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Kosmisches Wettrüsten?

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Fünfmal sind die Amerikaner bisher von den Russen im kalten Krieg überrundet worden: dreimal wurde das amerikanische Monopol — der A-, ,H- und U-Bombe — gebrochen (im September 1949, August 1953, November 1955), zweimal ein russisches Monopol — die interkontinentale Rakete und der Erdsatellit — aufgestellt (August und September 1957). Alle diese Daten, von denen ich die ersten vier selbst in Amerika erlebt habe, waren ein tiefgehender Schock für die Amerikaner (mehr für das offizielle Amerika als für die apathischen breiten Massen des amerikanischen Volkes), aus dem nunmehr bereits zum fünftenmal (in Eisenhowers Proklamation vom 8. November) derselbe Ausweg gefunden wurde: die Intensivierung der Aufrüstung auf der eingeschlagenen Linie.

Ein Weltreich, das unter dem Gesetz der historischen Zwangsläufigkeit steht, jedenfalls ihm eindeutiger unterliegt als der kleine Staat oder gär der einzelne Mensch, hat gar keine andere Wahl. Daß sich nunmehr die beiden Weltmachtkonstellationen im Wettrüsten der Raketen und Satelliten verbeißen werden, daß sie alle ihre Energien darauf abstellen werden, daß dadurch auch der westliche Kapitalismus Züge des erfolgreicheren, das Tempo bestimmenden östlichen Kommunismus nach und nach annehmen wird — das sind schicksalhafte Entwicklungen, denen die große Welt nicht entrinnen wird. Die ernsthafte Frage bleibt nur, ob darin in der Tat die einzig geschichtsmögliche, menschenwürdige, insbesondere christliche Antwort liegt und ob nicht gerade eine solche vorausgedacht und vorbereitet werden müßte.

Daß es auf dem Weg, den die beiden Weltmächte geradezu in Harmonie eingeschlagen haben — ganz anders als die naiven Optimisten unter den Regierungswissenschaftlern aller Länder glauben —, irgendeinmal in logischer Konsequenz oder auch per accidens zur Weltkatastrophe kommen muß, scheint die Geschichte der Kriegsverhütung durch verbesserte Waffentechnik zu beweisen. Wie lange diese Katastrophe hinausgeschoben werden kann, hängt von den guten Nerven, von der Erkenntnis des eigenen Interesses und der weiteren Geschicklichkeit im internationalen Manövrieren von Seiten der amerikanischen und russischen Führer ab. Die geistige Welt, darunter die christliche Welt, müßte eigentlich diese Atempause, diesen Aufschub der Katastrophe, benützen, um ihre eigenen Methoden ins Spiel zu bringen, die allein den Zauberkreis des Wettrüstens sprengen können: Bisher haben die christlichen Staatsmänner, Wissenschaftler und Völker diese Aufgabe kaum noch in Angriff genommen.

Zu ihrer Lösung gehört in erster Linie politische Nüchternheit, die eine christliche Tugend ist. Theologen und Hierarchen, die dem christlichen Volke erzählen, daß es zur Zivilisationsaufgabe der Menschheit, zum „Machet euch die Erde untertan" gehört, daß die Atomenergie im Kriege entdeckt wurde und nunmehr im Frieden weiterentwickelt wird, oder die gar ein neues, wesentliches Stück dieser Aufgabe darin sehen, „den Weltraum zu erobern“, lassen es eindeutig an dieser Nüchternheit fehlen. Denn gerade im Lichte der christlichen Philosophie gibt es auch magischeKräfte, deren sich der Mensch zwar auf Zeit bemächtigen kann, die ihn jedoch verschlingen, wenn er nicht zeitgerecht den Exorzismus anwendet, der sie bändigt.

