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REISEN: FLUCHT ODER EINKEHR?

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Die Frage Tolstois „Wieviel Erde braucht der Mensch?“ kann nach beiden Extremen hin beantwortet werden, ohne aus dem Grad des Verzichts oder Anspruchs Tugend oder Untugend abzuleiten, wenngleich Ovid bei der Darstellung seiner „Aurea Aetas“ das Fehlen der Reiselust als Tugend preist und Dichter und Denker aller Zeiten bewiesen haben, daß der kleinste Ort ausreicht, um die Welt gründlich kennenzulernen und selbst größten Wissensdrang zu befriedigen. Auf die Frage, warum er Athen nie verlasse, antwortete Sokrates: „Die Bäume lehren mich nichts, wohl aber in der Stadt die Menschen.“

\ Wenn wir also im Verzicht auf das Reisen, in diesem „Nicht fliehen — sich finden“, einen Akt der Selbstbewahrung erblicken, so sagt das keinesfalls, daß echte Reiselust, wahre Nötigung des Herzens, irgend etwas gemein haben mit der „Flucht vor dem Ich“, der Selbstentfremdung des modernen „Automenschen“, der ja Kurzweil, nicht Übung geistiger Kräfte, Vergnügen, nicht Freude und Schönheit sucht, weil ihm für das Erlebnis des Schönen die fundamentale Voraussetzung fehlt, nämlich die Unbefangenheit. Diese Art von flüchtiger Bekanntschaft mit des Teufels Kulissen ist natürlich keine Eroberung einer Landschaft mit dem Herzen, wie sie ein Eichendorff und seine Zeitgenossen ins makellose Lied gehoben haben. Man glaubt heute, mit jeder neuen Umgebung im Nu vertraut zu sein, ohne daß die Gesichter von Gebirge, Himmel und Meer jemals ein Teil des Menschen selbst werden, ohne daß sich eine von Ahnungen erfüllte Landschaft mit dem menschlichen Wesen vereint, wie wir es in der „Campagna-Vedute'“ von Reinhard Raffalt erleben — um nur eine seiner ungezählten in „Kupferstechermanier“ zu passioniertem Wort gebrachten Impressionen der Ewigen Stadt zu nennen —, welche die von schönheitsgesättigter Melancholie überflutete Landschaft der abendlich vergoldeten römischen Campagna beschreibt

Unbestritten bleibt, daß man das Triumphale solcher Natur nur als fußwandernder Pilger in sich aufnehmen kann. Erhart Kästner wundert sich über die magische Kraft einer Windschutzscheibe, die den Menschen von der Schöpfung derart abzutrennen vermag. Lr hält auch nichts von glorreichen Ankünften und tritt gerne durch nebengeordnete Pforten ein. In seinen Büchern, die die südlich spirituelle Landschaft Griechenlands besingen, heißt es: „Das Griechische ist keine Wahlheimat, kein Ausflug,, keine Wissenschaft, vielmehr ein Sturm, eine Leidenschaft, eine Betroffenheit und eine nie ausgestandene Gefahr. Eine Besessenheit, kein Besitz...“

Zu all dem bedarf es des Schauens, nicht des Sehens. Es gab zu allen Zeiten eine Heimlichkeit in der Welt, Zufluchtsstätten für Dichter und Künstler, Eremiten und Feinschmecker. Diese berühmten Idyllen der Weltliteratur und Gedächtnisstätten der Geschichte, diese Festungen des Geistes und Gemütes, die durch ungenannte Zahlen von illustren Besuchern so etwas wie eine höhere Weihe erfahren haben, sind gefallen. Sie haben sich in der Hand der Wirtschaftsbarone wahrlich nicht zu ihrem Vorteil verwandelt, indem sie Tummelplätze der touristischen Menschtermite geworden sind. „Capri heute ... ein ausgenagter Steinkadaver“, berichtete eine deutsche Zeitung. Die bezaubernde Pineta, die der englische Romancier Norman Douglas 1952 eigenhändig gepflanzt hat, sei durch eine Straßenbauplanung bedroht. Unum pro multis.

