All - © Foto: Pixabay

An der Schwelle des Alls

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Der Schriftsteller Reinhold Schneider über das Weltbild, das sich ins Ungeheuerliche mit wachsender Schnelle verändert.

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Der Schriftsteller Reinhold Schneider über das Weltbild, das sich ins Ungeheuerliche mit wachsender Schnelle verändert.

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Das ausklingende Jahr wird für absehbare Zeit denkwürdig bleiben als Geburtsjahr der ersten Satelliten, einer Sensation, wie es scheint, mit stark politischem Akzent; in Wahrheit geht es um ein politisch-überpolitisches Ereignis, eine Sache der Menschheit, die ernsthafter innerer Verarbeitung bedarf. Was es für die Wissenschaft bedeutet, daß in Bereichen, die bisher nur für wenige Minuten von Raketen gestreift wurden, unter Umständen auf Jahre ausdehnbare Beobachtungen möglich sind, ist wohl noch kaum zu ermessen. Allein für die Radioastronomie, die Erforschung kurzwelliger kosmischer Strahlung, der Sonnenaktivität, welche Forschungen sich atmosphärischen Einflüssen zu entziehen streben, wurden hohe Erwartungen ausgesprochen; auch ernst zu nehmende Forscher scheinen es für möglich zu halten, daß in wenigen Jahrzehnten die Bodenschätze des Mondes erreichbar werden.

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Spekulationen dieser Art verweisen auf Rechtsprobleme, die bisher wohl kaum durchgedacht wurden und in den Gesetzgebungen der Völker noch keine Stelle gefunden haben. Selbst wenn es sich um Phantasien handeln sollte – aber Forschung ist wohl immer eine Synthese von beobachtender Nüchternheit und Phantasie –, selbst dann müßten neue, die Welt umschließende Rechtskonventionen getroffen werden. Die Freiheit der Staaten, Trabanten aufzuschleudern, kann ja nicht unbegrenzt sein; schon wird mit einigen hundert gerechnet, die etwa in fünfzig Jahren die Erde umschwirren werden. Die Klage um das erste, arme, der Weltleere zugeworfene Leben ist wenig überzeugend: wir alle ahnen doch, welche Opfer die Kreatur Tag und Nacht, qualvolle Stunde um Stunde, in Laboratorien und Forschungszentren bringt. Wie im Erleiden der Krankheit und problematischer Heilmethoden, zu einem Teile aber gewiß unabweisbarer Versuche, geht sie uns auch im kosmischen Tode voraus. Denn der Kosmos ist nun als Feld der Geschichte geöffnet, ich möchte sagen: gerade angebrochen worden, ein handschmaler Küstenstreifen des endlich-unendlichen Raumes, dessen im höchsten Falle mögliche Erweiterung dem Ganzen gegenüber fast belanglos ist.

Das Geschichtsfeld als Todesfeld

Geschichtsfeld also ist ein Todesfeld; insofern war der verlassene Passagier des zweiten Satelliten eine prophetische Existenz, sollte er uns ein Zeichen bleiben: eine Todeschance ohnegleichen, vielleicht die grausigste aller Möglichkeiten des Verlassenseins und der Angst, ist von der Menschheit aufgenommen worden. Sie sollte sie nicht leugnen: etwas Großes ist in diesem Beginnen, in dem Aufbruch menschlicher Macht in den Raum, die als Unmacht zurücksinken wird; in dem versprühenden Funken, den wir in den Raum werfen wie ein Streichholz in einen Brunnenschacht – oder in die lichtlosen Schluchten, in denen mittelalterliche Burgherren Verbrecher oder Gegner bestraften. Ein Flämmchen meldet, daß es angekommen ist – und dann ist wieder Nacht über Knochen und Staub.