Wer sagt denn, daß dieser illusionäre Triumph der menschlichen Technik, die Eroberung des Weltraumes, auch wenn bloß als ideologische Zielvorstellung gebraucht, gegenüber der vorläufig und bis auf weiteres einzig realistischen Konsequenz der Satelliten-Weltpoli- t i k im Dienste der Raketen-Weltherrschaft überhaupt ein Wert ist? Gerade vom christlichen Standpunkt müßten Philosophen und Theologen, Geistes- und Naturwissenschaftler, Staatsmänner und Gesellschaftstechniker die Zivilcourage haben, festzustellen, daß, weil interkontinentale Raketen ein Unwert sind, auch die einzig und allein damit verbundenen Satelliten kein Wert sein können — so wie auch, weil die ABC- Waffen, insbesondere A-, H- und U-Bomben, ihre Erzeugung am laufenden Band und ihre Aufstapelung in immer neuen Serien, kein Wert ist, die gesamte Atomfriedensverwertung im derzeitigen Stadium ihrer Verwendungsmöglichkeit höchste Gefahr läuft, ebenfalls ein Unwert zu werden, jedenfalls vorläufig und bis auf weiteres etwas ist, das vom christlichen Standpunkt weitaus eher scharfäugige Skepsis als verharmlosende Dithyramben verdient.

Wenn man den Schritt von der Problematik der Raketengebundenheit der Satelliten (für die jene ausschweifenden Phantasien zur Weltraumeroberung nur ein durchsichtiges heuristisches Prinzip, ein Mittel zu einem ganz anderen Zweck darstellen) zur Atomkriegsgebundenheit der Atomfriedensreaktoren unter den heute gegebenen Umständen machen muß, dann fällt es nicht schwer, auch noch in einer Reihe anderer Elemente unserer technischen Zivilisation, unter ihnen in erster Linie im Chemismus in Urproduktion, in Ernährung und Heilkunst, überaus gefährliche, ja geradezu selbstzerstörerische Faktoren unserer Zivilisation zu erkennen, die uns für die Gefahren der sich akkumulierenden Radioaktivität in Atmosphäre, Boden, Wasser, Milch und Knochen nur noch anfälliger machen müssen. Es ist wertvoll, wenn die klarblickenden Intellektuellen der Welt (darunter die Nobelpreisträger Albert Schweitzer, F. C. Powell, Linus Pauling) auf oft isolierten Posten gegen die Atombombenexperimente protestieren, indem sie mit vollem Recht auf die biologischen, pathologischen und genetischen Konsequenzen verweisen, die heute schon eine steigende Anzahl unschuldiger Opfer fordern. Doch ist es bloß halbe Arbeit, wenn gleichzeitig die Weltverbrüderungsperspektive der Atomfriedensindustrie in den Himmel gehoben wird, als würden nicht auch auf diesem Sektor ganz dieselben atomtechnischen, atomethischen und atompolitischen Probleme bestehen, deren Nichtbeachtung und Fehleinschätzung zweifellos in eine noch viel gefährlichere Weltlage ausmünden müßte. Wie die' Dinge heute liegen, ist die Atomfriedensindustrie keineswegs ein ernsthafter Ausweg aus der latenten Katästrophengefähr der Atombomben-, Raketen- und Satellitenproduk- tion beider Weltmächte. Eine ökumenische Atomzivilisation, ob amerikanisch oder russisch, in der die kombinierten Gefahren des Chemismus und der Radioaktivität nicht im voraus gebändigt würden, müßte um vieles selbstmörderischer für unsere Zivilisation als der Zustand des labilen Gleichgewichtes von heute sein. Das ist die Wahrheit in der These, daß das Gleichgewicht in den Atomwaffen die Katastrophe verhütet.

Warum aber muß man die forcierte Entwicklung der Atomfriedensindustrie als mindestens ebenso gefährlich, wenn nicht gar gefährlicher ansehen, als die Fortsetzung der Atombombenproduktion? Aus drei Nebengründen, deren man vielleicht nach einiger Zeit technisch Herr werden kann, gleichzeitig aber auch aus einem entscheidenden Hauptgrund, dem allein in der Atmosphäre eines sich geistig erneuernden internationalen Ethos wirksam begegnet werden könnte. Dieser Hauptgrund ist, daß die Atomfriedensindustrie in der heute gegebenen internationalen Atmosphäre nichts anderes als ein anderes — und in der Tat noch weitaus gefährlicheres - K r i e g s p ote n t i a 1 darstellt. Der Kampf der linken Intellektuellen gegen die Atombombenproduktion, so verdienstvoll er auch in abstracto ist, stellt sich daher in concreto, wenn er gleichzeitig dieser Gefahr der Atomfriedensindustrie gegenüber blind bleibt, entweder als grenzenlose Naivität oder aber als Kriegslist dar, die bereits das nächste Stadium der Atomaufrüstung in Rechnung stellt. Die drei Nebengründe aber, die vielleicht einmal eliminiert werden können ..(wenn man darüber auch ernsthafte Zweifel haben kann), sind: die ganz allgemeine quantitative Zunahme der radioaktiven Strahlung auf Erden, mit der in ihrer bisherigen minimalen Erscheinung die Menschen noch nicht fertig geworden sind; die gleichzeitig geometrisch progressive Zunahme der radioaktiven Abfallsprodukte, die in ihrer bescheidenen Quantität schon bisher ein Problem waren; sowie schließlich die noch immer nicht völlig durchschaute,

