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DIE GRAUSAMKEIT DES FILMS

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Der Film, diese neue, kraftvolle Kunst, hat eine basische Grausamkeit, welche schon darin besteht, daß er die Zeit anhält und sie nach Belieben wiederauferstehen läßt. Er tut das, wofür Faust bereit ist, sich verdammen zu lassen: er spricht zum Augenblick „Verweile doch!“ und macht aus Millionen aneinandergereihter Medusenblicke blühendes Leben. Schon stofflich lehrt der Film Gewalttat; ich hatte zum Beispiel nicht gewußt, daß man Ohrfeigen nicht nur mit der inneren Handfläche, sondern auch mit dem Handrücken gibt: pitsch, patsch! das geht hin und retour, das sind amerikanische Ohrfeigen. Dann habe ich durch den Film perfekt (wenn auch nur theoretisch) töten gelernt. Man versetze dem Opfer zuerst einmal, womöglich mit dem Hammer, einen starken Schlag auf den Kopf. Dann fällt der Mensch bewußtlos hin — und dann kannst du mit ihm machen, was du willst, ihn zum Beispiel in aller Ruhe umbringen. Dieser Schlag auf den Kopf ist längst ein beliebtes filmisches Humormotiv: Wenn ein zartes Mädchen sich mit dem Hammer an die Tür stellt, um den Eintretenden sogleich — !, dann kann man das Publikum bereits verständnisinnig kichern hören. Ja, der Film hat viel zur Popularisierung des Umbringens geleistet, sind doch die meisten wirklichen Überfälle von ihm sichtlich inspiriert; so wirkt die Kunst auf das Leben, wie schon Oscar Wilde erkannt hat. Nie wäre es zum Beispiel den hiesigen Raubmördern eingefallen, sich rosa Damenstrümpfe über den Kopf zu ziehen, wenn sie's nicht im Kino gelernt hätten. Seit je hat uns der Film gelehrt, daß die erhabenste und intensivste Situation des Menschen die ist, wo er dem anderen einen Revolver vorhält. (Eigentlich sonderbar, daß die großen Dramatiker der Weltliteratur das nie ausgenutzt haben.) Nun, wir wissen, daß sich das Revolvervorhalten seitdem wie eine Grippe über die Erde verbreitet hat. Mit dem Revolver bist du König für fünf Minuten, das ist doch was.

Eine andere Grausamkeit des Films besteht darin, daß er den Menschen, der in ihm auftritt, für jeden Bewohner der Erde erkennbar macht. Aber, wird man sagen, das ist doch herrlich, das ist Popularität, das wünschen sich ja alle! Wünschen vielleicht, aber dann merken sie, daß sie ihr Privatleben verloren haben. Sie haben ihr Gesicht verkauft; wo sie sich zeigen, zeigt man auf sie und will Autogramme. Eine schreckliche Insektenart mit großen runden Augen, die sogenannten Photographen, entdeckt sie auf jedem Bahnhof, jeder Landepiste, vor jedem Hotel, läuft ihnen nach und raubt ihnen wiederum ihr Gesicht. — Es gibt zwei Menschenarten, die ohne Publikum nicht sein können: der schauspielerische Mensch und der Politiker. Weil sie beide den Ruhm brauchen, akzeptieren sie dessen mechanische Vertausendfachung, nämlich den Filmruhm, mit all seinem Grauen, weil sie ihn eher ihrer Person als der Technik zu verdanken meinen. Doch außer im seltensten Falle des Genies ist dieser Ruhm ein Mißverhältnis und behaftet die Betreffenden mit einer Lebenslüge; es ist ein ähnlicher Fall wie der des Journalisten, dessen Schreibtalent kaum je in einem echten Verhältnis zur maschinenverdankten Riesenmasse seiner Leser steht. Der geborene Schauspieler wird das also (was er als Bestätigung seiner selbst umfärbt) noch irgendwie seufzend ertragen — nicht aber der Dilettant oder die Dilettantin, die vom Film einzig wegen ihres Aussehens geschnappt wurde. Die hat keine Publikumsbeziehung, sondern fühlt bloß die ständige Hölle der Öffentlichkeit. Man denke zum Beispiel an die arme Brigitte Bardot, deren zwei Selbstmordversuche der Film auf dem Gewissen hat. Sie ist ja keine Schauspielerin; sie kann zur Not sich selbst, und das heißt ihr Erlebnis der Grausamkeit des Films spielen, wenn ein Regisseur es ihr andressiert. Der Film besteht doch aus tausend kleinen Szenen, von denen jede dreiundvierzigmal geprobt worden ist — da kann der Regisseur jeden zum Schauspieler machen (doch eben nur äußerlich). Brigitte Bardot wurde vom Film entdeckt, weil sie in ihrer mürrischen Schönheit den Mädchentyp einer ganzen Epoche verkörperte: alsbald trugen alle Mädchen ihre Haare ä la B. B. Dafür wurde sie zu einer der vielen Aussätzigen des Films, die sich nicht mehr zeigen dürfen. Man denke an Greta Garbo, von der auch kaum zu glauben ist, daß sie noch lebt.

