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Utopie und Theater

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Die Welturaufführung von Priestlcys Zeitstück „Schafft den Narren fort“ im Wiener Burgtheater hat im Publikum eine starke Resonanz gefunden. Teilnahme, Erstaunen und Befremden mischen sich hier. Viele Besucher ■ fragen; Was steckt hinter diesem merkwürdigen Stück? Unsere Skizze versucht, die große fegfecjfe Tradition aufzuzeigen, die hinter diesem „revolutionären“ Versuch steht.

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Die Welturaufführung von Priestlcys Zeitstück „Schafft den Narren fort“ im Wiener Burgtheater hat im Publikum eine starke Resonanz gefunden. Teilnahme, Erstaunen und Befremden mischen sich hier. Viele Besucher ■ fragen; Was steckt hinter diesem merkwürdigen Stück? Unsere Skizze versucht, die große fegfecjfe Tradition aufzuzeigen, die hinter diesem „revolutionären“ Versuch steht.

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Auf den ersten Blick besehen, scheinen Utopie und Theater sich entgegenzukommen, ja nicht selten zu vereinen: Führen sie nicht beide in ein „Niemandsland“, in eine „Welt des Scheines“, des Wunsches, des Traumes, stellen uns Gebilde des Herzens und Geistes vor: so soll der.Mensch sein, so ist er bisweilen, so soll er sein in einer „schöneren Zukunft“, so war er in „einer guten alten Zeit“, in einem verlorenen Paradies? — Wer jedoch etwas näher hinsieht, bemerkt sofort, daß Utopie und Theater zumeist in ganz anderen Zonen des menschlichen Schaffens beheimatet sind und daß es außerordentlicher, besonderer Bedingungen bedarf, sollen sie sich treffen,, wie. nicht selten in unserer Zeit, wie zumal in Priestleys, „Schafft den Narren fort“.

Die „Utopie“ weist durch ihren Namen au,f ihr •uropäisches Ursprungsland hin: auf Griechenland, *u£ die Spätantike, auf den Hellenismus, der die erste Glanzzeit des utopischen Romans war. Diese Epoche der Diktatoren, der Bürokratien, der Korruption, gelehrter musealer Interessen, eines raffinierten Luxus und einSs; damit verbundenen Stoffhungers gebildeter Leserschichten, diese Zeit der Prediger, Weltverbesserer und Literaten, verelendeter Großstadtmassen, sektiererischer Kleinkirchen und übergroßer Staats-v,irtschaften, die „Liturgien“ hießen im hellenistischen Aegypten, dem Sammelpunkt vieler utopischer Produktionen, schuf den Boden, auf dem die für Europa bis ins 18. Jahrhundert Bedeutung gewinnenden utopischen Romane wuchsen: seltsame Kinder der Spekulation auf Neugier und Sehnsucht, auf das Bedürfnis, einer tristen Gegenwart zu entfliehen, in der die1 politischen Machthaber weder den breiten Masseh noch den gebildeten Einzelnen eine Mitwirkung bei der Gestaltung der politischen Verhältnisse, beim Entscheid über Krieg und Frieden gestatteten. Die Utopie verdichtete da sehr verschiedene Elemente: Reiseberichte aus fernen Ländern, uralte Mythen, das Sagengut der Mittelmeerwelt, und eben gelehrte und literarische Spekulationen, die sich nicht ganz selten in die Sphäre des Schlüsselromans begab. Dieses letztere Moment ist vielen Utopien auch späterer Zeiten treu geblieben: die Utopie, die scheinbar im Niemandsland spielt, in einer fern-fernen Zeit, spiegelt doch Gegenwartszustände, die ihr Autor glossieren, brandmarken, enthüllen will in ihrer Grausamkeit und menschenunwürdigen Schändlich keit. Das bezeugt bereits die „Utopia“ des Thomas Morus, jenes Werk, das in Europa dem ganzen Genre den Namen gab. Der große englische Staatsmann und Humanist ließ bekanntlich seine „Utopia“ anonym auf dem „Kontinent“ erscheinen (1516 in Löwen, 1517 in Paris, 1518 in Basel): Er protestiert hier gegen den neuen fürstlichen Absolutismus, gegen die neue englische Raubwirtschaft des Adels, der den Bauern das Land nimmt, um es in riesige Schaf-züchtdomänen zu verwandeln. Vor allem aber wendet er sich gegen die Kriegspolitik der „christlichen“ Fürsten Europas. Morus schreibt in einem Moment, in dem zunächst einmal Westeuropa sich in hundertjährige Konfessionskriege und Bürgerkriege stürzen wird. Das ist also schon an der ersten großen englischen Utopie so charakteristisch: sie besitzt sehr starke politische Intentionen, „politisch“ im Hochsinn des Wortes verstanden, gerichtet auf eine Enthüllung makabrer zeitlicher gesellschaftlicher Verbältnisse, und stellt diesen, scharf kontrastierend, eine andere, neue, bessere Welt vor. Es ist nicht uninteressant, von unserer Gegenwart und von Priestley her besehen, wie sich der englische Humanist Morus, der Freund des Erasmus von Rotterdam und seiner europäischen Friedensidee, ein Mann, der als Bekenner' seines. römisch-katholischen Glaubens gegen Heinrich VIII. stirbt, sein „Utopia“ vorstellt. Dieses Utopia ist ein Idealstaat, der auf Plato, Epikur, Erasmus und dem joachimitisch-franziskanischen Mänchstaatsutopismus, der in England bereits in Roger Bacon einen Vertreter gefunden hatte, fußt, und ein ' agrarkommunistisches Regime errichtet hat, das an totaler Planung und sakralem Terror von keiner politischen Ideologie bis heute übertroffen wurde. Es ist eben kein Zufall, daß Sozialisten und Kommunisten des 18. bis 20. Jahrhunderts sich Immer wieder auf dieses Werk des englischen katholischen Kanzlers berufen werden, und gerade auch die Männer des „utopischen Sozialismus“, deren späte Enkel und Erben ja Shaw und Priestley sind...