Welche Klischeevorstellung haben nun eigentlich die Menschen von Italien, diesem „Garten Europas“, in den Goethe flüchtete, aus dem sorgsam abgesteckten Weimarer Kreis um Charlotte von Stein ins Grenzenlose, ins Nichtbedingte flüchtete, diesem Italien, dem sein Ausspruch gilt: „Ich erlebe einen zweiten Geburtstag, eine wahre Wiedergeburt von dem Tag, da ich Rom betrat.'“ Der Leonore-Trostspruch an den vom Hofe zu Ferrara scheidenden Tasso bestätigt die Bemühung Goethes, die Dinge in ihrem wahren Bezug zum Leben zu sehen: „Ach, in der Ferne zeigt sich alles reiner, / Was in der Gegenwart uns nur verwirrt.“

Italien gelte in Deutschland dank dem Engländer Shakespeare, der nie dort gewesen ist, als das Land der romantischen Liebe, der Romeos, der heimlichen Abenteuer, der fallenden Fächer, blitzenden Dolche, der Masken, Duennas und der zärtlichen Briefe. Diese Feststellung Stefan Zweigs finden wir bestätigt in den amorphen Texten unserer die breite Öffentlichkeit bewegenden Schlagerromantik, von den „Drei Münzen im Brunnen“, den „Gitarren am Meer“, bis zum „Arrivederci Roma“ und „Ciao amore“. Aber nirgends in Rom, stellt R. Raffalt in seiner „Fantasia Romana“ fest, fallen die Touristenscharen mehr aus ihrer Rolle als in den kleinen Kirchen. „Wenn ein Gotteshaus groß und pathetisch ist, läßt sich der Himmel kaum berühren. Dort, wo die Andacht sich ein kleines Gefäß erschaffen hat, ist er im höchstem Maße verletzbar.“

Camus charakterisiert das Reisen, indem er sagt, sein Wert liege in der Angst. „Es ist nicht mehr möglich zu mogeln, sich hinter Büro- und Fabrikstunden zu verschanzen.“ Er will sagen, daß der vielgelästerte Alltag den Menschen vor der sicheren Qual des Alleinseins schützt und das Reisen als „Verlust eines Stützpunktes, einer Zuflucht“ empfunden wird. Der aus dem algerischen Tipasa, von der „Hochzeit des Lichts“ — wie er seine „Impressionen am Rande der Wüste“ nennt — für wenige Tage nach Prag kommende Camus erfährt aber, in die Lethargie dieser Stadt getaucht, an sich selbst „den Tod im Herzen“ und denkt in Verzweiflung an seine Stadt am Mittelmeer. Zwischen den erdrückenden Mauern von Prag versucht er, sich an der Phrase zu ermutigen: „Ein Land, in dem ich mich nicht langweile, kann mich nichts lehren.“ Er ist unglücklich, und doch bringt das Reisen — wie er sagt — gerade dadurch die Erleuchtung.

Eine Faszination übt auf die meisten Menschen die moderne Reiseliteratur aus, die ihnen alle Regionen eröffnet, so daß keinem mehr ein KolumibusSchicksal blühen kann. Systematisch und überlegt unterwerfen sie sich den Zerreißproben ihrer Unternehmungen und „so ändern jene nur die Luft, nicht ihren Sinn, die über Meer der Langeweil entlaufen“, sagt Horaz.

Seßhafte Leute schulden diesem aufdringlichen, polychromen Schrifttum und den anschaulichen Reportagen unserer Tagespresse tiefe Gefühle des Dankes, weil sie ihnen das Zuhause-Bleiben so leicht und süß machen. Auch das große Auftreten der „Begünstigten“, die Demonstration ihres Wohlstandes auf illustren Plätzen können nicht mehr beeindruk-ken; denn zu viele andere sind auch auf Mallorca gewesen. Den Reiseschriftstellern gilt ein Wort von Frangois Mauriac: „Wenn ich ihre Bücher lese, glaube ich dabeizusein, ich komme ganz außer Atem und ahne, in welchen Augenblicken ich, wäre ich an ihrer Stelle gewesen, seekrank geworden wäre. Vor allem bin ich sicher, daß ich dort, wo sie Schreie der Begeisterung ausstoßen, wahrscheinlich nichts gesehen hätte... Eine rasche Reise, selbst auf den gewohntesten Wegen, hinterläßt mir nur die Erinnerung an Staub, Ermüdung, Schlaflosigkeit, Zersplitterung.“

Reisen? Ja und nein. — Von der Reisemanie unserer Tage abgesehen, glaube ich sagen zu können, daß es dem sich im Individuum manifestierenden Temperament vorbehalten bleibt, die Welt auf zwei Arten zu erobern: einmal durch das Reisen, also durch die Berührung mit der Wirklichkeit, zum anderen vermöge einer kühnen, ewig jungen Phantasie, die keine Enttäuschung und keine Wiederholung kennt wie das Leben, und die selbst über die geringsten Orte Schönheit auszuschütten vermag.

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