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Emmanuel Mounier und Leon Blum

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Im Zwischenraum von wenigen Tagen schlössen Emmanuel Mounier und Leon Blum ihre Augen. Der eine in seinem iö. Jahr, der andere in seinem 78. Der eine ein katholischer Philosoph, .der andere ein sozialistischer Denker. Beide aus gut bürgerlicher Familie; beide von einem persönlich makellosen Lebenswandel, beide geistige Führer ersten Ranges, bei denen Rat und Tat fugenlos ineinandergriffen; beitle stets bereit zu helfen und beide den jeweiligen Gegnern ihrer Weltanschauung scharf, unzweideutig, aber mit aller Achtung vor dem Menschen und dessen Überzeugung, entgegentretend. So grundverschieden auch ihre Ansichten über die letzten Dinge, über die Probleme unserer Zeit und über die Menschen waren, so sehr widmeten beide, Emmanuel Mounier aus seiner tiefen, katholischen Schau, Leon Blum aus seiner sozialistischen, ihr Leben vor allem und jedem den „Mühseligen und Beladenen“ und dem Kampf für die Freiheit der Persönlichkeit.

Es mag auf den ersten Augenblick befremdend erscheinen, v/enn wir diese beiden französischen Patrioten und Denker nebeneinander stellen. Ihr fast gleichzeitiger Tod ist nicht die einzige Ursache. Aber sie beide geben ein wundervolles Beispiel der Weite französischen Denkens, ohne daß dadurch Gegnerschaft zu Feindschaft wird, oder Brücken abgebrochen werden müssen. Ihre Haltung und ihr Denken beweist von neuem, wie aus einem tief christlich durchpflügten Boden selbst die entgegengesetztesten Ideen immer irgendwie etwas Gemeinsames haben. Dieses Gemeinsame, dieser Saft, der stets von neuem aus der christlichhumanen Tiefe an die Oberfläche steigt, ist es, warum einerseits der gläubige Christ nur in den seltensten Fällen das Gespräch mit dem Nichtgläubigen oder atheistischen Bruder unterbrechen muß und warum andererseits dieser wiederum das Kreuz niemals als eine „Provokation“ betrachten würde; die französischen Sozialisten können sich programmäßig nicht zu dem Satz versteifen: „Religion ist das Opium für das Volk.“ Einzig die Kommunistische Partei, als Partei gesehen, macht in unseren Tagen davon eine Ausnahme, was indes nicht gleichbedeutend mit dem einzelnen Kommunisten ist.

Leon Blum lernten wir in den Jahren nach dem ersten Weltkrieg in intimer Umgebung und intimen Unterhaltungen kennen. Er war in jeder Hinsicht einer der gepflegtesten, elegantesten Franzosen. Seine Sprache war von einer staunenswerten Reinheit und Präzision, dabei stets lebendig und voller Verständnis für den Gegner. So kämpferisch auch sein Charakter war und so unerschütterlich auch sein eigener, „marxistischer“ Standpunkt blieb, so wenig konnte er — genau wie sein Lehrer und Freund Jean Jaures — einer jener absoluten Marxisten sein. Das Rein-Menschliche, dieses „ä i'echelle humaine“, wie er sein letztes Buch betitelte, brachen immer wieder durch die starren Gitterstäbe der grauen Theorie hindurch und ließen selbst in das einengende „Staatsgefängnis“ des materialistischen Gedankengebäudes zitternde Sonnenstrahlen eines warmen, menschlichen Herzens dringen. Er war in allen Unterredungen, wo die Meinungen auf-einanderplatzten, der geborene Vermittler und Versöhner, und da er loyal bis ins Letzte war, so konnte er auch immer durch das dadurch erworbene Vertrauen die auseinanderstrebenden Ideen zusammenführen. Gewiß: oft, sehr oft sogar, irrte er sich in der Beurteilung gegebener politischer Situationen, aber gerade diese Irrtümer sprachen moralisch fast immer für ihn. Sie kamen aus einem Idealismus, welcher, der tieferen, religiösen Interpretierung entbehrend, nichts von der Dämonie der menschlichen Natur, nichts von der Apokalypse wußte und der zum Beispiel annahm, daß mit einer radikalen Abrüstung die Zeit des ewigen Friedens angebrochen sei. Er glaubte lediglich an den Menschen und seine Vernunft — der Glaube an Gott, an Christus und seine Lehren war ihm nicht gegeben. Wodurch sich das ganze Drama des ungläubigen, wenn noch so reinen Menschen von neuem offenbart.