Der Film steht in einem paradoxen, das Weib jedoch in einem besonderen Verhältnis zur Zeit: es unterwirft sich der kleinen Zeitbewegung, welche Mode, und kämpft gegen die große Zeitbewegung, welche Altern heißt. Diesen normalen Kampf des Weibes gegen das Altern steigert der Film ins Ungeheuerliche. Bühnenbeleuchtung und Schminke können manches vortäuschen, und es hat schon Theater gegeben, wo jugendliche Naive als solche zwanzig Jahre lang in der Gunst des Publikums blieben. Nicht so im gnadenlosen Blick des Objektives, das zwar ewige Jugend, doch eben darum auch ewiges Altern schenkt. Jedes Fältchen am Auge, jede Haut unterm Kinn, jedes Magerwerden des Halses, jedes Spitzerwerden von Nase und Kinn wird registriert, ja noch mehr: das Publikum kann genau feststellen, ob die ganze Zähnereihe weiß ist oder nur die vorderen vier... An diesem verfluchten Objektiv, diesem Sendboten des Vaters Chronos, kann man nichts ändern (außer, daß man den Kameramann beschwörend anblickt), aber dafür versucht man durch Salben und Kompressen und Massagen und Diät und Gesichtslift und Bemalung die eigene Schönheit festzuhalten — aber die Zeit frißt unerbittlich ein Stückchen nach dem anderen wie Leckerbissen, so daß der tägliche Blick in den Spiegel zur Konfrontation mit einem Belastungszeugen wird. Wohl dem wahren Talent, das sich in ein älteres Fach hinüberspielen kann, denn sonst ist so ein armes Wesen nur mehr zum Warten verurteilt — auf eine Rolle, ein Engagement, auf Ichweißnichtwas.

Recht grausam-plump verhält sich der Film zur Literatur. Es hat kaum je einen Dichter gegeben, der durch die Verfilmung seines Werkes nicht tief deprimiert gewesen wäre. Natürlich hat der Film gegenüber Roman und Theater seine eigenen Gesetze, aber der Hauptgrund dieser Grausamkeit liegt doch in etwas anderem, nämlich in der Angst. Der Angst um das Heidengeld der Millionen, die in so einem Film riskiert werden. Die Angst verlangt das Sichere; das Sichere findet man nur in der Wiederholung; Wiederholung aber ist das ästhetisch Tödliche: in der Kunst gibt es keine Wiederholung. Es werden vielleicht die besten Schauspieler engagiert, der beste Regisseur, der beste Drehbuchautor — in der Hauptsache indes entscheidet eben dann doch die Angst, und so entstehen die Unglücke. Evelyn Waugh beschrieb einmal solch einen Kampf um das Drehbuch, wo ein Film, der als „Macbeth“ begann, sich im Laufe des Kurbeins immer mehr in „Hamlet“ verwandelt. Was der Film von der Literatur ergreift, ist lediglich der Stoff; bald wird die Weltliteratur an Stoffen abgegrast sein — dann beginnt unverdrossen die Neuverfilmung.

