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DIE GEHEIMNISVOLLE KUGEL

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Für midi haben Kugeln etwas Faszinierendes. Zur vergangenen Weihnachtszeit hingen sie überall in den Schaufenstern — goldene, silberne, grüne, blaue und rote. Sie nahmen die Welt krummgespiegelt in sich herein und blieben unangreifbar als die vollkommensten aller Figuren. Man hat bei ihrem Anblick ein Gefühl, das man vor allem Schicksalsmäßigen empfindet, wie vor Licht und Dunkel, vor Geburt und Tod. Denn die Kugel ist unser Schicksal, weil wir ja auf einer leben — von ihrer Drehung, welche Tag und Nacht, von ihrer Schiefstellung, welche die Jahreszeiten macht. Fast komisch: kaum dreht sie sich in ihren Schatten, fangen alle an zu gähnen und beginnen zu schnarchen. Und wie erst leben wir von der großen goldenen Kugel der Sonne!

Wir aber schauen das kugeldurchkreiste Weltall wissenschaftlich an, da Wissenschaft ja das Große in unserer Zeit ist, und konstatieren, daß unsere Erde eher ein etwas abgeplattetes Rotationsellipsoid vorstellt. Und seitdem die Satellitenmücken den Planeten umschwirren, mußten wir zu unserer Verlegenheit feststellen, daß dieses Ellipsoid sogar eine bimenförmige Ausbuchtung hat... Auch sonst leben wir in einer gewissen Sternenttäuschung, denn was von ferne so wunderbar leuchtet, wie zum Beispiel der Stern Mars, stellt sich bei näherer Betrachtung als eine arme, pockennarbige Steinkugel heraus, ganz ohne Marsikanäle, Gondeln oder Musik — und auch mit dem Mond soli’s nicht anders sein: das sind öde, nur von der Sonne lichtverzauberte Kugeln. Doch die wahre Mondenttäuschung steht uns noch bevor, wenn wir für tausend Milliarden Dollar auf ihm gelandet sein werden ... Die fliegenden Untertassen von Anno Jung waren Geschöpfe aus Angst und Sehnsucht, imaginiert von uns, dem Robinson im Weltall.

Der Sonnenball verhält sich zum Erdball wie Gott zum Menschen — kein herrlicheres Symbol für den Schöpfer als die Sonne! Es gibt im Grunde nur zwei natürliche Religionen: man betet die Sonne an oder die Erde; man hat eine Geistesreligion oder eine Fruchtbarkeitsreligion. Aber die Fruchtbarkeit betet selber den Geist an, denn was als Pflanze wächst, wächst ja zur Sonne empor. Man denke nur an den Drang zur Sonne in jedem Walde.

Und diese Erdkugel ist noch in andrem Sinne unser Schicksal, nämlich darin, daß ihre Größe unveränderlich bleibt, während doch die Zahl der Menschen auf ihr immerfort wächst. So lebt heute die Menschheit in zwei Befürchtungen: entweder durch die Atombombe unterzugehen oder durch die Menschenexplosion — entweder durch den Haß oder durch die Liebe.

Der Mann, der als erster die Erdkugel allein umsegelte, hieß Kapitän Slocum. Als er in Südafrika landete, hatte er eine Audienz bei dem Präsidenten von Transvaal, dem berühmten „Ohm Paul“1. (Dieser Ohm Paul wurde im Burenkrieg besiegt und aus dem Lande gejagt, doch was er in seinen kühnsten Träumen nicht erwartet hätte, hat sich heute verwirklicht: ganz Südafrika ist Buirenland geworden.) Vor der Audienz aber wurde dem Weltumsegler eingeschärft, daß er dem Präsidenten nur ja nichts von einer Erdkugel erwähnen dürfe, weil der als guter Fundamentalist die Erde für flach wie einen Pfannkuchen halte. Da dürfe man ihm nicht drein- reden.- . . .

Das Werden einer Kugel erfüllt uns mit Entzücken, wie in den Glasbläsereien von Murano; weniger schön, sondern mehr überraschend, ist jener Kaugummi, wo der zarte Kindermund plötzlich eine Riesenkugel bis an die Augen herausbläst — Augen, die sich an unserem Entsetzen weiden. Doch die wunderbarste Kugel sah ich als Kind im Garten der großen Gilde in Riga: Auf dem steigenden Strahl eines Springbrunnens, ganz oben, wo er sich zu einer Dolde ausbreitet, tanzte eine goldene Kugel! Es war ein Bild der Seligkeit, das mich selig machte.

