom System interpretiert und absorbiert. Eine „sublimierte Sklaverei“ also, die von der „wissenschaftlichen Unterwerfung der Natur“ zur „wissenschaftlichen Unterwerfung des Menschen“ führt. Die zerstörerischen und grausamen Züge dieses über alle Parteiungen und Grenzen hinweggehenden „wissenschaftlichen Sozialismus“ werden durch ständige Bereicherung an Zivilisationsgütern und Hebung des Lebensstandards nicht nur gerechtfertigt, sondern sogar freigesprochen. Eine totale Funktionalisierung und Instrumentalisierung (in der sich auch die Seele volkswirtschaftlich verwerten läßt) als Ideal menschlichen Zusammenlebens, das von der Politik zu einer „repressiven“ Ver- waltungs- und Erziehungsdiktatur vollendet wird. Ein Triumph des positiven Denkens, ein radikaler empiristischer Angriff eines praktischen Nutzendenkens auf das humanistische Individuum, der in seiner Eindimensionalität, wo die organisierte Erscheinung für die Wirklichkeit selbst genommen wird, eine synthetische verarmte Welt und eine Herabminderung des Geistes durch die Intellektuellen herbeiführt. Das nur die Schlagworte zur Charakteristik.

Werden nun unter diesem eindimensionalen Aspekt sowohl konservative Praktiken wie progres- sistische Methoden innerhalb der Kirche betrachtet, sieht man, wie sehr sich die Bilder gleichen und wie das Problem einer Erneuerung des Menschen, insbesondere seines Glaubens, ganz anders gestellt werden muß, als es jene. Denkfaulheit tut, die mit den Begriffen konservativprogressiv nur ein Denken vertauscht, höchstens denkt, wie man eine Uhr aufzieht, ganz auf den logischen Mechanismus vertrauend (Gütersloh). Berge werden heute nicht versetzt durch den Glauben, sondern durch die Organisation, schreibt Stefan Andres.

„Die Welt tendiert dazu, zum Stoff totaler Verwaltung zu werden, die sogar die Verwalter verschlingt.“ Was von den Massenmedien geboten wird, was in Demoskopie, Soziogra- phie, Statistik, im ganzen organisierten Betrieb aufscheint, verschmilzt zur Gänze mit dem, was der heutige Mensch denkt, beziehungsweise zu denken wagt. Die organisierten und funktionalisierten Betriebsamkeiten werden mit der Wirklichkeit, mit Wahrheit und Wert gleichgesetzt. Dies ist dort besonders fragwürdig und verheerend, wo es um religiöse Bereiche geht. Die organisierte Gemeinde, der organisierte Gottesdienst muß noch lange nicht eine Gemeinschaft bedeuten, im Gegenteil, jede verordnete Gemeinschaft fördert nur die Vermassung. Glaubensentscheidung und -bewährung läßt sich nie verordnen, noch weniger statistisch erfassen. Zudem weiß man ja, wie Wahlen gelenkt, wie durch Intrigen und Druck Posten in Behörden und auf Lehrstühlen besetzt werden, wie auch sogenannte „objektive Statistiken“ und Meinungsumfragen manipuliert werden. Wie es in den Liturgiekommissionen bei der Auswertung der Frageböigen, in Ordinarien bei Beantwortung beziehungsweise Nichtbeantwortung von Zuschriften zugeht, ist nahezu ein öffentliches Geheimnis. Hier ist der gleiche eindimensionale Geist am Werk wie bei seineraeitigen Dekre- tisten und Rubrizisten. Vom politischen Nutzdenken vieler Christen aus Gründen der Anpassung redet man besser nicht. Nur soviel: was Hochhuth Pius XII. vorwirft, daß er nämlich geschwiegen habe, genau das Schweigen verlangt man heute wieder von der Kirche, weil sie angeblich unpolitisch zu sein hat.

Und das alles geschieht zum Zweck einer Funktionalisierung. Hierarchie der Personen und Werte, Autorität, Priester und Altar, Geräte, Sprache und Gestik werden einfach funktio- nalisiert, das heißt auf Relationen, oft nur auf bestimmte praktische Zwecke ausgerichtet, und haben in sich keinen Bestand mehr. Die seelsorgliche Praxis, der seelsorgliche Nutzen wird zum Maß (als ob das nicht eine contradictio in terminis wäre! Denn Seele und praktischer Nutzen lassen sich nicht vereinen). Alles muß möglichst deutlich und praktisch ausgesprochen und eingerichtet werden, um den Nutzen mit Händen greifen zu können. Das heißt man dann entmythologisieren, entsakralisieren, sogar inkarnieren. Nur ist dieser inkarnierte Leib dann nichts als materiell instrumentale Struktur.