geschweige denn gemeisterte radioaktive Ausscheidung aller Atomreaktoren in die Atmosphäre, in das Wasser, in den Boden, in das organische Leben der Umwelt (worauf auch Albert Schweitzer in seinem Osloer Radioappell vom 24. April 1957 hingewiesen hat).

Wenn wir der Wirklichkeit ins Auge zu blicken wagen, dann kann es heute die Aufgabe des Christentums, der katholischen Welthierarchie und der christlichen Staatsmänner nur sein, nicht in den Chorus der Zeit einzustimmen, wie herrlich weit wir es doch gebracht haben. Die Aufgabe ist, ganz im Gegenteil, die Kräfte der mutigen, gesunden, schöpferischen Skepsis, die gleichzeitig die Kräfte des christlichen Realismus sind, zu sammeln. Darin liegt das Gebot der Stunde, auf allen Gebieten, auf denen die Entfesselung des technischen Wissens, das Funktionieren unserer Zivilisation ernsthaft zu bedrohen beginnt, die politischen und wissenschaftlichen Kräfte zu mobilisieren und zu organisieren, die das Odium der Nicht-Fortschrittlichkeit nicht scheuen und die Zivilcourage zur Skepsis gegenüber der entfesselten Technik haben. Diese Skeptiker gegenüber den alleinseligmachenden Errungenschaften der modernen Technik, des Chemismus und der Radioaktivität, der Atombombenproduktion und der Atomfriedensindustrie, der Raketen und der Satelliten, also die Realisten des Geistes, gehören zusammen in einer breiten, weltweiten Front über Nationen, Parteien und Konfessionen hinweg, um nicht nur den Geist vor den Exzessen der Technik, sondern selbst die Technik vor ihren eigenen selbstzerstörerischen Konsequenzen zu retten. Wer will hiermillun? …

Für den Christen schliefen- die Heiligen Schriften nods immer mit der Apokalypae ab. Man hält gewöhnlich nur für eine Prophetie, was im Grunde eine Anleitung ist, ihr zwängeläufiges Eintreten hintanzuhalten. Denn diese Schrift ist gerade auch für jene Realisten und Skeptiker gegenüber den Errungenschaften dieser

Welt geschrieben, die aus ihr die Kraft gewinnen wollen, das drohende apokalyptische Verhängnis, das über allen Zeiten hängt, für ihre eigene Zeit noch einmal zu bannen. Die Apokalypse spricht von einem Zustand der Welt, der latent immer existiert, der aber unter bestimmten historischen Voraussetzungen sich akzentuieren kann: sie spricht von zwei Tieren, die das christliche Leben bedrohen.

Solange es freilich zwei Tiere gibt, gibt es immer auch noch eine Chance für das „dritte Leben“. Das Kleine in der Welt, die „kleine Herde", der „gemeine Mann“ ohne

Kapital und Position, der machtlose Kleinstaat ohne Raketen und Satelliten, sie alle können sich in ihrer geistigen christlichen Existenz behaupten, wenn sie nur alles wirklich daransetzen. Dazu gehört freilich auch, die „Zeichen des Feigenbaumes“ zu erkennen, nicht, um vorzeitig aufzugeben, sondern um rechtzeitig selbst noch gegen die negativsten Möglichkeiten sinnvolle Vorkehrungen zu treffen. Wehe uns erst, wenn es aus unserer eigenen Schuld, weil wir nicht wachsam und nicht mutig genug waren, nur noch e i n Tier gibt, das alles verschlingt.

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