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Das alte Spiel vom „Jedermann“

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Dieser 1912 geschriebene Essay ist in dem von S. Fischer herausgegebenen Büchlein „Festspiele in Salzburg“ von Hugo von Hofmannsthal erschienen. Seine aufmerksame Lektüre kann allen Kritikern des Salzburger „Jedermann“ bestens empfohlen werden.

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Dieser 1912 geschriebene Essay ist in dem von S. Fischer herausgegebenen Büchlein „Festspiele in Salzburg“ von Hugo von Hofmannsthal erschienen. Seine aufmerksame Lektüre kann allen Kritikern des Salzburger „Jedermann“ bestens empfohlen werden.

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Die deutschen Hausmärchen, pflegt man zu sagen, haben keinen Verfasser. Sie wurden von Mund zu Mund weitergegeben, bis am Ende langer Zeiten, als Gefahr war, sie könnten vergessen werden oder durch Abänderungen und Zutaten ihr wahres Gesicht verlieren, zwei Männer sie endgültig aufschrieben. Als ein solches Märchen mag man auch die Geschichte von Jedermanns Ladung vor Gottes Richterstuhl ansehen. Man hat sie das Mittelalter hindurch an vielen Orten in vielen Fassungen erzählt; dann erzählte sie ein Engländer des 15. Jahrhunderts in der Weise, daß er die einzelnen Gestalten lebendig auf eine Bühne treten ließ, jeder die ihr gemäßen Reden in den Mund legte und so die ganze Erzählung unter die Gestalten aufteilte. Diesem folgte ein Niederländer, dann gelehrte Deutsche, die sich der lateinischen oder der griechischen Sprache zu dem gleichen Werk bedienten. Ihrer einem schrieb Hans Sachs seine Komödie vom sterbenden reichen Mann nach. Alle diese Aufschreibungen stehen nicht in jenem Besitz, den man als den lebendigen des deutschen Volkes bezeichnen kann, sondern sie treiben im toten Wasser des gelehrten Besitzstandes. Darum wurde neuerlich versucht, dieses allen Zeiten gehörige uai allgemeingültige Märchen abermals- in a(Bescheidenheit.,ufaur zeichnen. Die englische Fassung kam mir vor mehreren Jahren in die Hände. Der Eindruck war rein und groß, die Lust unbedingt, dieses Werk dem deutschen Repertorium einzuverleiben, in einem gedachten idealen dramaturgischen Verhältnis, in welchem sich jeder mit dem Theater verknüpfte Dichter zeitweilig fühlen mag. Zur einfachen Uebertragung schienen die Reden des englischen Originals zu weitschweifig; nur in der treuherzigen Wesentlichkeit der alten Sprache war dergleichen möglich; bildete man so Zeile für Zeile nach, so wäre, wie beim Nachschnitzen einer alten Holzskulptur, den flächigen Zeilen etwas Leeres, Totes geblieben. Trug man, mit vergehenden Jahren, das Wesentliche dieses dramatischen Gebildes stets in sich, zumindest im Unterbewußtsein, so regte sich allmählich Lust und Freiheit, mit dem Stoffe willkürlich zu verfahren. Sein eigentlicher Kern offenbarte sich immer mehr als menschlich absolut, keiner bestimmten Zeit angehörig, nicht einmal mit dem christlichen Dogma unlöslich verbunden: nur daß dem Menschen ein unbedingtes Streben nach dem Höheren, Höchsten dann entscheidend zu Hilfe kommen muß, wenn sich alle irdischen Treu-und Besitzverhältnisse als scheinhaft und löslich erweisen, ist hier in allegorisch-dramatische Form gebracht, und was gäbe es Näheres auch für uns? Denn wir sind in der Enge und im Dunkeln, in anderer Weise als der mittelalterliche Mensch, aber nicht in minderem Grade; wir überschauen vieles, durchblicken manches, und doch ist die eigentliche Seelenkraft des Blickens schwach in uns; vieles ist uns zu Gebote, aber wir sind keine Gebieter; was wir besitzen sollten, das besitzt uns, und was das Mittel aller Mittel ist, das Geld, wird uns in dämonischer Verkehrtheit zum Zweck der Zwecke. Die neuere Zeit sieht mit einem anderen freieren gültigeren Blick auf den „Mammon“ als die alten frommen Zeiten. „Ist nicht das Geld zum Beleben da?“ fragt Novalis, aber es ist ein Jahrhundert seitdem hingegangen und das Verhältnis zu diesem Dämon hat sich wiederum verdunkelt und verworren. Dieses Verhältnis durchzieht und durchsetzt alle übrigen des Daseins und es ist erschreckend, bis zu welchem Grade es sie alle bestimmt. Durchdenkt man dieses Grundverhältnis des Lebens, das Verhältnis des Menschen zum Besitz, mit dem Denken der Phantasie, das zugleich gestaltet und auflöst, so löst sich der Kern des

Jedermannmärchens in einen lebensvollen Nebel, trächtig mit Gestalten, aber im Mittelpunkt bleibt die Allegorie des Dieners Mammon, der ein verlarvter Dämon und stärker als ein Herr ist, und sich als den Herrn seines Herrn offenbart. Eine Allegorie dieser Art hat nichts Kaltes; es ist in der Idee des Dramas, das zerfließende Weltwesen in solcher Art zu festen Gegensätzen zu verdichten. Es ist die Gefahr und der Ruhm unserer Zeit, an deren Schwelle der greise Ibsen steht, daß wir weit genug wiederum sind, uns im Allegorischen bewähren zu müssen.