Wir selber tragen ja in unserem Leib Kugeln, und zwar ist alles kugelhaft, was sich schnell bewegen muß: Augäpfel und Kugelgelenke. (Wobei ich Schillers grandiosen Witz vom Busen des Weibes als den „Halbkugeln einer besseren Welt“ geflissentlich übergehe...) Immer sind Kugeln dabei: gekämpft wird im Krieg mit Kugeln und im Frieden um

Kugeln, bei Fußball und Tennis. Auch ist das Klicken der Billardkugel ein Symbol von Ursache und Wirkung. Am wunderbarsten aber sind die schwebenden Kugeln der Seifenblasen: Kinderatem, der die Welt spiegelt.

II.

Die geheimnisvollste Kugel ist aber jene, auf der wir leben und in der wir begraben werden. Wollte man eine Kugel, groß wie eine Orange, so fein schleifen als es nur geht, so würde sie, bis zum Erdball vergrößert, dennoch Gebirge und Schluchten haben, die weit über unsere irdischen hiraaus- gehen. Vor jedem Globus im Schaufenster suche ich die Sprache jener Hieroglyphen zu enträtseln, mit denen diese Kugel tätowiert ist. Warum ist der Nordpol ein Meer, umstanden von Land, und der Südpol ein Land, umstanden von Meer? Warum fließen die Äquatorialwasser der Ozeane gegen die Erddrehung nach Westen, die Polarwasser aber nach Osten, wo doch die Drehgeschwindigkeit der Erdoberfläche am Äquator am größten ist? Aber vielleicht gerade darum, und uns kommt es wie ein Strömen vor, was in Wirklichkeit ein Zurückbleiben ist? Warum ist der Luftpelz der Erde, zugleich das Feuerzeug für alle Meteore, warum ist er blau? Doch halt, das hat Goethe als erster Mensch erklärt: Weil jede beleuchtete Trübe vor dunklem Hintergrund blau ist.

Nur langsam enträtselt sich uns die stumme Sprache des Planeten, dessen Kugel die Verkörperung des Kreisens bedeutet. Wodurch ist Europa geschaffen worden? Durch das Christentum, durch das Griechentum, durch Cäsars Gallischen Krieg? Durch Mittelmeer und Ostsee? Nein, die erste Ursache liegt tiefer. .. Und ist es, anderseits, ein Zufall, daß der tiefste, toteste Punkt der Erde, das Tote Meer, aus fürchterlich verwandeltem Jordantaufwasser besteht und Jerusalem so nahe liegt? Oder daß diese hochgebaute Stadt am Treffpunkt dreier Erdteile gelegen ist? Woher hat der hellenische Mythus das vorausgewußt, als er die Prinzessin Europa durch den göttlichen Stier vom Ufer Palästina nach Kreta entführen ließ, also vom Judentum zum Griechentum?

Die erste Ursache zur Entstehung Europas lag tief auf dem Grund des Atlantischen Ozeans verborgen, und wurde erst vor ein paar Jahren durchs Echolot entdeckt: Das ist ein ungeheurer Graben, eine Schluchtlinie, die von Norden nach Süden sich auf dem Boden des ganzen Atlantik hinzieht wie die Narbe eines furchtbaren Risses. Das sieht aus wie ein globaler Reißverschluß: „The Mid-Atlantic Rift“.

Eine atemberaubende Entdeckung, denn sie erst hat uns die Geburt Europas entschleiert. Daß das Westufer Europa— Afrika dem Ostufer der beiden Amerikas entspricht, weiß jedes Schulkind beim Blick auf die Karte. (Und dieses einstige Zusammenhängen war schon immer durch die Tierwelt Südamerikas angedeutet, die im vergangenen Jugendzustand der afrikanischen Fauna verblieben ist.) Doch nun stellte sich heraus, daß dieser Graben erstens jede Kurve der beiden Uferkonturen nachmacht, und zweitens, daß er genau in der Mitte zwischen beiden liegt. Das erste, das Wiederholen der Uferkurven, zeigt, daß er mit ihnen etwas zu schaffen hat. Das zweite, daß er sich dabei genau in deren Mitte hält, zeigt aber, daß er deren Ursache ist, indem die drei Linien ursprünglich eins waren. Er ist ein Riß (das künden die Vulkane von Island bis Tristan , da Cunha), der die so entstehenden Kontinente in seinem Platzen gleichmäßig auseinandertrieb. Und damit Raum für jenes einströmende Wasser schuf, welches heute Atlantik heißt. Dieser aber schuf mit seinem Golfstrom Europa.

