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Weltumfassende menschliche Gesellschaft

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In dem folgenden Artikel diskutiert der größte lebende amerikanische Philosoph und Künder der demokratischen Idee, John Dewey, die Folgerungen, die sich für die Völker aus der Bildung einer die ganze Welt umfassenden Vereinigung freier Nationen ergeben würden. John Dewey betont die Notwendigkeit, Ordnung in das Chaos einer aus den Fugen geratenen Welt zu bringen und den staatlichen und nationalen Egoismus zu überwinden.

Die „Furche“, die es als ihre vornehmste Aufgabe betrachtet, jederzeit aus dem Geiste eines weltumspannenden Katholizismus und getreu den christlich-humanistischen Traditionen der österreichischen Geschichte für einen völkerverbindenden Universalismus einzutreten, empfindet es als eine Anerkennung ihrer Bemühungen, wenn einer der größten Denker der angelsächsischen Welt von heute in ihr das Wort ergreift, um auch im Herzen des alten Kultureuropa auf die Notwendigkeit eines Zusammenschlusses der Völker hinzuweisen, ohne den eine gedeihliche Entwicklung unserer zerrütteten Welt, eine Überwindung der Lebenskrise unmöglich wäre.

Der außerordentliche Anlaß begründet eine ausnahmsweise Änderung in der Textverteilung des Blattes. „Die Furche“

Es ist die Tragödie unserer Zeit, daß jeder Mensch der Erde irgend einer staatlichen Einheit angehört, ohne Mitglied einer weltumfassenden Gemeinschaft zu sein. Eine Gesellschaft besteht nur dort, wo es ein für alle verbindliches Gesetz gibt, nur dort, wo der Apparat einer Regierung Meinungsverschiedenheiten und Unstimmigkeiten beilegen und schlichten kann. Heutzutage besteht das Mittel zur Beilegung von Streitfällen im Krieg; nicht in diesem oder jenem Krieg, sondern in einem zum Krieg gewordenen System, das die Lebensansichten jedes Volkes dieser Erde grundlegend bestimmt und beherrscht. Es ergab sich gewissermaßen zufällig im Wandel der Zeiten, es wurde nicht vorhergesehen, nicht gewählt. Es wurden aber auch keine Vorkehrungen getroffen, um all den großen Problemen zu begegnen, die aus den ungeheuren neuen Kräften, die die Welt ganz plötzlich erfaßt haben, erwuchsen.

Im vergangenen Jahrhundert ' sind die Nationen der Erde räumlich immer stärker von einander abhängig geworden und hieraus ergab sich eine große Mannigfaltigkeit von gegenseitigen Bindungen Dieser Wandel ist so plötzlich eingetreten, daß alte Überlieferungen, Bräuche, Anschauungen, Angewohnheiten und selbst tiefverwurzelte Bindungen aufgehört haben, brauchbare Mittel zur Neugestaltung der Lage zu sein. Aber solange sich die alten Überlieferungen und Gewohnheiten nicht gewandelt haben, sind wir außerstande, mit den Problemen fertig zu werden, die natürlicherweise zu diesen alten Überlieferungen und Gewohnheiten in Beziehung stehen. Unser Denken, unsere moralische und gefühlsmäßige Verfassung, überhaupt unsere gesamte Lebensform — all das gehört jener geschichtlichen Frühperiode an, in der die Völker dieser Erde im wahren Sinne des Wortes getrennt voneinander lebten, miteinander nur wenig Berührung und Verkehr hatten, und wenn, dann nur mit ihren Nachbarn Dementsprechend waren Kriege räumlich begrenzt. Und unsere Epoche! Das tragische Symbol dieses Wandels liegt in der Tatsache, daß es in der kurzen Zeitspanne eines Vierteljahrhunderts zwei Kriege von weltumfassender Ausdehnung gegeben hat.

Eine Welt, in der Völker so eng neben-einanderleben. die aber bar der Mittel ist, einen Zusammenprall dieser Völker zu verhindern, befindet sich wirklich im Zustand der Anarchie. Dieser anarchische Zustand zeigt sich ganz deutlich und augenfällig in der ständig drohenden Gefahr eines Weltkrieges. Aber diese ständige Drohung ist nur eines der Symptome des Weltchaos infolge des Fehlens eines allgemein verbindlichen Gesetzes und der notwendigen Einrichtungen zur Erzielung verbesserter sozialer Verhältnisse auf friedlichem Wege. Betrachten wir einmal die ungeheuer angewachsene zerstörende Kraft des

Krieges! Mit der Atombombe kann man die Erde zerstören. Eine hochorganisierte Forschungsarbeit hat alle wissenschaftlichen Hilfsquellen in den Dienst der Erzeugung dieser Bombe gestellt, dieses tödlichsten Mittels der Massenvernichtung, das es gibt. Aber diese Erfindung und die wissenschaftliche Forschungsarbeit stammen aus unserem Wissen, einem Wissen, das, wenn wir wollten, aufbauende Arbeit leisten könnte, von ungeheurem und dauerndem Wert. Diese absolute Verzerrung, diese vollständige Umwertung der Werte ist der überzeugende Beweis für das Chaos, in dem sich die Welt befindet, die im geographischen Sinn wohl eine Einheit geworden ist, aber weder über die Mittel, noch über die Einrichtungen verfügt, eine weltumfassende menschliche Gesellschaft zu schaffen oder zu erhalten.

