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Das Spiel von Licht, Liebe und Tod

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Notizen zu einer Theologie des Films

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Notizen zu einer Theologie des Films

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Es ist Nacht. Chikago ist jene Stadt, die den tapfer gescheiterten Jahrhundertversuch, die Menschen des Alkohols zu entwöhnen — ein Experiment, so tapfer und so aussichtslos wie der Versuch, dem Menschen den lustvollen Gebrauch des Schießprügels abzugewöhnen —, mit dem zweifelhaften Ruhme bezahlt hat, jahrzehntelang als die Welthauptstadt der Schmuggler und Gangster zu fungieren. In das undurchdringliche Dunkel schießt jetzt ein Lichtbündel, die Scheinwerfer eines rasch näherkommenden, laut aufjaulenden Autos. Das Folgende spielt sich in Sekunden ab. Man hört die Bremsen knirschen, eine Salve aus einem automatischen Gewehr, man sieht vor einem hell erleuchteten Lokal einen Mann, vielleicht ist es auch eine Frau, getroffen zusammensinken. Das Auto ist im Nu wieder weg. Und es ist wieder Stille. Und Nacht.

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Zehn bis fünfzehn Jahre lang ist diese Szene, die feststehende Ouvertüre des amerikanischen Standard-Kriminalfilms gewesen. Obwohl sie sich inzwischen beträchtlich „verfeinert" hat, stellt sie noch heute die Urformei alles filmischen mise en scėne dar, wie sie die mächtige Filmindustrie aus glaubwürdigen Testen als Bündel menschlicher Urempfindungen herausgeschält hat.

Und hier, wahrscheinlich nicht bei „König der Könige“, müßte auch die Zukunftsaufgabe einer Theologie des Films ansetzen, wenn wir das Phänomen Film in seiner ganzen ungeheuren Bedeutung annehmen wollen, wenn wir uns mit Diego Goetz der Einsicht zuwenden können, daß die Menschen nur deswegen so oft ins Kino gehen und es nur deshalb so viele Filmstreifen gebe, weil so viele Menschen keinen anderen Ausdruck mehr für die Ewigkeit haben. Ob sie es wissen oder nicht, ob sie es wollen oder nicht, ob sie es erfaßt haben oder nicht: „Das Licht leuchtet in der Finsternis, doch die Finsterfiis hat es nicht erfaßt.“

Licht, Licht — Licht in der Finsternis! Was für verzweifelte Anstrengungen macht doch diese Welt von heute, das Dunkel zu erhellen, nachdem sie das Licht verdunkelt hat! Ist es nicht erschütternd, daß wir sogar noch jene unheimlichen Lichtgebilde, die die Angreifer aus der Luft zur Erhellung ihrer Treffziele abschossen — Christbäume genannt haben? In einer bitterkalten Jännernacht des Jahres 1945 lag an der Kurlandfront neben mir ein Innviertler Bauernknecht. Der Iwan schoß unentwegt Störfeuer mit Leuchtmunition und erhellte das Gelände durch hundert rote, grüne und gelbe Leuchtkugeln. Hingerissen hob der Kamerad den Kopf — und büßte diesen Aufblick, diesen Lichtblick mit dem Leben. Aber ich habe im ganzen Krieg niemals einen einfachen Menschen mit einem so wissenden Lächeln sterben gesehen. Es war, als ob er sagte: „Wenn du doch sehen könntest, was ich sehe.“