Und hier sei mir eine Abschweifung, eine „kurze Pause“, wie es im spannendsten Kinoaugenblick heißt, gestattet. Es war ein Verdienst der Romantik, im Sein das Gewordene zu erkennen — so wurde ihr neunzehntes Jahrhundert die Zeit der wissenschaftlichen Entdeckungen. Dank dieser geistigen Bereitschaft entdeckte man seltene Wanderungen von Erdteilen und einstige Nutationen der Erdachse. Denn wie soll man sich’s sonst erklären, daß in der sterilen Antarktis versteinerte Baumstämme uralter Epochen gefunden werden und auf Spitzbergen Kohle gewordene Reste tropischer Bäume? Uns kommen Ahnungen von Landbewegungen — oder Polbewegungen —, die es irgendwie, irgenwann, aber unbedingt wirklich gegeben haben muß. Was feststeht, steht nicht gar so fest, wenn man bedenkt, daß unsere Alpen einst auf der lombardischen Tiefebene saßen und von dort nach Norden gerutscht sind. Ebenso ahnen wir einen riesigen Riß, der -einst von den beiden - kaum noch zusammenhängenden Amerikas, vom Karibischen Meer bis zum Baikalsee gereicht' hat, mit seinen Spuren: Mittelmeer, Schwarzes Meer, Kaspisches Meer, Aralsee (der letzte Tümpel eines verschwundenen Riesenmeeres), Balkaschsee und endlich der Baikalsee, denn wie kommen sonst Seehunde in den 800 km langen Baikal? Und warum ist dieser ungeheure Weg zugleich eine Erdbebenstraße? Wir beginnen die stumme Sprache der Erde eben erst zu buchstabieren.

III.

Doch das Werden des Atlantischen Ozeans, von dem auf seinem Grunde jener Nord-Süd-Graben Kunde gibt, hatte für die Ozeanströmung entscheidende Folgen. Denn alsbald bildete sich im Südatlantik der typische Wasserstromkreis: kaltes Wasser strömte, durch die Erdrotation von seiner West- Ost-Richtung abgelenkt, längs der afrikanischen Küste zum Äquator, um dann als warmer Äquatorialstrom nach Amerika hin zu fließen. Nun aber das Entscheidende: bei jenem großen Auseinandersprengen kam Südamerika mit seiner „spitzen Schulter“ (bei Pernambuco) so zu liegen, daß es diesen warmen Südäquatorialstrom teilt, so daß die Hälfte von ihm nordwestlich ins Karibische Meer hingelenkt wird und sich mit dem warmen Nordäquatorialstrom vereinigt. Dieses, daß die Südhalbkugel von ihrer äquatorialen Wasserwärme der Nordhalbkugel abgibt, kommt nur ein einziges Mal auf der Erde, eben hier, vor. Das also sind die beiden, die Kraft des Golfstromes (dieser Zentralheizung Europas) bewirkenden Umstände: jene den südlichen Warmstrom teilende „spitze Schulter“ und das schmale Mittelamerika, welches das Warmwasser staut und zurückreflektiert. Und dieser Strom traf ein ihn mit allen Gliedern aufnehmendes Halbinselreich. Kurz: Absprengung und Golfstrom sind eins — in der Schöpfung Europas! Ohne dieses Auseinanderreißen, ohne dieses geheimnisvolle Platzen des Planeten wäre das, was heute Europa heißt, ein wasserarmes, eisiges Stück Asien geblieben. Nur so konnte es ein Erdteil der Halbinsel, des Humors, der Seeleute und der Entdecker der Erdkugel werden.

Der mittelalterliche Kaiser, mächtigster der Menschen, hält die Kugel als Reichsapfel starr in der Hand. Und das Kind wirft sie als Spielball lächelnd einem anderen Kinde zu... Welche Kugel ist mir am unheimlichsten gewesen? Jener lautlos durchs Fenster hereinschwebende Kugelblitz? Oder jene mannshohe schwarze Eisenkugel, eine türkische Treibmine, die ich 1914 am Ufer des Schwarzen Meeres fand, und die jeden Augenblick explodieren konnte? Doch nein, am schauerlichsten war eine Kugel, die ich im Kino gesehen habe: den Astronauten begegnet im Weltall ein kleiner irrender Stern, eine ungeheure rotglühende Kugel, die donnernd auf sie zufliegt, und schon den halben Himmel rot einnimmt... Daß es so etwas wirklich gibt, einsam durchs Nichts einherdröhnend, das war das Furchtbare...! In der Nüschelerstraße in Zürich gibt es das Schaufenster einer Kugellagerfirma, da ist ein Perpetuum mobile ausgestellt: eine orangengroße Kugel aus Hochpräzisionsstahl, die langsam die Glasscheibe entlang und wieder zurück rollt, entlang und wieder zurück. Auf ihrem glattpolierten Leibe spiegelt sie fortlaufend die Straße, und auch mich, wenn ich gerade davorstehe. Das tue ich häufig. So wie man ein Gedicht immer wieder liest.

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