Genau so wie die Voraussetzungen und Auswirkungen des heutigen Krieges ganz neu sind, so müssen alle Völker dieser Erde sich zu einem neuen Denken, Planen und Handeln entschließen, um i m Zeitalter der Atombombe die Voraussetzungen des Weiterlebens zu schaffen. Dem ungeheuren Ernst des Kriegs, der alles vernichtet, das Leben, menschlichen Fleiß, Kultur und Moral, muß mit demselben Ernst in aufbauender Arbeit begegnet und entgegengewirkt werden. Soll die Zivilisation nicht in Trümmer gehen, muß sich infolge des ungeheuren Gefahrenbereichs des Kampfes ein noch größerer Aufbauwille manifestieren. Die veraltete Diplomatie, die politische Blockbildung, die ganze Machtpolitik, die Vorschriften des internationalen Gesetzes, all dies ist der modernen Kriegführung unter anderem zum Opfer gefallen. Diese Begriffe sind so abgebraucht und wirkungslos wie etwa der altmodische Vorderlader. Wir verschließen unsere Augen gegenüber den Gegebenheiten der Lage auf unsere eigene Gefahr — und was noch schlimmer ist, auf die Gefahr der zukünftigen Geschlechter. Wenn unser Denken und Handeln sich nur danach richtet, daß wir entsprechend dem Ernst der Lage nur eben stärkere Mittel mr F.rringurig des Sieges in einem zukünftigen Krieg einzusetzen gedenken, dann werden wir die schon bestehende Auflösung nur beschleunigen.

Die großen Fragen der Gegenwart

Die Völker der Erde, nicht nur ihre Beamten, müssen auf die folgenden Fragen die richtige Antwort finden: Ist eine Weltregierung möglich? Wie soll sie geschaffen werden? Durch eine einseitige Zwangsaktion irgend einer Nation oder durch gemeinsame Arbeit? Wie soll sie arbeiten? Mit welcher Verantwortlichkeit soll sie ausgestattet sein, damit ein allgemein gültiges Gesetz, das den Bedürfnissen einer Weltgemeinschaft Ausdruck gibt, an Stelle des bisher geltenden Systems des Krieges ein

solches des Friedens und der Sicherheit setzt? Es ist ein Gebot der Stunde, sich sofort und unmittelbar und mit allem Ernst auf diese Fragen einzustellen. Sie entspringen nicht einer abstrakten Theorie, sondern kommen aus der ungeschminkten Wirklichkeit. Wenn wir keine positive Antwort darauf wissen,

dann werden wir wohl den Weg zu einem neuen und letzten Krieg finden — zu einem letzten, weil er die Vernichtung der Menschheit bedeuten würde.

Nur Zyniker und Defaitisten werden die Möglichkeit der Schaffung einer brauchbaren Weltregierung leugnen. Heute gilt es in den inneren Angelegenheiten eines Volkes als selbstverständlich, daß das Fehlen eines geltenden Gesetzes undenkbar ist. Ebenso wichtig wie die Tatsache des Bestehens des Gesetzes an sich ist seine gleiche Gültigkeit für alle, ohne Privilegien und ohne Vorrechte für einzelne. Vielleicht ist es noch bedeutsamer, daß keine politische Großmacht eine großzügige Kriegsplanung während der sogenannten Friedenszeit in Zweifel zieht, während in der Zeit des Krieges selbst sich die Planung des Kriegführens beinahe bis auf jeden Teil des Lebens erstreckt. Wenn die Völker und ihre Beherrscher all die physische, geistige und moralische Energie, die sie jetzt für die Planung und Durchführung der Kriege aufbringen, für die Planung eines dauerhaften Friedenssystems aufwendeten, könnten sie eine Weltregierung erreichen. Ein Nachgeben gegenüber dem Defaitismus käme einer Abdankung der Intelligenz gleich. Es hieße, einen Kampf auf-

geben, in dem nichts geringeres als das Schicksal der Kultur auf dem Spiele steht.

Doch ist es ebenso notwendig, die ungeheuren Schwierigkeiten des Unternehmens zu erkennen, wie den Willen für eine uneingeschränkte Mitarbeit dafür aufzubringen. Wie sollen wir eine Weltregierung schaffen? Wo sollen wir festen Fuß fassen? Mit welchen Mitteln und unter welchem Schutz sollen die ersten Schritte unternommen werden? Soll die Sache einer Nation überlassen werden? Oder liegen die Dinge in der Welt so, daß nur eine Zusammenarbeit aller Nationen Erfolg ver-

spricht? Gewisse Erinnerungen und Überlieferungen der Vergangenheit rechtfertigen scheinbar die Ansicht, daß allein e i n mächtiger Staat am Weltfrieden schaffen, das heißt, daß er sozusagen Frieden befehlen könne. Das ist das System der Unterwerfung. Diese Erinnerungen stammen aus früheren Zeiten, aus den erfolgreich geführten Kriegen eines Alexanders des Großen und aus der noch länger dauernden Pax Romana Casars. Es schwebt uns auch das Bild des Heiligen Römischen Reiches vor Augen, als die gemeinsame Macht der Kirche und des politischen Kaiserreichs eine Art ge:srger Einheit im westlichen Europa schufen, das heißt in der ganzen damals bekannten zivilisierten Welt. Das Versagen aller Versuche einer Einigung Europas durch Gewalt beweist, daß diese Methode wahrscheinlich nur eine kostspielige Illusion i s t.

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