Licht, Licht — ja, was sieht man denn im Licht? Das kleine Mädchen mit den Schwefelhölzchen sah an einem eiskalten Silvesterabend beim Ritzen des ersten Hölzchens einen Ofen, es spürte Wärme — Licht ist immer auch Wärme. Im Schein des zweiten Hölzchens sah es eine weiße Decke mit feinem Porzellan, „und herrlich duftete die gebratene Gans, mit Aepfeln und getrockneten Pflaumen gefüllt“. Im Lichte des dritten Hölzchens flammte der etwas protzige Christbaum des reichen Kaufmannes auf. Hier steht das Mädchen — oder sein Dichter Hans Christian Andersen, der Sohn eines blutarmen Schuhmachers — unvermutet in der brodelnden Masse der Revolutionäre (Märchen sind fast immer revolutionär), aus deren dumpfem Chor 100 Jahre später die murrende Stimme tönen wird: „... und man sieht nur, die im Licht sind, die im Dunkeln sieht man nicht.“ Vom vierten Hölzchen weg aber sieht das Kind nicht mehr Irdisches, es schaut früh die Glorie des Todes und steigt im herrlichen Brand der Reste des Bundes an der Hand der verklärten Großmutter in den Himmel hinauf. „Und es gab keine Kälte mehr, keinen Hunger, keine Angst.. denn sie waren bei Gott.“

Das Mädchen mit den Schwefelhölzchen hat gespielt. P. Leopold Soukupf hat den Spielbetrieb einmal als die Wurzel des modernen Lichtspiels (Illusion kommt vom Lateinischen ludere = spielen!) weit zurückverfolgt — bis Thomas von Aquins Kommentar zur Aristotelischen Ethik, in dem es heißt: „Der im sturen Ernst Dahinlebende ist nicht tugendlich, da er das Spielen verachtet, das für ein humanes Leben ebenso notwendig ist wie das Ausruhn“; über Hugo Rahner („Das Spiel ist nie notwendig, aber durchaus sinnvoll im Leben“) bis mitten hinein in unser technisch-ökonomisches Zeitalter, das für etwas Unrationelles keine „Spielräume“ mehr zulasse. „In dieser unserer Welt ohne Spielräume ist der Film eine Lebensnotwendigkeit geworden. Wer diesen Zusammenhang nicht begreift, lebt noch nicht in der Welt des 20. Jahrhunderts.“

Das kleine Mädchen hat mit dem Licht gespielt. Es veranstaltete und erlebte zugleich ein erstes Lichtspiel, und es saß selber ein erstesmal im Kino, in einem Film mit Breitwand, Außenaufnahme, Trick, Ueberblendung und so... Denn was tut denn das Kino, der Film anderes als spielen: mit dem Licht im Dunkel, mft dem Ofen und der Wärme, mit Porzellan und Gänsebraten, Liebe. Leben und Tod — und mit dem verlorenen, aber nicht vergessenen Himmel?

Wenn die Millionen am Abend in die Kinostühle sinken, verdunkelt das Kino zuerst total und schließt damit unmittelbar an das licht- und freudlose Tagesleben des Normalbesuchers, an. So entsteht in ihm vorerst das häufig nur einseitig erotisch mißdeutete Lustgefühl der Erinnerung, Verwandtschaft, der Geborgenheit im Dunkeln, von dem sich dann um so heftiger und effektvoller das noch viel, viel lustvollere Erlebnis des einschießenden Lichtstrahls, des Lichterspiels auf der Leinwand und der Lieberwindung der Wirklichkeit durch die Illusion und den Glauben abheben kann.

Den Glauben freilich — vorerst — an den Gänsebraten. Da will das Dienstmädchen „einmal eine große Dame sein“, die „Privatsekretärin“ die Gattin des Managers, ja selbst der „Fuhrmann Henschel“, der bei Gerhart Hauptmann noch im Keller haust, bewohnt im Film ein Appartement von bestechendem alpenstädtischen Stil. Aber — ist es nicht schön, ist es nicht rührend, daß alle im Film hinauf, hinaus wollen? Die Dirne im französischen Film, der in einer Begegnung die letzte Chance winkt, bürgerlich zu werden; und der Verbrecher im Hollywood-Konfektionsfilm, der den letzten großen Coup wagt, um noch mit dem Unrechten Paubgut „neu anzufangen“?

