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Freiheit in unbestimmter Zeit

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ln Beethovens „Fidelio" hören wir gegen Ende des ersten Aufzugs den Chor singen: „O Freiheit! Kehrest du zurück?“ Der Ruf verrät: Die Freiheit ist weg. Die Strophe birgt die Gretchenfrage an die Gegenwart: „Nun sag, wie hast du's mit der Freiheit?... ich glaub’, du hältst nicht viel davon.“ Die Oper, die in Salzburg 1970 festlich auf geführt wurde, ist mit Wirklichkeit zum Bersten gefüllt ...

Der Chor, das ist nicht eine irgendwie zusammengetriebene Menge, das ist das an Ort und Stelle im Augenblick versammelte Menschengeschlecht: Seit der antiken Tragödie, seit Aischylos, Sophokles, Euripides ist im Chor das Volk präsent; er nenn die Sache, die zur Frage steht, und wirkt solchermaßen am Ereignis mit, das auf dem Markt der Polis geschieht. In „Fidelio“ tritt der Chor als Versammlung von Gefangenen auf. Das hat unerhörte sinnbildende Kraft: Die Gefangenen sind wir, die Heutigen. Dichter, Künstler sehen über Zeit und Raum hinaus, in die Allgegenwart hinein. Unsere Zeit ist nicht für die Freiheit gestimmt, ebensowenig wie etwa einst Rom zu Cäsars Tagen, wo das Volk Brutus einen Narren, Verräter, bestenfalls einen Träumer schalt; ihn einen Retter der Republik, der gescheitert war, zu preisen, kam dem Volk nicht in den Sinn: an Freiheit statt nahm das Schicksal auf dem Forum Quartier. Heute wird, verwandt, das Ende der Freiheit angesagt.

Meine Ansicht ist das nicht! — Das bekunden viele illustre Köpfe unserer Zeit. Doch nehmen wir vorher gleichsam eih Konzert der Stimmen Über die Freiheit in Stereo auf.

Zur Prüfung der Anlage zuerst der Seitentest links:

Max Horkheimer überschreibt die Schlußbetrachtung seiner „Kritik der instrumentalen Vernunft“ (Frankfurt a. M.: S. Fischer 1967) mit den Worten: „Bedrohung der Freiheit“, beschreibt, wie die Freiheit des einzelnen schwindet, und schreibt: „Unter den Erscheinungen des Rückgangs der Freiheit... scheint mir der Übergang der Subjektivität vom einzelnen aufs Kollektiv, auf Clique, Fachschaft, Partei, Nation entscheidend zu sein... Das Überqueren einer Straße war um 1900 Angelegenheit der Person ... Heute blicken zwanzig, dreißig Augenpaare auf die Ampel oder auf den Schutzmann und gehorchen dem Befehl.“ Die gegenwärtige Entwicklung bedeutet, „selbst wenn sie anstatt zu Katastrophen zur weiteren Sicherung, Rationalisierung, Vermehrung des Konsums pro Kopf der Bevölkerung führen sollte, den entscheidenden Rückgang des einzelnen“. Darauf schlägt Horkheimer mit dem Hammer zu: „Bei der problematischen Beschaffenheit der Individuen ist es durchaus möglich, selbst noch einen solchen Rückgang wünschenswert zu finden.“ Das ist hart! Ist es wahr?

Es folgt der Seitentest rechts:

Ernst Forsthoff, einer der Wortführer der deutschen Staatsrechtslehre der Gegenwart, spricht es einfach aus: „Es sieht nicht gut aus mit der Zukunft der Freiheit. In der Tat ist es einigermaßen ungewiß, ob die Freiheit im allgemeinen Bewußtsein noch den früheren hohen Rang einnimmt ...“ („Verfassung und Verfassungswirklichkeit der Bundesrepublik“, Merkur XXII 5, Mai 1968, 241 S. 413).

Nun, zur Einstellung der Balance,

Mitte:

Im Artemis-Verlag, Zürich, erschien heuer von Wolfgang Binder ein Bändchen des Titels: „Das Bild des Menschen in der modernen deutschen Literatur.“ Da steht zu lesen: „Die Freiheit wird immer fragwürdiger und die Wirklichkeit immei mächtiger ... Die Macht der Verhältnisse wird in Rechnung gestellt, unc der Freiheitsverlust wird nicht blo£ verdammt... Es gibt kein Indivi duum ...“ Binder fährt fort, das Subjekt „verantwortet sich im Horizont des kollektiven ,Man‘... hat, mit einem Wort den Sinngeber an die Gesellschaft delegiert, und das ist, so merkwürdig es klingen mag, ein Akt der Freiheit, einer mißbrauchten freilich“ (S. 17 f., 36, 21). Die Franzosen sagen: Celui qui dėlėgue abdique.