Hundert Jahre nach Morus verfaßt ein anderer englischer Kanzler, Francis Bacon, seine Utopie und nennt sie „täeu-Atlantis“ (1620). Bacon, bekanntlich mehrfach mit Shakespeare „identifiziert“, als dessen Hintermann erachtet, macht uns darauf aufmerksam: Im nüchternen England.ist das Dichten von Utopien ein wahrhaft königlicher Beruf, so wie der des „königlichen Kaufmanns“: gilt es doch, das Wesen des Menschen abzuhandeln und, in leichter, gelassener Form, jenseits der Velleitäten und Irasci-bilitäten der engeren Tagespolitik, das Geschäft des Menschen in Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft recht deutlich vorzustellen: eben in den Bildern der Utopie. Bacon stellt da seinen Zeitgenossen als Idealstaat ein auf den Salomoninseln zentriert gedachtes Reich vor, das von einer Art weltlicher Päpste regiert wird. Es sind Päpste eines neuen Weltreiches, das sein Ziel in der Erkenntnis;der Naturgesetze und im Ausbau der menschlichen Herrschaft über die Welt sieht. In Parenthese: Priestleys „Projekt“, als Synthese von Naturwissenschaft und Kosmosherrschaft, entspricht noch genau diesem Plan. — Ambulatorien und Versuchsanstalten, Papierfabriken, Webmaschinen, Obstplantagen, Züchtereien, Hochöfen, Maschinenhäuser, Flugmaschinen, U-Boote — das alles 1620 im barocken Entwurf Bacons — rüsten hier „das keuscheste Volk der Erde“, das sich nicht genugtun kann, über die „Ausschweifungen Europas“ zu klagen, aus, die Welt in seinem Sinne zu missionieren. Unwissentlich und unfreiwillig verrät hier Bacon ein Geheimnis vieler Utopien und Utopisten, das Priestley in seinem Werk durchschaut: sie alle wollen die „unvollkommene Welt säubern, reinigen“ und vernichten, liquidieren deshalb den Menschen, der sich in ihre Regeln und Reinheiten nicht einpaßt. Alle Utopien, alle Totalitären, alle Totalstaaten verfolgen die Liebe — diese „unordentliche, unsaubere“ Leidenschaft, die alle Rechnungen stört, die immer wieder verhindert, daß der Mensch total gleichgeschaltet wird, sich vollkommen einfügt in die Rechnungen der großen Pläne. Bei Bacon wird bereits jenes große, gefährliche puritanische Element sichtbar, das Priestley heute angreift. Bekanntlich ist die Literatur und Dichtung im ganzen, angloamerikanischen Raum undenkbar ohne diese • stete, durch die Jahrhunderte gehende intensive Auseinandersetzung mit dem puritanischen Erbe. Es ist eben kein Zufall, daß der Engländer Priestley als Repräsentanten des M e n s c h-liehen, als des Liebenden, Franzosen und Polen wählt, als Repräsentanten des kalten Intellekts, des Säuberungswillens, der „reinen Wissenschaft“,Angloamerikaner und auch Deutsche ... Die totale „Säuberung“ der Menschheit von allen „unordentlichen“ Leidenschaften, Neigungen und Begierden stellt dann der Puritaner Samuel Gott in seinem „Neuen Jerusalem“ von 1648 (diese Utopie wird, sehr charakteristisch, bis 1902 dem großen puritanischen Dichter Milton zugeschrieben!) dein revolutionären England vor. In derselben Zeit aber arbeitet, nach zwanzigjähriger Vorbereitung, James Harring-ton seine „Oceana“ aus. Eine wissenschaftlich fundierte Utopie eines neuen Staates, die von wirklich weltgeschichtlicher Bedeutung geworden ist. Harring-ton untersucht hier unter anderem die inneren Zusammenhänge zwischen Macht, Herrschaft und Eigentum und erarbeitet zum erstenmal die für alles Wissen um Politik fundamentale Erkenntnis: Die Verteilung der politischen Macht folgt auf die Dauer der Verteilung des Eigentums. Revolutionen können sich nur halten, wenn grundlegende Aenderungen der Eigentumsverhältnisse geschaffen werden. Die „Oceana“ bestimmt wichtige Züge in der Verfassung mehrerer amerikanischer Staaten bis zur Gegenwart und wurde über Sieyes als Hauptautor der Verfassung des Jahres VIII, der ersten dauerhaften bürgerlich-liberalen Verfassung der französischen Revo-lutionsepoche, zu einer Grundlage der französischen Verfassungen bis heute. Hier, bei Harrington, wird in monumentaler Form ein Grundanliegen der englischen Utopien sichtbar: Sie sind weit weniger Dichtungen als sehr ernst zu nehmende Versuche, politisch zu wirken, die gesellschaftlichen Verhältnisse zu beeinflussen, zu ändern, die Zeitgenossen in Wissen und Gewissen aufzurufen zu reformerischer, bisweilen zu revolutionärer Tat.