Es kommt dazu, daß dem Film auch ein eigentümlicher Bewegungs rhythmus innewohnt, der sich mit den Lebens- und Arbeitsgewohnheiten des heutigen Menschen völlig zu decken scheint: das brüllend heransausende Auto der Eingangsszene von Chikago, das klassische Aufblenden der Fox-Wochenschau, der Reportage überhaupt! Ich glaube, daß wir mit der simplen These von der „entspannenden" Wirkung des Films nicht durchkommen. Die Sache liegt komplizierter. Wir wissen heute viel von der gestörten Beziehung des Menschen zur Arbeit, von der Unvernunft bestimmter Arbeitsund Erholungsformen, die die Menschen wochentags und sonntags wie mit Hunden hetzt. Hier kann der Film eine wichtige psychohygienische Funktion erfüllen. Indem er die hektische Anspannung des Zuschauers übernimmt, eine Zeitlang hält, erst dann langsam abfließen läßt und schließlich, auf ein gesundes Normalmaß reduziert, wieder in den Alltag überführt, schafft er im Idealfall ein sehr heilsames psychisches Gefälle.

Erinnern wir uns an die gute alte Zeit des Kinos, da der Wochenschau (ganz am Anfang: der „Naturaufnahme") das Drama und ihm wieder das, Lustspiel gefolgt ist. Die. Spielfilme sind leider inzwischen so lange geworden, däß wir uns dieses natürliche dreigeteilte Gefälle (Mitangespanntheit, Abspannung, Entspannung) heute nicht mehr leisten können, aber in diese Bresche ist vielfach die Dramaturgie des Spielfilms selber gesprungen, indem sie alle drei Elemente in einem einzigen Film zugleich vereinigt. Dies könnte eine der wichtigsten Mitursachen für den bisweilen unerklärlichen Riesenerfolg mittlerer Unterhaltungsfilme sein. Renė Fülöp-Miller, der in seinem Buche „Die Phantasiemaschine" aus dem amerikanischen Pionieroptimismus heraus eine sehr gescheite Theorie, verstehe: Rechtfertigung des Happyendings entwickelt hat, sei empfohlen, diese seine These noch nach dieser psychologischtheologischen Seite hin zu erweitern. Wieder wies hier P. Soukup eine geistvolle Spur, indem er den eigentümlichen Bewegungsrhythmus gerade des Filmlustspiels mit dem höchsten Vorbild konfrontierte, mit dem wahren Lustspiel: dem Himmel. Eine Vorstellung, die Fra Angelico noch kannte, als er die Heiligen, fröhlich bewegt, paarweise vor dem Lamme tanzen ließ ..,

Der Film spielt aber nicht nur mit Licht und Bewegung, mit existentiellen Abstraktionen de« Daseins, die sich bis zur Schöpfungsgeschichte zurückverfolgen lassen, sondern auch mit so ganz gegenständlichen Dingen wie Liebe und Tod.

Mit dem Thema der Liebe im Film muß die Theologie des Films völliges Neuland betreten, ja umstürzlerisch werden. Es ist eine gefährliche, abschüssige Bahn, die sich da auftut; gefährlich deswegen, weil sich gerade der Beschäftigung mit diesem Thema in religiöser Umwelt eine Unsumme von Vorurteilen entgegenstemmt, die wir zum Teil kritiklos von der doppelbödigen Moral des amerikanischen Puritanismus übernommen haben. Wir müssen uns, rund herausgesagt, abgewöhnen, einen Film unmoralisch zu nennen, wenn der Kuß die Länge von eineinhalb Meter Filmband überschreitet. Auch der scheinbar ganz irdischen Liebe gebührt ein Platz, ja ein Ehrenplatz in einer Theologie des Films.