Hier hat ein Verdiniglichungsprozeß eingesetzt, der das Leben der Kirche zerstört. Auf absolut ungeschichtliche Weise, obwohl immer die Geschichtlichkeit als Argument angeführt wird. Im Reiche des Geistes gilt nicht das Gesetz der Geraden als kürzeste Verbindung von zwei Punkten, sondern das Paradoxe der rettenden Umwege.

Arroganz ist dann die eindimensionale Tugend, bei randalierenden

Studenten wie beim Priester- und Ordensnachwuchs. Sie reden wohl von der Geschichtlichkeit des Denkens, klammern es aber für sich selbst aus, indem sie so tun, als ob sie nun ein für allemal die letzten Lösungen gefunden hätten und nun ewig so weiterleben würden.

Alles wird zu einem anonymen Publikum, dessen „Vergnügungs- und Erbauumgsmedien einen zwingen, ihren Anblick und ihre Gerüche über sich ergehen zu lassen“. Eine massive Vergesellschaftung, deren höchstes revolutionäres Ideal kleinbürgerliche Wirtshausgemütlichkeit im Refektor und um den Altar ist, deren Fortschritt darin besteht, die Grenzen der Anständigkeit immer weiter hinauszuschieben und jede Privatsphäre abzubauen. Man diffamiert die über die bloßen Praktiken hinausführenden Bereiche und wird „blind gegenüber den numinosen psychischen Mächten, die ewig das Schicksal des Menschen beherrschen. Wir haben alle Dinge ihres Geheimnisses und ihrer Numinosität beraubt: uns ist nichts mehr heüig“ (C. G. Jung).

Das Ergebnis ist dann ein solcher Wechselbalg wie „christlicher Atheismus“ oder „religionsloses Christentum“ oder „kultfreie Liturgie“; und das in einer Bewegung zur Ökumene, das heißt zur Anerkennung, ja Heim- holung auch der heidnisch-natürlichen Religionsformen!

Höhere Kultur wird demokratisierte Massenkultur, gerichtet gegen das humanistische Individuum und die Erfüllung seiner Persönlichkeit. Die vieldimensionale Sprache wird zur eindimensionalen arrangiert, damit ja alles platt verständlich bleibe. Logistische Methodik in der Philosophie, ästhetische Formalismen in der Kunst, Beschreibungstechnik in der Literatur soll das Faktische nur darstellen, nicht aber mehr verstehen. (Die Tatsachen sind Feinde der Wahrheit, ruft der „Mann von La Mancha“ aus!) Die Mittel zur Vollkommenheit werden zu sozialen Praktiken degradiert, aszetisch und liturgisch (siehe A. Koestlers Buch „Automaten und Heilige“). Auch andere Religionen müssen herhalten, wie die Zen- und Yoga-Moden offenbaren. Christliche Caritas wird organisierte Bürokratie, die Hilfsmaßnahme von oben geplant, dem Hilfsbedürftigen aber kommt keine persönliche Liebe entgegen. Sakrale Sprachen waren in ihrer schwierigen Verständlichkeit, die persönliche Aneignung erforderte, immer viel- dimensianal; die lateinischen Re- sponsorien, nicht wörtlich verstanden, wirkten gleich abstrakten, mehrdeutigen Zeichen, die den Impuls zum persönlichen Nachdenken enthielten. „Evangelium“ aber einfach mit „gute Nachricht“ übersetzen,

„Kyrie eleison!“ mit „Herr, erbarme dich!“ ist nicht nur geschmacklos, sondern rettungslos eindimensional. Der Ritus der heiligen Messe ist zu einem trockenen Aufklärungsmodell reduziert, in dem Atem und Rhythmus irdischen, erst recht göttlichen Lebens ersticken müssen, an ihre Stelle treten anachronistische Sentimentalitäten wie Händchenreichen, Friedensküßchengeben und Schmalzmelodien singender Kapläne. Der Bildersturm und die Purgierung des Heiligenkalenders erzeugen ein wahrhaft eindimensionales Purgato- rium. Sieht man außerdem, wie die verantwortlichen Verwalter sakraler Bereiche heute nur mit Maignetopho- nen und Motorfahrzeugen umzugehen, nicht einmal mit einem Buch etwas Rechtes anzufangen wissen, kann man nur noch resigniert hinter einer Säule zu beten versuchen.

Das persönliche Gewissen wird wohl heute gegen alle Verformelung und Bürokratisierung ins Treffen geführt, doch seine Bildung in meditativer Versenkung unmöglich gemacht.