Die politische Pragmatik, die sich an den ersten Satelliten hängt, ist ebenso unwürdig, wie banal. Es ist aber ausgeschlossen, daß sie hätte vermieden werden können, und kaum anzunehmen, daß sie weiterhin vermieden wird. Das gesamte Forschungsgebiet, dem die Satelliten entstammen, liegt im Magnetfeld der Geschichte. Die bewundernswerte Forschung, um die es sich handelt, ist zugleich Wegbereiterin und Gestalt der Macht. Ein bedeutender Teil ihrer Fragestellungen, ihrer Lösungen ist der Rüstung zur Verteidigung oder zum Angriff zu verdanken – denken wir an die Entwicklung der Radiotechnik im Kriege –, wenn auch die eigentlichen genialen Entdeckungen von einer kindhaften Absichtslosigkeit und Experimentierlust geadelt sind – was sie natürlich aus dem Zusammenhang mit den Folgen nicht losketten kann. Aber für die technische Verwertung regiert Mars die Stunde. Und die Grenze zwischen Technik und Forschung ist zur „verbotenen Linie“ geworden, um einen der geheimnisvollen Ausdrücke anzuführen, mit denen die Forscher Unverständliches zu bezeichnen pflegen: eine Linie im Spektrum planetarischer Nebel, die unter normalen, im Laboratorium herstellbaren Bedingungen nicht auftreten dürfte. Unddas hat auch seine Richtigkeit: im Laboratorium der Geschichte, in der Welt, die wir kennen, ist keine Grenzezwischen Wissen und Macht, zwischen Erkenntnis und Größe und Tod.

Unser metallenes Auge also blickt in den Raum; unsere ersten Verlautbarungen an den Kosmos sind mechanisches Stammeln; unsere Morgengabe zur „Hochzeit mit dem Kosmos“ oder zu dessen „Taufe“, von der begeisterte Theologen sprechen, die Gott über die Schulter blickten, als Er den Fahrplan aufstellte, unsere Gabe ist die Leiche eines unter verdeckten Umständen verendeten Hündchens.

Unser metallenes Auge also blickt in den Raum; unsere ersten Verlautbarungen an den Kosmos sind mechanisches Stammeln; unsere Morgengabe zur „Hochzeit mit dem Kosmos“ oder zu dessen „Taufe“, von der begeisterte Theologen sprechen, die Gott über die Schulter blickten, als Er den Fahrplan aufstellte, unsere Gabe ist die Leiche eines unter verdeckten Umständen verendeten Hündchens.

Was die Forschung erarbeitet hat, istimmens, das Werk der Genialität, der Zähigkeit und Entsagung, immer, wie sich versteht,, im Laboratorium der Macht; denn nur sie erstellt Laboratorien, ist dessen fähig, nur sie verfügt über Uran und Transurane, über Plutonium, den gefährlichen Anfallstoff friedlichen Zwecken dienender Reaktoren. Forschung führt Geschichte und wird von ihr überfahren, nicht unähnlich dem wackeren Manne, der in meiner Kinderzeit zum Schutze der Bürger mit einer roten Fahne vor der Dampfwalze einherging und eines Tages unter die Walze geraten sein soll.

Reinhold Schneider - © Foto: Ralf Ennerich/Privat

Reinhold Schneider

Der katholische Kultautor (1903-58) hielt sich von November 1957 bis März 1958 in Wien auf, sein Tagebuch "Winter in Wien", das postum veröffentlicht wurde, war ein Bestseller unter katholischen Intellektuellen im deutschen Sprachraum. In dieser Zeit verafsste Schneider auch diesen FURCHE-Text über den Satelliten Sputnik.

Der katholische Kultautor (1903-58) hielt sich von November 1957 bis März 1958 in Wien auf, sein Tagebuch "Winter in Wien", das postum veröffentlicht wurde, war ein Bestseller unter katholischen Intellektuellen im deutschen Sprachraum. In dieser Zeit verafsste Schneider auch diesen FURCHE-Text über den Satelliten Sputnik.