Ganz anders Emmanuel Mounier. Es war wählend der Okkupationszeit, da sahen wir in einer Landschule in der Nähe von Dieulefit in der Dröme einer Schüleraufführung zu. Einige Plätze von uns saß ein noch junger Mann: groß, blond, mit. einem energischen Kinn und einer ziemlich schwülstigen Unterlippe, die beinahe brutal gewirkt hätte, wenn nicht das ganze Gesicht von zwei blauen, gütigen Augen durchstrahlt worden wäre. Der Mann interessierte uns auf den ersten Blick. Wir versuchten in ein Gespräch mit ihm zu kommen, das aber ein Abtasten blieb, da man in dieser Zeit, wo das Inkognito zur unentbehrlichen Verteidigungswaffe wurde, alles vermied, was den anderen in Verlegenheit hätte bringen können. Wir hatten aber das Gefühl, daß dieser Mann mit dem forschenden, ruhigen Blick die Natur eines Bergführers besaß, dessen in sich geschlossene ruhige Kraft und Sicherheit eine tiefe Beruhigung ausströmte, so daß man ohne Zögern sich ihm zu den schwierigsten Kletterpartien anvertraut hätte.

Dieser .Bergführer war Emmanuel Mounier, und der Grat, den er mit sicherem und ruhigem Schritt zum Gipfel erklomm, ohne auf die Abgründe rechts und links zu achten, war seine personalistische Philosophie. Zu dieser Philosophie muß aber sofort sein Wort hinzugefügt werden:

„So viel es von mir abhängen wird, wird der Personalismus nie ein System oder eine politische Maschine werden. Wir wenden diese bequeme Bezeichnung lediglich an, um eine gewisse Perspektive der menschlichen Probleme damit zu bezeichnen und um gewisse Forderungen für die Lösung der Krise des 20. Jahrhunderts zu betonen ... Diese Bezeichnung ist aus dem totalitären Vorstoß und gegen ihn geboren; sie betont die Verteidigung der Person gegen die Unterdrückung des Apparats.“

Im Gegensatz zu dem durchaus menschlichen Sozialismus eines Leon Blum war für Mounier die Persönlichkeit keine Zelle, nicht einmal eine solche sozialer

Natur, einer Kollektivität, sondern ein Gipfel, „von dem aus alle Wege der Welt gehen“. Und sehr bezeichnend ist es für ihn, wenn er darauf aufmerksam macht, wie die personalistische Bewegung aus der Krise auf den Bankkrachs der Wallstreet im Jahre 1929 hervorging, die „sich über den Paroxysmus des zweiten Wellkrieges bis in unsere Tage fortsetzt“.

