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Athen als Erlebnis

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Es gibt keine Stadt der Erde, die in ihren Schicksalen Athen gleichen würde. Ihre Seele ist aber das Maß alles Gewohnten herausgehoben, erhellt Tom Strahlenkranze der Freude, aber auch umschattet von der Tiefe der Trauer und des schmerzlichen “Wissens.

Man kann sie den Schnittpunkt und Schmelztiegel fast aller Völker und Kulturen der alten “Welt bis zum Ausgang des Mittelalters nennen. Sie ist die Sehnsucht und das Ziel Unzähliger gewesen und zum romantischen Inbegriff des Schöngeistigen geworden.

Dennoch umkreisen alle Gedanken einen nur sehr engen Bezirk, wenn man an Athen

denkt: die Akropolis und einen schmalen Kranz mehr oder weniger verfallener Gebäude, verschütteter Brunnen, überwucherter Plätze mit den Trümmern von Tempeln.

Nirgends anders in der Welt sind so tiefe Gedanken gedacht worden, ' daß eine dauernde Wechselbeziehung zwischen der Menschheit und der Gottheit, oder den Göttern, oder — wie der Apostel Paulus einmal sagt — zu dem großen unbekannten Gotte besteht. Einzig und allein bei den Griechen gab es einmal während, einer kurzen Zeitspanne den vollkommen klar erkannten glückhaften Zustand, da die Schalen der Waage in der Schwebe waren, wo die Menschen mit den Göttern auf Du und Du standen, miteinander scherzten, haderten, handelten und sich, wenn nur irgend möglich, übertölpelten, als seien sie Kinder ein und desselben Geschlechtes.

Innerhalb dieser Epoche, die etwa zwischen fünfhundert und dreihundertfünfzig vor der Zeitenwende liegt, ist- all das an schöpferischen Kräften zur Entfaltung gekommen, was seither als das höchste erreichte Maß an Künstlertum und Kultur verehrt wird.

Erst mit diesem Wissen beleben sich die Trümmer der Heiligtümer und tragen etwas vom menschlichen Atem, von Glück und Tragik des menschlichen Wesens an sich. So erst sind sie nicht tot und stumme Zeugen einer verlorenen Zeit, zu der uns seelische Verbindungen fehlen.

Nein, sie sind nicht tot! Man ahnt die Zusammenhänge in einer ähnlich behutsamen Weise, wie sich unsere Seelen mit den Abgestorbenen verbunden fühlen, die vordem unter uns weilten und uns teuer geblieben sind.

Unsere Erwartungen sind meist törichte Vorstellungen. Wir suchen allein das Schöne, Vollkommene, Erhabene, das unser hymnischer Lobgesang verklärt. Schulwissen muß man vergessen. Griechenland, und vor allem Athen, ist allein aus den Tiefen der Seele zu erkennen. — Man wird zunächst von

einer modernen Stadt mit Autobussen, U-Bahn und .“breiten Straßen, mit kostbaren und kitschigen Auslagen, mit Luxus und Elend empfangen. Man wird von einem immerwährenden, vielstimmigen Dröhnen begleitet. Es ist wie das Summen eines schwärmenden Bienenvolkes, nur lärmender und ohne Unterbrechung. Hier kann man den Begriff des Handelns und Feilschens in seiner vollen Bedeutung kennenlernen; vor allem auf dem Omoniaplatz, wo der Ramsch, die Ausschußware ganz Europas liegt, und wo es nicht nur betrügerisch, sondern auch lebensgefährlich zugeht. Inmitten des ärgsten Trubels sitzen hier die ärmsten Flickschuster und Schneider, die nichts be-

sitzen als die nackten Wände ihrer Buden und Laden, vor denen sie werkend hocken und nervös zwinkernd aus rotumränderten Augen durch zerbrochene, stahlgefaßte Brillengläser über das tosende Schieben und Hasten hinwegblicken. Uberall schreit, bläst, pfeift, tutet, gröhlt und singt es in südlichen Temperamentsausbrüchen durcheinander. In diese Wirrnis schießt die grelle Sonne Millionen glühender Pfeile. Wolken von Ver-wesungs-, Armuts- und Knoblauchdüften liegen wie ein Helm über Plätze und Straßen gestülpt.

Das ist das moderne Athen, wie es, freilich mit langen Unterbrechungen, seit mehr als zweitausend Jahren modern war, mit seiner hastigen Betriebsamkeit, mit seinem Schacher, seinem Glanz und Elend.

Wo sind die glühenden Herzen, wo Besinnung und Versenkung, wo Kultur und der Flug hoher Gedanken zu finden? Wo sind Gläubigkeit und Philosophie zu Hause? Wo begegnest du den Spuren der Göttin Pallas Athene? £

Entfliehe dem lauten, modernen Athen, aber auch jenem baufälligen, niederbrechenden, ineinandergeschachtelten, hungernden und fiebernden Athen, das seine Elendshütten in den Schutt uralter Paläste, Tempel und öffentlicher Gebäude versteckt hat. In diesen Quartieren spürst du die Türkenzeit. — Den Völkern Vorderasiens fehlt jeder Sinn für Schönheit und Ordnung. Wo sich die Armut festgenistet hat, schleicht die Hoffnungslosigkeit einher; diese aber fragt nicht nach Schönheit.