Die geheimnisvollen Unterströme zwischen himmlischer und irdischer Liebe, Agape und Eros, Eros und Sexus, sind evident. Es ist nicht notwendig, dabei auf Platon und Plotin, Augustinus und Scholastik zurückzugreifen. Es ist Näherliegendes zur Verfügung. Immer wieder springt uns förmlich in die Augen, daß wir jenen Filmnationen, die uns die gefährlichsten und riskantesten Liebesfilme auf dem laufenden Band liefern, auch die wagemutigste und gehaltvollste Form des religiösen Films verdanken.. Dieser romanischen, vorwiegend französischen, auch noch italienischen, nicht mehr ganz aber spanischen — weil dort manichäisch überdeckten — Spiritualisierung des Fleisches, der immer gleichzeitig auch eine Erotisierung des Geistes entspricht, tritt schroff der zwar saubere, keusche (keusch bis frigide) slawische, vorwiegend russische Film gegenüber, der für uns aber gleichzeitig das Höchstausmaß an moderner Areligiosi- tät, ja nicht selten Antireligiosität darstellt!

Wenn dem aber so ist, dann müssen wir auch den Mut haben, auch den erotischen Film im Prinzip zu bejahen: als mystische Aeußerung einer menschlich-religiösen Ursehnsucht, als mitunter krausen, immer aber zielbestimmten Umweg zu Gott, genau wie das Verlangen nach Licht und Bewegung.

In einer ihrer bedeutendsten Novellen,, ,,Plus ultra“ (wir kennen die streng theologische Herkunft dieses Wortes läßt Gertrud von Le Fort die in irdischer Liebe wie im Verzicht große Regentin Margarete von Oesterreich in der Sterbestunde zu einer jüngeren Liebenden sagen: „Wisse, Kind, es gibt in alle Ewigkeit nur eine Liebe, die stammt vom Himmel, auch wenn diese Welt sie irdisch nennt — Gott nimmt sie an, als wäre sie Ihm selber dargeboten.“ Und weiter: „Ja, ich liebe Gott, ich liebe Ihn — ich habe Ihn von je geliebt — ich liebte Ihn in Seinem Ebenbilde ...“

Ein letztes Spiel des Films gilt dem Tod, dem Filmtod, der nur selten anderes ist als Mord und Selbstmord. Ich habe vor drei Jahren am Schluß einer religiösen Filmfestwoche vor Künstlern die These verfochten, daß die Vorliebe des (so stark amerikanisch bestimmten) Films für den Mord unter anderem auch eine Ueberkompensation des erwähnten amerikanischen Pionieroptimismus sei, der den natürlichen Tod als das Ende des persönlichen, des nationalen und des Weltauftrages ganz einfach nicht zur Kenntis nehme, aus dem Bewußtsein dränge und aus dunklen seelischen Hinterstübchen — verwandelt zum gewaltsamen Tod, zum Morden und zum Ermordetwerden — wieder hervorhole.

Dazu kommt, daß heute auch in der übrigen zivilisierten Welt der gewaltsame Tod, der Tod im Straßenverkehr, der frühe Erschöpfungstod der Ueberforderten und der Selbstmord der Einsamen und Geängstigten, vor allem aber der Millionenmord in den permanenten Weltkriegen und ihren Zwischenakten Hausgebrauch geworden ist und heute schon ziffernmäßig so sehr in die Waagschale fällt, daß dahinter allen Ernstes die Frage aufsteht, wie viele Menschen in fünfzig Jahren etwa, allen Erfolgen der Medizin im Kampfe um eine Steigerung der mittleren Lebenserwartung zu Trotz und Hohn, noch im Bette sterben werden.

Damit aber erhält auch das letzte Element unserer Eingangsszene aus Chikago, der standardisierte Mord (die entartete moderne Form des noch natürlichen Todeserlebnisses des kleinen Mädchens mit den Schwefelhölzchen) wohl in keiner Weise seine Rechtfertigung, aber seine genau fixierte Position als Zeiterscheinung und Zeitspiegelung, die auch hier wieder Aufgaben für eine weltweite christliche Mission eröffnet.

Denn solange die Menschheit zum Tod nicht die natürliche christliche Beziehung wiedergewinnt, wird sie uns auch die letzte Vernunft und Ordnung des Lebens schuldig bleiben.

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