Hier greift seine Philosophie ein, die, das ist wesentlich, nicht vom praktischen Handeln zu trennen ist. Wirtschaftliche Krise? wie die Sozialisten behaupten, oder Krise des Menschen und seiner Sitten? wie die Moralisten es annehmen. Kann man den „Körper“ von der „Seele“, den Gedanken von der Handlung, den homo faber vom homo sapiens überhaupt trennen? Nein! Weshalb er betonte, daß es sich sowohl um eine Krise der Struktur als auch um eine solche des Menschen handle. Dieses „Sowohl — als auch“ kehrt bei allen seinen Betrachtungen wieder: nichts wird einzeln untersucht, aber stets alles in seinem unlösbaren Zusammenhang: das Geistige und das Materielle mit ihren Folgen sind nun einmal nicht voneinander zu trennen. Aber das ist nicht das einzige, was ihn von der sozialistischen Auffassung trennt. „Die abstrakte Reinheit zielt immer aufs Allgemeine, auf das konstruierte Prinzip, auf die vorgestellte Situation, auf diese gestaltlosen Güter, die nichts sind noch jemandem gehören. Das persönliche Anliegen dagegen ist Bejahung und konkrete Einordnung, übernommene Verantwortung in einer Welt der Bezüge.“ Wir zitieren hier absichtlich wörtlich. Es wird vielleicht jetzt verständlich, warum wir die beiden reinen Geister hier zusammen betrachten. Durch diesen einen Satz wird der tragische Unterschied zwischen dem noch so idealistischen Sozialisten und dem aus der religiösen Tiefe denkenden Christen klar ersichtlich: die abstrakte Reinheit, die sich immer im allgemeinen und am konstruierten Prinzip verliert, während das persönliche Verhalten allein eine konkrete Einfügung, eine übernommene Verantwortlichkeit einer gegebenen Lage gegenüber bedeutet. Aber dies ist nicht alles: „Der Materialismus und der Kollektivismus haben uns in einer brutalen Weise daran erinnert, daß wir Menschen unter den Dingen und unter den Menschen sind durch die Dinge und durch die anderen und dies eben so sehr, wenn nicht oft mehr, als in der Einsamkeit der Sammlung.“ Wir sind nur frei in dem Maße, in dem wir es nicht ganz sind. Unsere Daseinsfreude ist immer vermengt mit einer tragischen Spannung, aber gerade dies macht aus uns „Wesen der Antwort“, anders ausgedrückt, Verantwortliche. „Die Bewegung der Geschichte als gelebte und ununterbrochene Erfahrung analysieren — das ist das einzige wirksame Mittel, die Geschichte zu lenken. Das ist ein Punkt, wo der realistische Personalismus sich eng mit der marxistischen Methode berührt, mit ihrer Bemühung, die historischen Probleme des a priori zu lösen und um die Erkenntnis mit der Aktion zu verschweißen.“ Aber dieses Zusammenschweißen von Erkenntnis und Handlung bedingt ein weiteres: sich die Hände beschmutzen. Denn handeln wollen, ohne von seinen Prinzipien abzulassen, ist ein begrifflicher Gegensatz: er drückt einen egozentrischen Pharisäismus aus, der sich mehr dem Bild, das man von sich selbst macht, verpflichtet fühlt als dem gemeinsamen Schicksal der Menschen.

Wie leicht folgen wir doch einem Mythus. Nicht umsonst ist unsere heutige Welt so voller Mythen. Der Rationalismus ist daran nicht unschuldig. „Er ist die Polizei des Geistes. Eine Polizei ist unentbehrlich, aber die Polizeigesellschaften ersticken. Wenn die Kreise der Rechten durch direkte Wahlverwandtschaft m i t dem Faschismus verraten haben, so die Kreise der Linken und der Liberalen vor dem Faschismus.“ Petain ist das Symbol der einen; der sehr ehrenwerte Chamberlain das der andern. Man kann wohl versuchen, den Gegner ganz zu verstehen, aber dieses Verstehen verlangt vom handelnden Menschen eine viel bereicherndere Anstrengung als die einfache, objektive Neutralität, da der Gegner gleichermaßen ein Erzieher und ein Halt ist wie eine Kraft, die es niederzuringen gilt. In diesem Zusammenhang ist ein Wort von Mounier besonders ernst zu nehmen: „Wenn der bürgerliche Christ der bedrohten Religion zur Hilfe eilt, facht er die Glut seines Glaubens an, aber verdunkelt durch alle Unordnungen, die mit seinem Christentum verschmolzen sind und welche diese Bedrohung geradezu hervorgerufen haben.“

Die Gedanken von Emmanuel Mounier werden aber erst zu festen Rippen der handelnden Persönlichkeit durch die Wirbelsäule des lebendigen Glaubens. Ohne Bezug auf das Absolute ist das „engagement“ immer nur Verstümmelung, progressive Organisation der Verzweiflung und der Vergreisung. Unter der Perspektive des Absoluten wird das Sichherausreißen, welches das „engagement“ fordert, Opfer, die man der Größe des Seins bringt. Es besiegelt das Tragische der Aktion, aber auch die verlockende Leichtigkeit, welche sie wie die ewige Jugend begleitet.