Aber hier, ein paar Schritte abseits, hast du den berühmten polygonalen „Turm der Winde“, jenes erste astrologische Observatorium aus klassischer Zeit. Der Fries trägt die Sinnbilder der Winde als Lebewesen eigenständigen Charakters, als göttliche, oder wenigstens halbgöttliche Wesen. Wieder ist es die Berührung des Menschlichen mit dem Oberirdischen, Unerforschbaren, das vertrauliche „Du“, wenn auch schon von müder Skepsis und Mißtrauen

überschattet. Wenige Schritte weiter beginnt ein Trümmerfeld zerschlagener Steinbilder, Säulchen, Reste von Türeinfassungen und anderen, nicht mehr deutbaren Dingen.' Der geschändete Marmor aber leuchtet weiß oder bläulich überhaucht, wie am ersten Tage, da er durch Sklavenhände aus den Bergen gebrochen wurde und die liebkosend-werkende Künstlerhand ihn belebte. Und wiederum wenige Schritte, da steht das winzige byzantinische Gotteshaus auf halber Höhe des Akropolis-Felsens, das allen Religionen durch die Jahrhunderte als Kultstätte gedient hat: den Heiden, Christen und Mohammedanern.

Von hier aus gleitet dein Blick in die Tiefe, und du siehst das Gewimmel des Omoniaplatzes. Seit ältesten Zeiten ist dieser Bezirk der Treffpunkt der Händler. Ich weiß nicht mehr, ob es“' Pausanias oder Thukydides schreibt, daß hier von altersher — damals schon — die Eisenhändler saßen, dort die Schuster, und so jedes Gewerbe. Spricht dieses Festkleben an so eng umgrenztem Orte, diese zähe Beharrlichkeit durch Jahrtausende, nicht für das menschliche Geschlecht?

Und' nun verhalte einen Augenblick, besinne dich, daß die ganze Kulturwelt immer wieder zum Sturme gegen diesen Berg, gegen die Akropolis, angetreten ist; mit roher Gewalt, aber auch mit den Waffen des Geistes, mit suchenden, liebenden und schmähenden Gedanken! Und hier, hier ist der Areo-pag, dieser lächerlich kleine Fels, von dem aus Demosthenes, der einstige Stotterei*, gewaltig redend Athen in Bann hielt, Perikles seine Gesetze verkündete, und Paulus seine predigende Stimme erhob: „Tut Buße!“, derselbe Paulus, der von den Stufen des Theseustempels die angebrochene neue Zeit verkündete.

Und so wie alle die früheren Zeiten wird auch unsere Zeit ihre unauslöschlichen Spuren hinterlassen und dennoch eingehen in die Stampfmühle der Vergessenheit. Nur ein dünner Hauch von ahnendem Grübeln wird fernen Geschlechtern Zeugnis geben von dem stets gleichen, stets erfolglosen Bemühen der Menschheit um Erkenntnis, Weisheit und inneren Frieden. So wie Plutarch sagt, daß die Wechselfälle des Glückes keinen so großen Einfluß haben, daß sie unser Leben unglücklich und elend machen könnten. So muß sich jedes Jahrhundert,. jedes Geschlecht, jeder Mensch immer wieder um Erkenntnisse bemühen.

Nun durchschreite rasch das Tor der Akropolis; es ist von Franken und Türken

gebaut, die nichts mehr von der Heiligkeit dieses Ortes wußten. Hier auf den Stufen zu den Propyläen laß uns auf den Mond warten. Laß es erst still werden, und lausche, versenke dich ganz in dich, als sei dein Ich von dir genommen, als erfüllte eine Sehnsucht uns, nie wieder zurückzukehren zum irdisch-greifbaren Dasein. f

Siehe, da vereint der aufsteigende Mond sein strahlendes Licht mit dem schimmernden Glänze des Marmors; und auch die andere Form des Lichtes, das Dunkle, die Schatten, sie umschweben geisterhaft“ die Propyläen, die wie eine Drohung ins Riesige emporstreben. Wie hallt der gemessene Schritt der jungfräulichen Göttin! Selbst der Stein atmet die Süße Pallas Athenes. Es ist, als ob die Göttin der frevelnden Menschheit die versöhnliche Rechte böte. Denn dieser Berg gehört der Göttin, dem weiblichen Wesen! Selbst das Niketempelchen mit der sandalenlösenden Göttin im Fries ist so weiblich-bescheiden, keusch, zierlich, daß man es ephebenhaft nennen möchte, so widersinnig es auch ist.

Wenn man von hier aus in die stolze Runde blickt, begreift man, warum dieser Berg gerade als Mittelpunkt der Welt galt. Angesichts der Größe dieser Landschaft, die von der blitzenden See her ihre volle Bedeutung erhält, mußte sich ein ausgeprägtes Herrschertum entwickeln. Die Form war unerheblich, sein Inhalt war groß, er entsprang dem Wissen, daß alles Leben auf Wirkung und Gegenwirkung beruht. Es gibt keine Worte und wären sie noch so dit/hyrambisch, womit du die Größe, das Geheimnis und Wunder der Akropolis mit ihrem Parthenen und Erechteion und all den anderen Resten ehrwürdiger Denkmäler preisen könntest!

Eine tiefe Erschütterung rüttelt an den Grundfesten deines Seins. Alles ahnende Wissen, jede Erkenntnis, aus schmerzhaftem Suchen geboren, alle Sehnsucht nach Vollkommenheit — sie vergehen. Was immer du , sagen magst ist nur ein irres Stammeln voller Glück.

Uber die Stadt breitet sich die Süße der Nacht, bis an den Lykabettos und an die Hänge des verdämmernden Hymettos und Pentelikon, bis zum Parnaß und hinüber nach Acte und dem Piräus, nach Salamis und Ägina und über das schaumgekrönte, aufschimmernde Meer.

Schweigend steige hinab in die seltsame Stadt, denn der Glanz des Unsterblichen hat deine Seele berührt.

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