Die massive Vergesellschaftung beginnt heute bereits in den Intim räumen, in die sie eingedrungen ist, unter denen der der Begegnung mit Gott der intimste ist. Hier wird die Entwicklung des Bewußtseins und des Gewissens, organisiert und offiziell, gehemmt. Nur unter Wegfall dieser schulenden, praktisch verdeutlichenden, Nutzen bringenden, unterhaltenden, beseelsorgenden „Informationen“ kann der Mensch wieder das Abc erlernen, in dem er sich und seinen Glauben zu artikulieren vermag.

Dabei ist es gleichgültig, ob digse Informationen konservativ oder progressiv sind, beide ersticken den Geist. Wie weit wir schon erstickt sind, zeigt die Tatsache, daß es für viele bereits einen Alptraum bedeutet, auf sich allein zurückgeworfen zu sein. „Selbstbesinnung wird aber nur in dem Maß real sein, wie die Massen in Individuen aufgelöst worden sind, befreit von aller Propaganda, Schulung und Manipulation, fähig, die Tatsachen zu kennen und zu begreifen und mit einem Wort, man wird so frei und vernünftig, wie diese Selbstbestimmung von einem wesentlich neuen geschichtlichen Subjekt organisiert, aufrechterhalten und reproduziert wird.“

Die gegenwärtige Gesellschaft — auch die Vorstellung von der aktuellen Gemeinde der Kirche — verneint das aber noch. Das sieht man am ehesten daran, daß man Intoleranz und Verhinderung jedes Dialogs heute gerade bei jenen studieren kann, die ununterbrochen von Toleranz und Dialog reden. Dialog heißt für sie, daß der Gesprächspartner nur dann akzeptiert wird, wenn er ein gutes Echo für ihre eigenen Reden abgibt. Wir beobachten in der Kirche, auch heute, genau das, was als ihr traditioneller Fehler angeprangert wird: eine kleine Gruppe gibt den Ton an, verkündet als Willen der Allgemeinheit, was ihr eigener Wille ist, und versteht es, in den öffentlichen Meinungsmedien alles so darzustellen, als ob sie die breiten Massen hinter sich hätte, deren wirkliche Meinung einfach totgeschwiegen wird.

Nur insofern Möglichkeiten geschaffen werden dafür, daß der Mensch zur Besinnung kommt, sich in eigenständiger Meditation in Ordnungen und Werte, auch in ihre humansäkularen „heidnischen“ Wurzeln vertiefen kann, um die christlichen Strukturen in Natur und Mensch zu ertasten, nur sofern wird er zu wirklicher Demokratisierung fähig, wenn man schon davon reden will, und nur dann wird auch die Entsakralisierung kein bloßes modisches Schlagwort sein, das auf eindimensionale Art zerstörerisch praktiziert wird, sondern ihr berechtigtes Anliegen erreichen, durch alle sakralisierten Fassaden zum humanen Kern vorzustoßen.

Erst dann wird auch die Sprache wieder glaubwürdig. Es ist absurd, sich erst in hektischen Anpassungsund Anbiederungsmanieren unglaubwürdig zu machen und nachher Gehorsam einfordem zu wollen.

Der Antagonismus des Kreuzes hat gegen alle menschliche Vernünftigkeit über dem Leben Christi gestanden. Sein Leben war alles andere als zweckmäßig. Seine Lehre auf eine sozialpolitische Erlöserideologie umzumünzen, ist ein gründliches Mißverständnis. Christus ist nicht gekommen, um politische Aktionen zu starten, soziale Wohlfahrtsunternehmen zu organisieren, auch nicht, um eine liturgische Bewegung zu gründen, sondern um auf den Sinn des Daseins, besonders dort, wo es voller Leiden und Schuld ist, aufmerksam zu machen. Höchst unzweckmäßig hat Er sich gegen die eindimensionale Befriedigung menschlicher Verhältnisse gestellt und mußte dafür sterben. Daher läßt sich das Christentum auch nicht auf seelsorgliche eindimensionale Praktiken reduzieren, und wenn sie noch so viele fromme Vorzeichen tragen, sie sind in ihrem tiefsten Kern unchristlich, ja atheistisch, weil sie der anderen Dimension keinen Raum lassen und alles ebenso funktionalisieren wollen. Der Glaubensakt läßt sich aber nicht funktionalisieren, deswegen untersuchen wir ja heute so kritisch alle Gottes-„beweise“.

Die höchst zeitgemäße Tugend wäre heute Zivilcourage, oder wie sie August Adam, der Moraltheologe, in seinem ersten Buch nach dem zweiten Weltkrieg formuliert; „Die Tugend der Freiheit.“

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