Außerhalb einer Philosophie der Transzendenz sind diese Probleme nichts als Wind und die Transzendenz muß verbunden sein „mit einem höchsten Wesen, Urbild aller Existenzen, oder nur ein beziehungsvolles .Darüberhinaus' des Menschen, zu sich selbst oder über sich hinaus“. Abgesehen davon, „alles was den Menschen betrifft, entwickelt sich nur durch Krisen, wo die Verneinung total sein muß, damit die Wiedergeburt um so erstaunlicher sei“.

Wir glauben, einen genügenden Einblick in Mouniers Gedankenwelt gegeben zu haben, um verstehen zu können, warum die von ihm gegründete Monatsschrift „L'Esprit“, an der Christen und Ungläubige mitarbeiten, oft leidenschaftliche Diskussionen auslöste und warum Mounier und seine Arbeit weit über Frankreich hinaus vor allem die Jugend bewegte. Klopfte er doch viele alte Teppiche aus, gab er doch immer wieder das Beispiel eines aus tiefer Verantwortung heraus handelnden Philosophen und Menschen (wie viele Philosophen sind ausgetrockneten Pflanzen in einem Herbarium vergleichbar, mit demselben Museumswert!) und wußte er doch den suchenden Menschen durch die Verbindung des Transzendentalen mit unserer Welt und durch seine Betrachtung der aktuellen Probleme auf dem Hintergrund eines Absoluten, ein Ziel und einen Im-peratif des Handelns zu geben, wie es nur sehr wenige Menschen verstehen. Er lehnte es auch stets ab, seine Zeitschrift als eine katholische zu bezeichnen, obwohl er mit seinem katholischen Glauben und seiner christlichen Überzeugung wahrlich nicht hinter dem Berge hielt. Noch vor kurzem mußten die sogenannten fortschrittlichen Christen es erleben, daß er, bei aller Sympathie für ihr Wollen, keineswegs mit ihrem von der Kirche abführenden Weg einverstanden war. Mounier wußte immer abzugrenzen, ohne abzutrennen; er sah seine Aufgabe darin, Teilwahrheiten wieder zusammenzufügen und alten Wahrheiten den ihnen umgehängten Mantel „wie ich es auffasse“ herunterzureißen. Aber eben weil zu dem allem nur eine starke „in Gott ruhende“ Persönlichkeit fähig ist, läuft seine per-sonalistische Philosophie stets Gefahr, von weniger starken Charakteren mißbraucht zu werden; eine Gefahr, die er im übrigen selbst sehr genau kannte. Wie dem aber auch sei; „Je suis ici, et je suis tel: j'aj lutte contre le pharisai'sme, les illusions de l'amour propre, les plus subtiles lachetes; si je n'ai pas accepte le com-promis, je n'ai pas refuse mes donnees; peut-etre puis-je commencer ä offrir un etre consistant au ministere du Christ.“ „Ich stehe hier und bin der: ich habe gegen das Pharisäertum, gegen die Illusionen der Eigenliebe, gegen die listigste Feigheit gekämpft; wenn ich keinen Kompromiß eingegangen bin, habe ich meine Grundsätze nicht verleugnet; vielleicht kann ich beginnen, ein Wesen, das Bestand hat, dem Dienst Christi zu weihen.“

Mit freundlicher Genehmigung der Redaktion der „Schweizer Rundschau“.

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