Dieser FURCHE-Text wurde automatisiert gescannt und aufbereitet. Der Inhalt ist von uns digital noch nicht redigiert. Verzeihen Sie etwaige Fehler - wir arbeiten daran.
China und das Rettende
In kleinstem Raum das größte Wunderwerk des Schöpfers Ist D Ä S ATOM. Sein Geheimnis, schon von Empedokles geahnt, in seinem Wesen vor dreihundert Jahren von Robert Boyle erkannt, von dem Forschergeist unseres Jahrhunderts enthüllt, steht vor dem modernen Menschen als der Stolz seiner Wissenschaft, die Hoffnung seiner Technik, als die Entzifferung eines der größten irdischen Welträtsel. Wieder wie einst vor dem Baum der Erkenntnis ist der Mensch vor eine Probe von unermeßlicher Bedeutung gestellt. An der Wiege des Menschengeschlechtes hat er das Paradies verspielt. Er würde auch noch seine Heimstatt auf dieser armseligen, mit Sorgen und Sünden bcladenen Erde verspielen, würde er sich versuchen lassen, mit dem Meisterwerk göttlicher Allmacht zu freveln und die Grenzen sittlichen Rechts zu überschreiten zur bewußten Zerstörung unschuldigen Lebens. Es darf kein zweites Hiroshima geben. Keine, gar keine militärische Notwendigkeit und keine Autorität, auch die UNO nicht, vermöchte auch nur die Erwägung zu rechtfertigen, die ein Verbrechen der Menschlichkeit in den Bereich militärischer Planungen zöge, die in dem Kampf von Giganten weithin diese Erde In ein gifteschwangeres Kraterfeld verwandeln würden.
Es wird dazu nicht kommen. Die ganze christliche Welt wird sich dagegen erheben.
Die Vorgänge im Fernen Osten beginnen ihr weltgeschichtliches Gesicht zu zeigen. Gelbe Millionenheere. An Zahl und Ausrüstung übertreffen sie, unvergleichlich, die Horden der Hunnen und Avaren, die Heere der Magyaren, Mongolen, Türken. Wenn die Wikinger und Sarazenen hundert Schiffe aussandten gegen die wehrlosen Gestade Europas, dann dröhnen heute die Motoren von hunderttausend Panzern und Flugzeugen.
Wenn wir in diesen Tagen in unseren Advent hineingehen, sehen wir hinter seinen Kerzen dieses großartige Geschehen: Kontinente erheben sich, Völker, Rassen, die Jahrtausende geschlummert, rüsten sich zu ihrem Weltadvent. Der Sprung über die Zeiten, hier aus der Wiege patriarchalischer oder matriarchalischer Stammesordnungen und Sippenverbände in die Lebensformen der industriellen Gesellschaft, folgt dem innern Gesetz aller dieser Sprünge, demgemäß sie allein stattfinden können. Dieses Gesetz heißt innere Umwälzung, Revolution, Krieg. Seiner Spannung, seiner Anspannung aller Kräfte gelingt allein das Außerordentliche: die Veränderung der spezifischen Gewichte, die Umprägung der Substanz, die Schaffung eines neuen Gesichts.
Um dieses neue Gesicht ringen die erwachenden, aufstehenden Völker und Nationen der Welt jenseits Europas. Für uns heißt das zunächst die Bestätigung einer Erfahrung, die uns kluge, einsichtige Missionare, so in Frankreich etwa Naidenoff S. J., in den letzten Jahrzehnten oft genug vorgestellt haben: nicht nur unsere Kleidermoden und politischen Strukturen, auch unsere Denk-und Glaubenssysteme sind jenen Völkern zutiefst fremd; sie schicken sich an, sie abzustreifen, wie eben ein fremdes Kostüm, in das ältliche Lehrer und Schulmeister sie gezwängt haben. So sicher dieser Sachverhalt heute erkannt werden kann, so unsicher, so wenig erkennbar sind wichtige Komponenten dieses Prozesses. Wir wissen weder, wie das werdende, neue, eigene Gesicht dieser Kontinente und wahrhaft neuen Welten aussehen wird, noch wie lange dieser Entwicklungsprozeß dauern wird, und auch nicht, welche Elemente unserer weißen, europäisch-christlich-humanistischen Kultur er sich einformen wird.
