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Der Leviathan

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Bs war eine Oberzeugung der Alten, die Mich Aristoteles teilte, daß die Verrichtung niederer Arbeiten die Ausbildung zum vollwertigen Menschen hindere, das heißt zum Mensch, der in seiner Persönlichkeit alle Begriffe der Arete in sich vereinigte. Keinem politischen Denker der Antike ist es daher eingefallen, an der Einrichtung der Sklaverei zu rütteln. Seither ist viel geschehen, um die Würde des Menschen zu einem allgemeinen Gute umzuwandeln. Die Sklaverei wurde abgeschafft; der Grundsatz von der Gleichheit der Menschen wurde in der Gesetzgebung fast aller gesitteten Staaten aufgenommen; die Menschenrechte wurden proklamiert; die ungeheuren Fortschritte der Technik scheinen zunächst die Möglichkeit zu bieten, menschliche Arbeiten, die im antiken Sinne als erniedrigend galten, durch die Maschine zu ersetzen; alle großen Bewegungen der neueren Zeit laufen immer wieder darauf hinaus, bessere Bürgschaften für die persönliche Freiheit des Menschen zu schaffen, während die soziale Revolution im Donnergang auch über jene alten Staaten hinwegschreitet, in deren Gewandfalten sich noch die letzten Überbleibsel des Feudalismus erhalten hatten. Und mitten in dieser Entwicklung, die uns eigentlich berechtigen soilwdi Stellung des Menschen mit jenem Stolze zu betrachten, mit dem ihn Schiller bei Eintritt in das vergangene Jahrhundert begrüßte, begegnen wir in einem großen Teile der politischen Literatur des Abendlandes immer häufiger der bangen Frage, wie der Mensch vor der Versklavung durch den Termitenstaat noch bewahrt werden kann. Aldous Huxley hält schon bei der Erkenntnis, daß es für die Gesellschaft überhaupt keine Rettung mehr gibt, höchstens noch für den einzelnen in religiösen Exerzitien, und vom Pastor Niemöller wird das hoffnungslose Wort berichtet, daß in den modernen Großstädten die Armut ein christliches Leben unmöglich mache.

Wilhelm Humboldt schrieb unter der Wirkung der französischen Revolution seine berühmte Abhandlung „Versuch, die Grenzen der Wirksamkeit des Staates zu bestimmen“. Sie hatte für den Liberalismus des 19. Jahrhunderts den Wert eines sibylli nischen Buches.

Heute liegen die Dinge so: Während die Welt von Reden widerhallt, die der Errichtung eines neuen Zeitalters allgemeiner Freiheit gelten, treiben allerorten die wirt-schafd:chen Verhaltnisse zu staatlicher Planung und die sozialen Erfordernisse zu gesetzgeberischen Maßnahmen, die aus der persön'-chen Freiheit nur mehr eine Illusion machen. Während sich die Menschheit blutüberströmt aus einem Kriege erhebt, mit dem der Faschismus in den Staub getreten werden sollte, bewegen sich die staatlichen Zustände fast überall in der Richtung des totalitären Staates. Während scheinbar angestrengte Versuche unternommen werden, ein Weltsystem internationaler Gerechtigkeit zu schaffen, Versuche, die hier keinesfalls verkleinert oder angezweifelt werden sollen, hing die politische Entwicklung der Welt vielleicht niemals zuvor in der Geschichte in solchem Ausmaß wie heute von der Macht weniger Reiche ab. Das ist es, was den tieten Pessimismus hervorruft, von dem sich heute die Untersuchungen vieler abendländischer Staatstheoretiker und Gesellschaftsphilo-sophen erfüllt zeigen. Das ist es auch zugleich, was jene, die sich gegen ih.e eigene Resignation noch sträuben, veranlaßt, Ausschau zu halten nach anderen nicht pol-tischei. Wegen, auf denen die menschlich': Persönlichkeit vor dem Versinken im Termitenstaat, und die menschliche Gesittung vor dem Untergang in einem letzten Ver zweiflungskrieg bewahrt werden könnten.