Der Anreiz, aus den Grundmotiven des alten Spieles, verlarvt bis zur Unkenntlichkeit, ein neues Gebilde hervorgehen zu lassen, war jahrelang mächtig und vielleicht habe ich kein Recht, ihn für abgetan zu halten. Doch überwog am Ende ein anderer Trieb, der gleich mächtig ist im Menschen: für schön Erkanntes rein aufzufassen und wiederzugeben, fremden Gebild sein Lebensrecht zu wahren und hinter sich wie vor sich, zur Rechten und zur Linken nach dem Spruche zu handeln; daß dem, der hat, noch gegeben werden soll. Ist man älter und noch nicht alt, so stellt sich eine besondere Art von innerlichem Jungsein ein, das doch dem Jungsein' : der': völlig. Jungen nicht: gleich' • ist. Diese Jugend der Lebensmitte ist ntit; einer besonderen Kraft begabt, das Eigentliche, Wesenhafte fremder Existenzen zu erkennen und sich nicht duldsam, sondern wahrhaft freudig und genießend dagegen zu verhalten. In einer solchen Verfassung mag man den Mut fassen, ein Altes wahrhaft wieder ins Leben zu rufen; gewähren lassen ohne Einmischung, wiederherstellen ohne Willkür erscheint möglich. Handelt es sich zudem um ein Werk des eigenen oder eines nach Art und Gesinnung unvergleichlich nah verwandten Volkes, so werden geheime Kräfte von innen heraus lebendig, ein Volksgefühl, ein Instinkt volksmäßiger Führung im Innersten wirksam. Man fühlt sich hinabgestiegen in einen Brunnenschacht und sieht die Sterne wahrhaftig über sich blinken, die für andere, oberhalb wandelnd, wahrhaftig nicht am Himmel stehen; hier hilft kein Streit: das Leben ist doppeltblickend und zweideutig, im tiefsten aber ist Einheit und Beruhigung und daran riiuß man sich halten Immerhin gibt es des Zweifelhaften und Bedenklichen genug bei solchem Tun. Entäußert man sich gerne höchst scheinhafter und zweifelwürdiger Besonderheiten, so wollte doch keiner seinen Schatten verkauft haben, in dieser Welt, wo auf partikuläres Schattenwerfen soviel gehalten wird. Unter solchen gelegentlichen Bedenken geriet mir der Brief eines seit Jahren abwesenden, aber durch steten geistigen Anteil verbundenen Freundes in die Hände und wirkte erfreulich und beruhigend. „Ich darf Ihnen heute“, hieß es darin, „manchen alten Groll abbitten, verständigen wohl auch, aber auch wieviel unverständigen! Und Ihnen rundheraus sagen, daß ich es schön, natürlich und nützlich finde, wenn Sie einmal oder eine Zeitlang solche Sachen arbeiten. Was ich darin dem Geiste nach begrüße, ist der freie Stolz, menschlich zu sein, dem nur die wahre Größe zugänglich und die selbstische Affengröße, die sich den ganzen Tag die Hände wäscht, um ja rein zu bleiben, auf ewig feind ist. Sie haben in diesen letzten Jahren, in denen es so gar kein Auskommen mit Ihnen zu sein schien, einfach in der Stille die sublimste Moral des Theaters begriffen, die darin besteht, nur Demütige zu krönen und seinen goldensten Kranz dem größten Opfer aufzubehalten, den Dichter auf genau dasjenige zu reduzieren, was er mit dem Publikum, diesem unkritisierbaren Repräsentanten der uralten wahren großen Menschheit gemeinsam hat und von ihm die Entscheidung im Werke zu erzwingen, ob, was er mit diesem Mob in Logen, Mob auf der Galerie, Mob im Stehparterre, an Menschlichem teilt, nun das Höchste ist, was mit ihm geteilt werden kann oder das Niederste, Faust oder Kotzebue, Weltgedicht oder Melodram, Götterdämmerung oder lustige Witwe, Romeo und Julia oder Charleys Tante. Das Theater übt auch am Größten, der mit ihm zu tun haben will, dieselbe unerbittliche und, wie ich glaube, großartig sittliche Zucht wie die Liebe, sie akzeptieren keine Sonderfälle; beide postulieren den Größten wie den Kleinsten vorerst als gesellige Person und dulden keine Würde; beide zeigen dem Individuum und dem Original die Grenze seines Hochmutes und seines Rechtes auf Eigenleben und machen, ihn, di? heilsame Lehre begreifen, daß es gar nichts heißen will, in demjenigen besonders'zu sein, worin man sich von der Menschheit unterscheidet, daß das einzige Kriterium der Größe in der Art und Mächtigkeit dessen liegt, was man mit der ganzen Menschheit teilt.“ Aeußerungen dieser Art zielen auf das Höhere und Allgemeinere und idealisieren oder verallgemeinern das Individuum, an das sie gerichtet sind und an dessen Wirken sie mit freundlichem Anteil anknüpfen. Doch entsteht aus der Uebereinstim-mung einer solchen Aeußerung mit eigenen hellklaren Erwägungen ein Gefühl der Beruhigung und Bekräftigung.

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