Ein einfaches großes Beispiel zeigt die ungeheuren Schwierigkeiten solcher weltpolitischer Gestaltungen auf. Die einzige „neue Welt“, die wir bisher kennen — Amerika (die beiden Amerika) ist vierhundert Jahre von unserem Fleisch und Blut und Geist gezeugt, geschaffen, genährt worden —, dennoch wagt kaum ein Kenner ihrer Verhältnisse, ihrer inneren Spannungen und Wachstums krisen heute schon ihr neues Gesicht, ihr spezifisches, eigentümliches Gewicht zu bestimmen.
Eine Frage also der Jahrhunderte.. •
Fast wird sie aus unserem Blickfeld verdrängt durch die Frage der Gegenwart — uns interessiert verständlicherweise zunächst nicht, was wird in kommenden Jahrhunderten aus den Völkern und Kontinenten, die soeben die Bühne der Weltgeschichte mit eisernem Schritt betreten, sondern: wie ist es um uns bestellt, was geschieht mit uns, was soll aus uns werden? Wobei wir unter „uns“ jenes Flechtwerk sehr verschiedenartiger Menschen, Geister, Strukturen verstehen, das am westlichsten Kap des panasiatischen Kontinents die Erde überzieht und eben „Europa“ bildet, seine Lebensart und Gesittung, sein Wesen, seine Substanz.
Seltsamerweise hängen die beiden großen Fragen — was wird aus jenen Völkern, und was ist es heute mit uns — intim, direkt und sehr eng zusammen.
Das Schicksal jener Kontinente wird mitbestimmt durch das, was wir durch diese Zeit hindurch tragen, bezeugen, retten.
Der Aufgang jener Völker und Kontinente vollzieht sich nach demselben Gesetz, unter dessen Schwere und Gnade einst Europa, das Abendland, entstand.
Ein kurzer Blick mag genügen. Alles hing damals davon ab, ob es gelingen würde, den aus der Tiefe Asiens und der Höhe des Nordens vorbrechenden Völkern die Elemente des Christlichen und der Antike, als Ordnungs- und Wachstumsfermente, der neuen Welt zu mittein. Sie nicht untergehen zu lassen mit jenen Reichen, in jenen sozialen und mentalen Formen, in denen sie selbst entstanden waren.
Keiner noch hat die tausend Kriege, Raubzüge, Plünderungen und Uberfälle gezählt, denen die reichen Städte der Spätantike in unseren Zonen ausgesetzt waren. Da floh die Kultur und Geistigkeit in die Klöster. Montecassino. Aller Glanz und alle Kraft der Bewahrung und Mittlung aber sammelte sich in den großen Klöstern der britischen Inseln, in Irland und England: Clonard, Bangor und Clonmacnoise, Jona und Derry, und gar
Lindisfarne, Jarrow... Wer kennt bei uns heute ihre Namen? Nach kurzem Bestand gingen sie in Trümmer auf. Niedergebrannt, von den Wikingern. Auf den Altar der hl. Kiara in Clonmacnoise erhebt der Wiking Turgeis sein Weib, eine heidnische Prophetin — tausend Jahre später erhebt man in Notre-Dame die Göttin der Vernunft. Aber von eben diesen kurzlebigen Klöstern der fernen Inseln wurde Europa missioniert und in die Kultur der Nachantike einbezogen.
Das ist die Geschichte des 8. und 9. und 10. Jahrhunderts. Das sind die Anfänge Europas! Ein halbes Jahrhundert etwa fahren Jahr für Jahr die Nordmänner aus und plündern und verwüsten die Abteien und Städte Europas von Hamburg bis Bordeaux, während vom Nahen Osten die Magyaren vorstoßen, deren Truppen sich mit den auf den Alpenpässen im Hinterhalt liegenden Sarazenen, die vom Süden kommen, treffen.
Das sind uns sie Anfänge... Was hilft ihre Betrachtung uns, in unserer Gegenwart? Wir können an ihnen wörtlich ablesen, was wir selbst jenen Völkern, die heute um eine neue Selbstrindung ringen, tu geben haben und wie wir uns selbst bewahren.
Das sind ein paar sehr einfache Dinge und Lehren.
Es gibt Dinge, sehr viele sogar, mehr als wir oft selbst glauben wollen, die sind hinfällig, zerstörbar. Sie wachsen in der Zeit, werden von ihr getragen und behauptet. Zu ihnen gehört sehr viel von dem, was uns lieb und teuer ist. Die Wohnungseinrichtung unserer Zivilisation, mit unseren äußeren und inneren Gepflogenheiten und Lebensgewohnheiten. Halten lassen sich diese Sachen nicht. Der Bombenkrieg und einige andere Erfahrungen beweisen dies.