Die Tür ist aufgestoßen: sind wir der Nacht gewachsen, die uns entgegenflutet? Was ist zu erwarten als die in den Kosmos geworfene Projektion menschlich-kreatürlicher Tragik, der Geschichte, die nur für den Gläubigen Heilsgeschichte ist, aber unter dem von Dunkelwolken umdüsterten Sterne von Bethlehem? Sind wir denn dem Leben gewachsen? Wir haben für die Substanz der Kernschleifen, also Sitz des Lebens, nach heutiger Vorstellung das sich fortzeugende Leben selbst, keinen anderen Namen gefunden als „Chromatin“; es ist der Stoff, der unter unseren willkürlichen Experimenten Farbe annimmt. Man kann in der Taufe eines undefinierbaren Phänomens nicht vorsichtiger, nicht asketischer verfahren. Wir reden von der Energie, die die Sonne perennierend „aufbringt“, in PS ausgedrückt 200.000 Trillionen, oder davon, daß die Sonne „dient“, unsere Theorien der Sternentwicklung zu überprüfen; wir klassifizieren die Sterne als Unterwerkzeuge, Ueberriesen oder Unterriesen: das bedeutet doch nur, das Scheitern unseres Vermögens zu messen und vorzustellen, welches Scheitern zugleich im Makrokosmos wie im Mikrokosmos geschieht. Wir haben das schöne Bild eines „Waldes von Lichtzungen“ für die bis zu zehn- oder zwanzigtausend Kilometer Höhe aufflammende Chromosphäre der Sonne; es ist die von der Licht aussendenden Fläche zur Glut der Korona überleitende Schicht; in Wahrheit ist sie, was ihre thermische Beschaffenheit angeht, ein Dickicht sich fortsetzender Fragen.

Die Expansion der Erkenntnis

Die Sonne kann sich gegen die Beschuldigung nicht verteidigen, ein „Störsender“ zu sein, der unsere Kurzwellensendungen beeinträchtigt, aber noch eine andere Erscheinung kommt uns in die Quere: Sie geht offenbar vom Zentrum der Milchstraße aus, weswegen sie den rätselvollen Namen „galaktisches Rauschen“ empfangen hat.

Weder über die Entstehung des Milchstraßensystems, nicht einmal der Erde und des Mondes konnten die Forscher sich einigen; und ebensowenig über die Tatsache, daß die Sonne sich an ihrem Aequator rascher bewegt als an den Polen; daß der Uranus sich umschwingt in einer Richtung, die der Drehung aller anderen Planeten entgegengesetzt ist, oder über die Ursache auf dem Mars erscheinender, als Vegetation gedeuteter Flecken. Das Weltbild verändert sich ins Ungeheuerliche mit wachsender Schnelle. Noch kurz vor dem ersten Krieg wollten die Astronomen den Ort der Sonne nahe dem Zentrum des Milchstraßensystems gefunden haben: ein Versuch, unsere Erde doch noch als Mitte eines – freilich engen Raumes – zu rehabilitieren; erst 1927 wurde entdeckt, daß außergalaktische Gebilde, die wir für Nebel hielten, Sternsysteme unerhörten Ausmaßes sind. Aber folgen wir dieser explosiven Expansion der Erkenntnis? Halten wir ihr stand? Eine gewisse Kosmologie, über deren Gültigkeit ich natürlich nicht urteilen kann, hat für den Anfang – da „das All mit Machtgebärde in die Wirklichkeiten brach“ – den an Verzweiflung und Ironie unüberbietbaren Ausdruck „Urknall“ gefunden, das heißt: der Kosmos ist Bombe; auf einem Splitter jagen wir dahin. Ein Anfang war; es wird auch ein Ende sein: Nacht mündet in Nacht.