In manchen Schriften wird dem Menschen jene vollkommene Abwendung von der Politik empfohlen, die für den Hellenen der Diadochenzeit charakteristisch war. In Kreisen englischer Pazifisten werden neuerdings Versuche unternommen, Zellen zu bilden, in denen kleinere Gruppen Gleichgesinnter sich von der großen Welt abschließen und ein rein auf das Geistige ausgerichtetes Leben führen wollen. Andere reden einer weitgehenden Dezentralisation der Gesellschaft und einer Rückkehr zum Ackerbau das Wort. Unter denjenigen, die den Abbau der Staatsautorität vertreten, wie Herbert Read oder D. S. Savage, geht der eine oder andere in der Ablehnung des Staates soweit, sie selbst um den Preis der nationalen Unabhängigkeit zu befürworten. Man kann ohne Übertreibung sagen, daß die Furcht vor der Gewaltsamkeit des Staates im Begriffe ist. einen politischen Nihilismus zu erzeugen, der ernst genommen werden muß.

Da bedeutet es nun einen Hoffnungsschimmer, einen nicht zu unterschätzenden Hoffnungsschimmer, festzustellen, daß das Ausschauhalten nach neuen Wegen im Dienste des freien Menschen nicht auf den Kreis von Publizisten und Theoretikern beschränkt bleibt. Wie vor kurzem gemeldet wurde, hat der Generalsekretär der Vereinten Nationen Trygve Lie alle Mitgliedstaaten dieser Organisation aufgefordert, zur Errichtung „einzelstaatlicher Menschenrechtsausschüsse“ Stellung zu nehmen. Diese Körperschaften sollen die Aufgabe erhalten, periodische Informationen über die Verwirklichung der Menschenrechte in ihren Staaten an den Ausschuß der Vereinten Nationen zu übermitteln. Wenn man sich eines früheren australischen Antrags erinnert, der sich auch auf diesen Gegenstand bezog, scheint der Einladung Trygve Lies der Plan zugrunde zu liegen, eine Charta der Menschenrechte zustande zu bringen, auf die sich alle oder wenigstens eine ansehnliche Mehrheit der Mitgliedstaaten der Vereinten Nationen zu verpflichten bereit wären.

Der Gedanke mag heute noch reichlich utopisch erscheinen und weckt die deprimierende Erinnerung an den Briand-Kellogg-Pakt, der in Vergessenheit gesunken schien, als im elften Jahre nach seinem Abschluß die Welt zu den Waffen griff. Aber das in einem Augenblick, da die Völker von den Begriffen der gelenkten Wirtschaft, der Planung und einer sich mehr und mehr über alle Gebiete des Lebens und der Tätigkeit ausdehnenden staatlichen Organisation in Bann gehalten werden und von ihnen alles Heil erwarten, Staatsmänner in hohen Stellungen und die es mit der praktischen Politik zu tun haben, sich der menschlichen Persönlichkeit besinnen und etwas zu unternehmen versuchen, damit die Bäume der Staatsal'macht nicht in den Himmel wachsen, das muß in den unterschiedlichen, jetzt noch sehr zersplitterten Kreisen von Denkern und Schriftstellern, die sich mit der Entwicklung der abendländischen Gesellschaft beschäftigen und über die stürmisch und scheinbar unaufhaltsam anwachsende Macht des Staates bestürzt sind, lebhaften Widerhall finden und den Wunsch nach internationalem Zusammenwirken auslösen.