Dann gibt es andere Dinge, sehr viele sogar, die wir oft gar nicht sehen, die unzerstörbar sind. Ihnen eignet das eigentümlich Unsterbliche irdischer Geschichte: das Rettende, Heilende. Sie retten und werden gerettet, zeugen, bezeugen und werden bezeugt.
Es wird gut sein, wenn wir uns in Hinkunft etwas mehr auf diese Dinge besinnen. In unserem Advent, mitten im Weltadvent der neuen Völker.
Unsere Situation ist durchaus jene des Aeneas: jener trug die Hausgötter, den Vater und alles, was ihm lieb war, auf Schulter und Herz durch die Flammen der gefallenen Götterstadt. Pius Aeneas, der fromme Aeneas: fromm, das heißt sicher, stark im Vertrauen auf den heilen Sinn der Zukunft, des ihm Zukommenden.
So ergeht es heute auch uns. Wir werden alles das mitnehmen in die Zukunft, was wir zu tragen, zu bezeugen, zu leben bereit sind. Wählen wir also klug, vorsichtig und gläubig, was wir wirklich zu tragen bereit sind. Werden wir uns auch klar darüber: zahlreiche Positionen können wir nicht halten, nicht behalten. Sie sind zu groß, zu schwer, zu belastend. Die Krücken mancher Systeme erweisen •ich, in der Nähe besehen, als Hindernis, uns und die Welt so zu sehen, wie es wirklich ist. Wir sind auch gänzlich außerstande, gewisse kulturpolitische und madhrmaßlge Stellungen zu besetzen, die einhundert, fünfhundert, tausend Kilometer östlich oder westlich von uns liegen.
Müssen wir deshalb untergehen? Dürfen wir deshalb vom Untergang des Abendlandes sprechen? Die Mönche und Arbeiter in Montecassino — wie oft wurde jene Stätte, auch damals schon, verheerend verwüstet, dachten nicht so. Sie hatten nicht einmal Wort und Begriff des Abendlandes, aber sie retteten es, indem sie es in Opfer und Entsagung, in Gebet und Arbeit neu schufen. Wir haben viele Worte und Begriffe, scheinen aber oft gänzlich außerstande, das Heilende zu tun: weil wir die Reduktion, die Beziehung auf das '-Wesentliche nicht wagen.
Begreifen wir es, in diesem großen
Advent, der viele Gesichter trägt: Es liegt nicht an der bösen Welt, der „anderen“, und jener Kontinente, die in einem ungeheuren Umformungsprozeß begriffen sind, es liegt an uns. „Res ad triarios venit, sagten die Römer, wenn die Entscheidung in der Schlacht nahe-Tückte. Wir übersetzen dies sehr frei: kein General wird uns helfen können, wenn wir selbst nicht, vielem entsagend, nüchtern und mannhaft das ergreifen, was wir im Leben zu bezeugen und durch diese Zeit zu tragen bereit sind. Gott ist größer als unser Herz, als die Enge auch unseres Geistes und unseres Urteils. Er versagt nicht seinen Segen dem Gewissen, das zur Verantwortung bereit ist.
So nehme jeder das Seine an sich, sein höchstes Gut, und gehe an die Arbeit des Tags. Bis aus den Fluten sichtbar neue Ordnung aufsteigt, tragend die ewigen, die unzerstörbaren Werte: die kleine, zage Menschen gerettet, getragen haben durch die Sturmflut der Zeit, wie jene betenden Arbeiter Westeuropas, die Mönche vor tausend Jahren, die Jahr für Jahr mit den Gebeinen ihrer Heiligen auszogen, wenn über See und über Land die Rotten der Mörder kamen.
Ein Thema. Viele Standpunkte. Im FURCHE-Navigator weiterlesen.
In Kürze startet hier der FURCHE-Navigator.
Steigen Sie ein in die Diskurse der Vergangenheit und entdecken Sie das Wesentliche für die Gegenwart. Zu jedem Artikel finden Sie weitere Beiträge, die den Blickwinkel inhaltlich erweitern und historisch vertiefen. Dafür digitalisieren wir die FURCHE zurück bis zum Gründungsjahr 1945 - wir beginnen mit dem gesamten Content der letzten 20 Jahre Entdecken Sie hier in Kürze Texte von FURCHE-Autorinnen und -Autoren wie Friedrich Heer, Thomas Bernhard, Hilde Spiel, Kardinal König, Hubert Feichtlbauer, Elfriede Jelinek oder Josef Hader!