Das sind nur höchst dilettantische Versuche, eine Wahrheit zu bezeichnen, der wir uns nicht stellen; die der dürftige Stotterer Sputnik und sein armer Passagier samt der zu erwartenden zahlreichen Nachkommenschaft in die Gegenwart werfen: was wir entdecken, sind Fragen; die etwa einmal zurückkehrenden Satelliten samt den Filmen, Messungen, Leichen, die sie uns beschweren werden, bringen Fragen zurück in Ueberfülle. Wir rütteln am Weltenbaum und werden von Rätseln überschüttet. Ist es Pech? Ist es Gold? Fragen des Rechts, die abgründigen der Forschung, Versuchungen der von unseren Philosophen voreilig gefeierten tellurischen Macht sind, fast schon dem bloßen Auge sichtbar, am Himmel erschienen. Nie noch – es ist eine kühne, eine vielleicht doch nicht zu entkräftende Feststellung – hat sich die Tragik der Menschheit in solcher Eindringlichkeit dargestellt, wie durch den schwachen rötlichen Lichtstreif, den der sowjetische Irrstern durch den Nachthimmel zog. Wir werden bald ein Farbenspiel solcher Hieroglyphen bewundern können und es schwer haben, unbewaffneten Auges, ungelehrten Geistes Menschenwerk von Schöpfung zu unterscheiden. „Wie kann der Mensch Götter machen, die doch nicht Götter sind?“ hat der Prophet gefragt, dessen Los, Leid und Trost es gewesen ist, den Untergang zu verkünden als Weg des Heils.

Wir sollten Menschheit werden vor der Offenbarung unserer Unmacht, die wir selbst an den Himmel schreiben. Die Satelliten sind verzweifelte Fragen – und hundertfaches Echo der Fragen wird Antwort sein. Wahrscheinlich wird es gelingen, den Mond zu umfliegen, dann werden wir das Rätselantlitz erblicken, das uns vertraut ist, das uns bisher unbekannt blieb, weil es sich mit uns dreht. Wir sollten Menschheit werden am Küstenstreifen, vor der Verlorenheit. Aber auf unserem Wissen liegt keine Verheißung. Was wir aufbringen sollten an der Schwelle des Raums, ist weltumfassendes Ethos, ein Soll, das die Krücke der Verheißung abwirft, einen Glauben, der stark genug ist, in die tausend Augen der Finsternis zu blicken. Der Kosmos, der unergründliche, fordert die Menschheit heraus, Menschheit zu werden. Ist das möglich? Ist es das nicht? Die steinernen Masken der Osterinsel blicken ratlos in den Raum. In Vermessenheit sind wir in den Raum gestürmt, dem wir nicht entsprechen konnten: fassen wir den Mut, ein Gleichgewicht anzustreben zwischen unserer Wissenschaft und unserer Sittlichkeit; es ist das kühnste Unterfangen, dem die Menschheit sich unterziehen könnte; es ist einfach Notwendigkeit.

Der Sog der Leere

Nach aller Voraussicht werden sich in Kürze Menschen den vierbeinigen Passagieren der Raumgeschosse zugesellen; an Freiwilligen wird es kaum fehlen. Wir wollen den Sog der Leere nicht unterschätzen. Vielleicht setzt dann erst die Verarbeitung des Geschehens ein. Sicher ist es keineswegs; wir erreichen die Schwelle des Raumes; aber unsere Lebenszeit verbietet uns, sie zu überschreiten. Im Augenblick des Startes müssen wir sterben, im Angesicht der Unmöglichkeit. Forschung im heute gültigen Sinn wurde vor etwa 350 Jahren von Galilei und den großen Holländern eröffnet; wie sollte sie die Resultate von Jahrmilliarden einholen? Die Frage ist, ob die Raumschiffe, die das Schwerefeld der Erde für eine Weile überwinden, auch das bisheriger Geschichte durchbrechen können. Es ist die vom eben vergangenen Jahre aufgeworfene Frage, die fortan die Erde umkreisen wird, Sprache der Satelliten: sie sind Exponent der Geschichte, deren Sinn und Ergebnis es ist und bleibt, daß der Mensch sich selber ins Antlitz blickt; daß er sich, in unvorstellbarer Verlassenheit, ein Herz fassen soll zu seinem Menschentum. Wahrscheinlich wird er die Kraft dazu nur aufbringen im Namen Gottes, der Fleisch wurde, der einging in Kosmos und Menschheit; im Namen des Einen, den der Kosmos mit einem Rätselgestirn grüßte, als er kam; der in Macht ist, Menschheit im All zu konstituieren.

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