Gesamtergebnis: Freiheit in unge- stimmter Zeit! In ungelegener gar? Aber der Chor der Gefangenen singt unverdrossen: „O Freiheit! Kehrest du zurück?“

Auf dem Weg, den wir von Beethoven aus genommen haben, begegnen wir unwillkürlich Friedrich Gulda: Die Wiener Staatsakademie prügelt er, uns allesamt meint er, fürchte ich, sich eingeschlossen, hoffe ich. Der Gegenwart wird kurz und bündig das Vermögen, Beethovens revolutionäre Botschaft zu vernehmen, streitig gemacht.

Die Freiheit hat den Kurs verloren, in beiderlei Sinn: Wir geben für sie wenig oder nichts, und niemand weiß, wohin es geht.

Nein, ganz so ist es nicht. Freiheitsdämmerung wohl, allein, es dämmert der Abend, es dämmert der Morgen. Gehen wir, in Gedanken, den Weg zurück, auf dem wir in das Heute getreten sind. Das Wort „Freiheit“ bewahrt etwas von seinem Zauber allezeit.

II.

Die Freiheit begleitet den Menschen von Anfang an, in mythischer Zeit, wie beim Eintritt in die Epoche der Rationalität. Haben wir je geforscht, warum der Gott, bei dem der Mensch sich Rat holt, zweideutig antwortet? Weil es ihm an Leuchtkraft gebricht? Kaum, er ist der Inbegriff der Klarheit: einfach Licht. Fehlt dem Menschen die vernehmende Kraft? Auch das nicht. Der Mensch versteht sich als zöon lögon (noün) ėchon, als Wesen mit Vernunft. Das ist sein ganzer Stolz. Woher mithin die Doppelsinnigkeit des göttlichen Spruchs? Daher, daß der Gott dem Menschen Zeichen gibt, ohne ihm die Freiheit als Vermögen der Unterscheidung noch als das der Entscheidung zu nehmen. Heraklit berichtet vom Herren, dem das Orakel zu Delphi gehört: oüte lėgei oute kryptei, allä semainei, er sagt nichts und birgt nichts, sondern gibt Zeichen (Fragment 93). In einem anderen Fragment lehrt Heraklit: physis krypte- stai phil&i, das Sein liebt es, sich zu verbergen. Wie soll der Krieger, der ins Feld zieht, einen uns überlieferten Spruch lesen? So: Ibis redibis — nümquam peribis in bello? Du wirst gehen, du wirst heimkehren, nimmer wirst du im Krieg verderben? Oder so: Ibis redibis numquam, peribis in bello? Du wirst gehen, wirst nimmer heimkehren, du wirst im Krieg verderben? Den Beistrich, die Betonung an die rechte Stelle setzen: das ist Menschensache. Antwortete das Orakel eindeutig, was ist der Grund der Freiheit, ihr logos zerginge ohne jeglichen Rest. Keine Macht des Alls spricht den Menschen von der nämlichen Kompetenz los. „Immer existiert der Mensch in der Entscheidung, und auf der Schwelle der Entscheidung wacht die Unterscheidung“, dichtet Dante Alighieri in der „Göttlichen Komödie“ („Läuterungsberg“ XVIII 62). Unterscheiden wie Entscheiden, Deuten der Zeichen wie Handeln danach, das steht ausschließlich dem Menschen zu. Ūbi optio, ibi libertas: In Abwesenheit def Alternative bleibt die Freiheit aus. Heraklit spielt nicht auf die List des Seins an, wie Heidegger ihn zu verstehen sucht; vielmehr setzt Freiheit ontologisch die tückische Struktur der Wahrheit voraus. Das Dasein des Menschen erweist sich als Feld, das jeder Bestellung offensteht. Freiheit zählt als Last, nicht als Lust. Jean Paul Sartre geht so weit, zu behaupten, wir seien zur Gottlosigkeit verurteilt, ver dammt zur Hölle in alle Ewigkeit. Was Wunder, wenn dem Menschen die Freiheit, so er sie hat, nicht geheuer ist? Immer ist er bereit zum Sprung in die Knechtschaft. Nichts zerbricht leichter als der Freistaat. Die Freiheit drückt.