Der Film macht unser Leben grausamer, nicht nur weil er so viele Räubereien zeigt und anzeigt, sondern auch, weil er die Unzuchtsverbrecher anregt. Wenn es um Kapitalien geht, die wieder hereingebracht werden sollen, dann muß man den Urtrieben was bieten, und diese sind nun einmal das Zeugen und das Töten. So hat der Film aus finanziellem Heroismus in Jahrzehnten eine Schranke der Schicklichkeit nach der anderen durchbrochen, und stets war das so: ein Filmrecke fing mit einer neueroberten Cochonnerie an, und sogleich stürzten die anderen Filme wie das Wasser bei einem Dammbruch nach. Man verstehe: etwas Erotisches wird zur Cochonnerie, wenn es bloß zum Kitzel und aus keinerlei künstlerischen Gründen in ein Werk hereingenommen wurde, kurz wenn der Sexus in Geld umgewechselt wird. Besonders deutlich wurde das an dem Beispiel der Bettszene. Nach dem Kriege zeigte ein französischer Film ein Menschenpaar im Bett (denn die Franzosen sind zwar wirklich künstlerisch, aber zugleich versierte Verkäufer von Geschlechtsreizen; das ist dort eine uralte Branche). Nun war es interessant zu beobachten, wie geschwind die französischen Filme das nachmachten, darauf die italienischen, die deutschen, und endlich gar die englischen, was besonders peinlich war, denn die Engländer sind, wenn sie sich mal zum Unanständigsein entschließen, solches auf eine fürchterliche Weise. Bald gehörte die Bettszene zum eisernen Bestand jedes auf sich haltenden Filmes, so daß sie auch dort figurierte, wo sie nichts zu suchen hatte.

Die subtilste und letzte Grausamkeit des Films besteht jedoch darin, daß er das Seelenleben seiner Hersteller in schonungsloser Vergrößerung aufzeigt. Der Film ist, weit mehr als Buch, Bild oder Bau, ein Kriterium dafür, ob das ihn herstellende Volk reich oder arm ist an Menschentum.

Es wäre eine interessante Aufgabe für den zukünftigen Kulturhistoriker: festzustellen, warum nach 1945 der italienische Film so gut und der deutsche so schlecht war. Beide Länder waren vom Kriege zerstört und die materiellen Möglichkeiten der Italiener eher geringer als die der Deutschen. Doch den Italienern blieb das geistige Auge, ihr Unglück zu betrachten und mit ihm künstlerisch fertigzuwerden, während wir Deutschen nur staubiges Papptheater mit der Devise „Von Knoten, für Knoten!“ fertigbrachten. Der Film, dieser freche Offenbarer, breitete vor aller Augen unseren Mangel an Menschentum aus. Deutschland in Trümmern schien nur ein schwaches Abbild davon, was wir innerlich in uns selbst zerstört hatten. — Inzwischen ist ja der deutsche Film ein wenig besser geworden, doch der Grundmangel ist geblieben. Wie könnte es auch anders sein: es müßte sich ja das ganze Volk verändert haben. Vielleicht bringt uns das Jahr 2100 eine Blüte wie um 1800. Wie oft habe ich mir bei einem guten Film traurig gedacht: das wäre einem deutschen Regisseur nie eingefallen! Denn vom Menschentum aus kann man alle Schicksale dramatisieren: schon daß eine Familie eine Wohnung sucht, kann zur großen Tragikomödie werden — so muß man denn in Ermangelung dessen auf das Fachliche zurückgreifen, auf das, wovon man etwas versteht. Wir sind ja ein Volk der Fachleute, und da die beiden deutschen Hauptberufe von jeher Soldat und Professor sind, so waren die besseren deutschen Filme Soldaten- und Professorenfilme. (Sogar der größte deutsche Heilige und die größte deutsche Geistesgestalt sind Professoren: Albertus Magnus und Dr. Faust.) Unser relativ bester Film war aber der „Hauptmann von Köpenick“, weil hier das Leben selbst jenes Thema geliefert hatte, wo sich das Kriegerische und das Kriecherische so überzeugend vereinen. Eine andere Kulturindikation ist auch der Mangel an Humor. Der einzige wirklich komische Einfall des deutschen Filmes war, daß er in seiner wohlverdienten Pleite auch r noch staatliche Unterstützung verlangte.

Uberdenken wir die Grausamkeiten des Films: daß er Revolverhelden erzeugt, Unzuchtsverbrechen nahelegt, die Literatur ausraubt, daß er ein Menschenfresser ist und endlich ein entblößender Kulturindikator — so wird uns das doch nicht hindern, Abend für Abend erwartungsvoll ins Kino zu wandern. Oh, wir haben auch schon im Kino geweint und gelacht; er hat uns auch schon erschüttert und gesteigert, der Film. Zum Theater gehört von je die Geselligkeit, es hat Applaus, es hat Pfeifen und Zischen, zum Film aber gehört die Einsamkeit. Denn er ist die wahre Volkskunst unserer Zeit der Massen.

Aus: Sigismund von Radecki, ..Gesichtspunkte“, Verlag Jakob Hegner. Köln und Ölten. 1964 (gekürzt).

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