Auf dem „Kontinent“ verflacht im allgemeinen die Utopie schnell in Romanen und in der „Unterhaltungsliteratur“, eine Ausnahme bildet nur Frankreich, wo sie im 17. und 18. Jahrhundert eine Blütezeit erlebt, angereichert durch das politische und erzieherische Interesse der Aufklärung. In Deutschland dringt die Utopie, die meist in professoralen Nachahmungen der Utopia des Thomas Morus oder in barocken Romanen versandet, doch gelegentlich in die Dimension der Dichtung vor: so in der bekannten ergreifenden Vision in Grimmelshausens „Simplicius Simplicissimus“ und, im Abgesang, in Goethes „Faust“, im zweiten Teil, in der Vision der neugewonnenen Erde .. .

Fassen wir kurz zusammen: Die neuere europäische Utopie ist, wo sie inneres Gewicht besitzt, lehrhafter, meist politischer Traktat, Predigt in literarischer Form, Roman mit ideologischen Ansprüchen: ihr Erbe wird im 19. und frühen 20. Jahrhundert von den Programmen politischer Parteien, von den Ideologien radikaler Weltverbesserer weitergetragen. Wobei, neben den politischen Utopien, immer stärker szientifische Utopien in den Vordergiund treten: der optimistische Glaube von Biologen, Naturwissenschaftlern und Technikern aller Art, daß die Erde total verändert, daß ein neuer Mensch gezüchtet, geschaffen werden soll und kann. Priestleys „Lobo“, der in erschreckende Nähe gerückte „umgearbeitete Mensch“, der durch Eingriffe ins Gehirn zu einem angepaßten Werkzeug, zum „Menschenmaterial“ g e-macht wurde, ist 4a bereits eine harte und furchtbare Realität geworden in den Versuchsanstalten und Laboratorien an manchen Orten dieser einen Erde. Das rücksichtslose Experimentieren mit dem Menschen, der wehrlos preisgegeben scheint gewissenlosen Aerzten und „Forschern“, denen von einer totalitären Staatsführung „Menscheninaterial“ zur Verfügung gestellt wird, hat ja gerade auch für Wien eine beklemmende, erregende Gegenwartsbedeutung. Niemand, der den neuen Priestley im .Burgtheater sieht, sollte-die argen Dinge vergessen, die von besessenen Wissenschaftlern auch in unserer Stadt dem Menschen angetan wurden ... Dieser „lobo“, dieser umgearbeitete Mensch, ist, auch er noch, ein letztes Produkt barocker Weltverbesserungsträume, wie sie im Hotnuncnlus im „Faust“ nachklingen.