III.

Allein, stimmt das Entweder-Oder? Die Antike kennt neben der moira den nömos, neben dem fatum die lex, auf deutsch: neben dem Schicksal das Gesetz: Dieses, nicht jenes ist das Prinzip der Wirklichkeit der Welt. Mögen der Kosmos und die Götter die höchste Gesetzgebung sich Vorbehalten, die Gesetzesvollziehung obliegt dem Menschen, der das nämliche Gesetz vollziehend selbst neue Gesetze schafft. Freiheit ist im Grunde dies: An der Gesetzgebung des Seins wirkt der Mensch mit. Werker und Mitwirker an den Geschehnissen der Welt heißt der Mensch in Heraklits 75. Fragment. Oswald Spengler vergreift sich am Leitstern, wo er Senecas Worte wählt: „Ducunt vollentem fata, nollentem trahunt (Ep. 107, 11). Der Mensch vermag unermeßlich viel.

Im geistigen Dom des Hochmittelalters, dessen Kuppel Thomas und Dante baut, nehmen die Weltlichkeit der Welt gegen den Himmel und die Dignität des Menschen, egegen die Majestät Gottes einen so weiten Raum ein, daß uns der Atem stockt, wenn unser Auge darauf fällt. In einem Satz: Die Freiheit des Menschen setzt der Macht Gottes wirksame Schranken, dergestalt, daß nicht einmal Seine Gnade es vollbringt, den Willen des Menschen zu bewegen, wenn dieser nicht will. Gott und Mensch stehen gleichsam als paritätische Freiheitsgrößen einander gegenüber: einander begegnen sie magna cum reverentia. Wie der Gedanke, so brisant war der Widerstand, den Duns Scotus, Wil helm von Ockham, Luther und Calvin dagegen erhoben, die Gottes Größe um der Nichtigkeit des Menschen willen zu retten trachteten. Nicht minder war der Widerspruch derer, die Gott töteten, um die Größe des Menschen zu behaupten.

Allein, wir fragen abermals, stimmt das Entweder-Oder? Nein, so geht die Rechnung nicht auf: Freisein als Alleinsein steht der Mensch länger nicht durch; nach einer Weile gibt er es gerne her.

IV.

Das am Anfang des Gedankenweges gegebene Versprechen lösen wir am Ende ein. Die negatorische Selbstbestimmung füllt das Wesen der Freiheit nicht aus; daneben waltet ebenbürtig Freiheit als aktive Mitbestimmung des Freien an dem, was mit ihm geschieht: ein Aspekt, den es wieder herauskehren heißt. Die Athener und Römer hatten ihn einst derart nachhaltig betont, daß das romantische und liberale 19. Jahrhundert allen Ernstes meinte, die Alten hätten von Freiheit nichts gewußt. In dem Maße, wie das vorige Jahrhundert unser Meister ist, neigen wir dazu, den Untergang der Freiheit zu gewahren. Beethoven hatte längst die demokratische

Weise der Freiheit ins Tonwerk gesetzt: „Die Liebe wird im Bunde mit Mute dich — mich befreien“ — werden wir im zweiten Aufzug hören (4. Auftritt). Hätte Leonore nicht Hand angelegt, nie wäre es ihr gelungen, Florestan „aus Ketten zu befreien“ (II 8), ihn „zur Freiheit ins himmlische Reich“ zu führen (II 1). Es gilt eine Seite des Freiseins, die nur im Mitsein erscheint Frei ist, wer am Zustandekommen der Ordnung mitwirkt, die ihn birgt, mitwirkt an ihrer Entfaltung, Änderung wie an der Beseitigung, ist die Zeit erfüllt Die Methode, wie solch eine

Ordnung, welcher Art immer, unter Mitwirkung der Ordnungsgenossen hergestellt wird, heißt von alters her „demokratisch“; sie ist mitnichten auf den Bezirk des Politischen eingeschränkt obschon der Fachausdruck aus dieser Gegend kommt. Viele, ungezählte Grundwörter des okziden- talen Kulturkreises in Philosophie, Theologie, Medizin, Musik, Naturwissenschaft stammen aus der Welt des Staates und des Rechts. Es erweist sich als durchaus legitim, im ganzen Lebensstil, in allen Lebensbereichen des Menschen von einer fortschreitenden Demokratisierung zu sprechen: als einer erwünschten Tendenz. Die Stunde dieser Art von Freiheit hat nicht geschlagen! Im Gegenteil, ihr gehören Gegenwart und nahe Zukunft, wenn anders der Mensch bestehen soll.