Niemand wird freilich die gewaltigen Widerstände unterschätzen können, die sich egen die Schaffung einer allgemein gültigen Charta der Menschenrechte in einer Welt :iheben, in der trotz den seinerzeit von Roos'.vel: als den Zielen des Krieges verkündeten vier Freiheiten das Axiom weitaus den ersten Rang einnimmt, daß hinter der wirtschaftlichen Sicherheit jeder andere Gedanke zurücktreten müsse, daß dem Staate zu diesem Behufe alle Vollmachten einzuräumen sind und daß es unvermeidlich ist, diesem obersten Zweck alle anderen Rücksichten höherer Gesittung zum Opfer zu bringen. Es ist das ein Axiom, von dem die Überlegenden wissen, daß es die Freiheit aufhebt, ohne die Gleichheit zu verwirklichen, daß es alle selbständigen geistigen Einflüsse lähmt und die Gewalt fördert, daß es auf diese Weise am Ende wieder Zustände herbeiführen muß, die der Entfesselung eines neuen Krieges günstig sind.

Die Welt ist heute voll schwerwiegender Probleme, allein das allergrößte ist, daß sie sich in einem Kreislauf der Gewalttätigkeit bewegt. Man kann daher dem englischen Kulturkritiker George Orwell nur vorbehaltlos zustimmen, wenn er in einem „Der Aufstand der Intellektuellen“ überschriebenen Aufsatz kürzlich schrieb: „Der erste Schritt der Gesundung ist, den Kreislauf der Gewalttätigkeit zu unterbrechen.“ In der erwähnten Anregung Trygve Lies liegt vielleicht der Keim einer solchen Unterbrechung. Aber gerade deshalb halten wir die Möglichkeit einer günstigen Aufnahme und eines Erfolges vorläufig für gering. Jedenfalls in dem großen Rahmen der Vereinten Nationen. Mehr Chance würden wir dem Gedanken geben, wenn er zunächst regional innerhalb eines kleinen Verbandes von Staaten aufgegriffen würde. Wir denken dabei natürlich in erster Linie an Europa, wo seit den Tagen des Aristogeiton und Piatons mit materiellen und geistigen Waffen so viel und so unaufhörlich um die Rechte der fre'en menschlichen Persönl-chkeit gekämpft worden ist. Hier auf dem Boden des europäischen Festlandes könnten sich etwa fürs erste einige Staaten in dem Vorhaben zusammenschließen, den Kreislauf der Gewalttätigkeit durch die Verpflichtung auf eine gemeinsame Charta der Menschenrechte zu durdibrechen. Indem ein solcher Schritt geeignet wäre,' der Macht des Staates entgegenzuwirken, würde er der Umwelt keinen Anlaß bieten, ihn politisch als störend zu deuten. Und wenn es schon kein aktiver Staatsmann wagen sollte, mit einem solchen Vorschlag hervorzutreten, könnte dieser Versuch nicht auch aus anderen Kreisen unternommen werden, etwa aus dem der Interparlamentarischen Union oder jenem der Universitäten und Akademien? Hierin liegt ja die eigentliche Ursache der jetzt so dumpfen Atmosphäre in Europa: daß alles der staatlichen Initiative überlassen wird und daß sich alle öffentlichen Körperschaften nur mehr als Werkzeuge des Staates betrachten. Mitschuldig daran ist eine ungerechtfertigte Scheu vor Anregungen, die von den verantwortlichen Regierungsstellen als nicht „realpolitisch“ oder als utopisch abgetan werden könnten. Es ist eine falsche Auffassung, daß in schweren Notstandszeiten nur praktische Notstandspolitik getrieben werden muß. Propheten stehen nicht in gesegneten, sondern nur in geprüften Völkern auf. Wenn die Not am größten ist, ist kein Gedanke utopisch genug. Wenn die Gewalt überall '.riumphiert, muß man sich erheben und die gewaltlose Gesellschaft predigen. Es ist nun einmal das Wesen des Ideals, daß es nie e-reidit, sondern immer nur angestrebt wird. Heute, da der Levia-thanstaät unser aller Seelen zu “erschlingen droht, müssen wir, besonders wir Europäer und vor allem wir christliche Europäer, unverdrossen die unendliche Straße gehen, an der wir in nie erreichbarer Ferne die gewaltlose Gesellschaft vermuten.

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