In eben diesem Moment größter Gefahr — durch einen entfesselten szientifischen Utopisirtus, der heute nirgends auf der Welt wirklich gebannt ist, da überall das Streben, einen Menschen zu gewinnen, der sich möglichst reibungslos in den Produktionsprozeß einschaltet, groß ist und überall die Macht der Großorganisationen noch im Wachsen begriffen ist, die den „Kranken“ als „Geisteskranken“ in Anstalten einweisen lassen können, wenn Schlamperei, Gewissenlosigkeit, Interessen und Bürokratie sich, verbinden (in Anstalten, in denen der Kranke gefährlichen Experimenten und Eingriffen in seine Personsubstanz ausgesetzt ist, ohne daß Angehörige und Freunde ihn wirksam schützen können) —, in eben diesem iMo-ment größter Gefahr, die noch größer wird dadurch, daß sie von Presse, Parteien.und mächtigen Verbänden überschwiegen oder gar als nichtexistent erachtet wird, stellt uns Priestley in seinem Stück „Schafft den Narren fort“ die Verpflichtung des verantwortungsbewußten Menschen heute vor, gegen das Gift des Utopismus zu kämpfen. Nichts ist grausamer als der zu Ende gedachte Gedanke, als das perfekte System: dieses motdet den Menschen, tötet die Vielfarbigkeit des Lebenden, weil es dieses fürchtet als das Unberechenbare, Unsichere, nicht im Griff der Formel und Planung Faßbare. (Diese Furcht vor dem Irrationalen ist im letzten eine Furcht vor der Gottheit, die in den unberechenbaren, sich dem Produktionsprozeß entziehenden Menschen ihre jeweils anderen, unerwarteten Karten ausspielt.) .

Diese harten, todernsten Dinge sind an sich nicht Sache des Theaters. Es sei. denn, man nehme Schillers Forderung von der Schaubühne als moralischer Anstalt ganz ernst, im Gegenwartssinn ernst. Priestley übernimmt es, in der Tradition Shaws, Utopien der Zeit aufzuzeigen, darzustellen und eben dadurch zu entlarven. Soll ein solches Stück zustande kommen, dann setzt es eine ganze Reihe von Vorbedingungen voraus: eine Gesellschaft, die traditionell ein waches Interesse hat an Utopien und an ihrer Ueberwin-dung; wobei die Ueberwindung am besten gelingt durch eine Ucberführung einiger passiver Elemente der Utopien in die Wirklichkeit des Lebens. Zum zweiten: eine Gesellschaft, die es wagt, auch den schlimmsten Gefahren ins Gesicht zu sehen, d a sie sich ein Bild machen will von dem, was ihr unter Umständen bevorsteht, wenn sie nicht wachsam i s t, wachsam vor allem auch nach innen hinein, gegenüber der Drachensaat, die im Schoß jedes Volkes, jeder Partei, jedes Menschen heute zumindest keimhaft präsent ist. Zum dritten: eine Gesellschaft, die Freude am Spiel hat, nicht am Sichverspielen, am Flüchten in einen „schönen Schein“, sondern die das harte Spiel bevorzugt: das Spiel, in dem es im letzten immer um das eigene Leben geht. Die englische Gesellschaft, vielleicht sie allein, vereinigt alle diese Bezüge. Priestleys Werk konnte nur in England geschrieben werden. Es ist nicht, wie manche thematisch verwandte deutsche expressionistische Werke, die Klage eines Einsamen, der in der Nacht der Narrheit der Massen in der Finsternis der Zeit untergeht, es ist nicht, wie so viele Utopiestücke, einfach eine Predigt, auf die Bühne gebracht, sondern ein wirkliches Spielstück: ein Werk des Theaters, das immer nur leben kann, wenn es an den Menschen glaubt: an dieses schreckliche, gefährliche, sich selbst gefährdende Wesen, das immer wieder in Versuchung geführt wird, von sich selbst und vielleicht auch von anderen Mächten. Ein Wesen, das also immer wieder Utopien denkt und zu verwirklichen sucht, ein „Reich Gottes auf Erden“, und sich Höllen schafft, während es einen Himmel auf Erden produzieren will. Ein Wesen, das aber, immer noch, seine eigenen Utopien, seine Wunschträume, sich selbst zu überwinden vermag. Weil, wie es Priestley im Ausklang seines Stückes anzeigt, irgendwo, und sei es nur noch in einigen wenigen, eine geheimnisvolle Tür offensteht, ein Tor, und sei es auch „nur“ nach innen, in die Tiefe der eigenen Person hinein, das aus dem Kerker und Bannkreis der Gewalt, der Vcrzaubarung, herausfühlt — auf die Erde, auf der die närrischen, brüchigen, schwierigen, lachenden, weinenden Menschenkinder alte uftd neue Spiele spielen sollen Durch diese seine Ueberzeugung vom Homo ludens, vom Menschen als einem zum Spiel und damit zur Freiheit, zur Freude berufenen Wesen, gewinnt der Programmatiker Priestley den inneren Anschluß an die Welt des Theaters, zu dessen großen und schönen Aufgaben gerade auch in unserer Zeit es gehört, alle Utopien und auch Ideologien zu enthüllen — eben durch sein Spiel.

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