Wenden wir den Blick zum griechischen Nomos, zur römischen lex, zum ewigen Gesetz zurück, das den Weltraum regiert: Können wir uns den Gesetzgeber vorstellen ohne den Menschen, der das Gesetz vollzieht

— innerhalb der Abmessung, die es zum Vollzug beläßt, nach freiem Ermessen, in eigener Verantwortung? Und das Gesetz gibt es nicht, das der Freiheit der Verwirklichung kein Feld öffnete. Was abstrakt ist, vollbringt den Sinn konkret. Der Mensch als Legis executor konstituiert die Legis latio: die Rechtskraft des Gesetzes mit. Im Wort „Gesetz“ schwingt — nicht im Wort „Schicksal“— dies allemal mit: Freiheit als Beteiligung des Menschen am Geschehen, das ihn greift. Politische Freiheit, der Prototyp des Phänomens Freiheit gibt sich als das institutioneil garantierte Maß zu erkennen, in dem der Mensch mitwirkt am Entstehen, Wachsen und Vergehen der Rechtsordnung der Gemeinschaft, worin er lebt: Freistaat, Rechtsstaat, Demokratie, sie sind einfach eins. Frei ist, wer Partei ist im eigenen Prozeß; frei bin ich, wenn keine Macht der Welt über meinen Kopf hinweg entscheidet, was mich betrifft: Je kritischer, mündiger, heller der Mensch, je öffentlicher die nämliche Entscheidung her geht, desto schwerer wiegt die Freiheit, die mein eigen ist — das ist der hintergründige Aspekt dessen, was Rätedemokratie heißt: Macht von unten nach oben, genossenschaftlich gebaut — und abgebaut

Die Grund- und Menschenrechte gehen nicht mehr in der klassisch-liberalen Form der individuellen Abwehrrechte wider staatliche Macht auf. Wer darin verharrt, verschreibt sein Herz der Romantik. Grund- und Menschenrechte nehmen zudem kollektive Gestalt an, gewinnen sozialen und kulturellen Gehalt, erscheinen als rechtmäßige Ansprüche auf Leistungen der Gemeinschaft deren Glied ich bin. Dem nützt ein Grundrecht wenig, der seitab geistig oder körperlich verendet. „Habt ihr die Blöße bedeckt, gibt sich die Würde von selbst“, (Schiller). Gleichermaßen arm dran ist, wer sich zwar vor der öffentlichen Gewalt zu schützen weiß, aber ein Freiwild wird anderer Mächte, die nach ihm langen. Rechtsstaat, Sozial- und Kulturstaat sind einfach eins.

Weder die Natur noch der Staat sind die einzigen Mächte, die uns gegenüberstehen. Mächtiger sind die übrigen Mächte, die Mächte der Gesellschaft deren Zahl wächst und wächst. Man denke an die Technik, die Technokratie, an gesellschaftliche oder genetische Manipulation. Die Macht als Macht, in ihrer Entfaltung total emanzipiert, bedroht die Freiheit, die Freiheit als Selbstbestimmung, die der Kem der Freiheit als Mitbestimmung ist. Wir haben die Kraft, die Gefahr zu bannen, so wir die Freiheit als Mitbestimmung in Anschlag bringen und verhindern, daß irgend etwas um uns geschieht Ohne uns.

Wie Orpheus und Euridike, so bilden diese und jene Freiheit ein unzertrennlich Paar. Orpheus hat sie verloren, aber er hat sie wiedergefunden, wenn auch in anderem Gewand.

Zum Verzagen treibt kein Grund. Uns steht es an und zu, die Zeichen des Orakels zu deuten. Der Mensch ist am Zug. Um die Freiheit ist es mitnichten schlecht bestellt, nur heißt es, die Zeit für die Freiheit fein stimmen. Schon eilt Leonore herbei:

„Nie wird es zu hoch besungen, Retterin des Gatten sein.“

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