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„Ungetröstet der Wahrheit am Nächsten

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SCHLUSSBALL. Roman. Von Gerd G a i s e r. Carl-Hanser-Verlag, München. 279 Seiten. Preis 14.20 DM

Gerd Gaiser, einem der bedeutendsten deutschen Schriftsteller der mittleren Generation, fehlt bei uns immer noch der breitere Leserkreis, den sein Werk verdient. Der junge Württemberger hat sich gleich mit seiner ersten Novellensammlung „Zwischenland“, die 1948 herauskam, einen Namen gemacht. Es folgte dann der Heimkehrerroman „Eine Stimme hebt an“, in dem Gaiser die ganze Verworrenheit und Unordnung der ersten Nachkriegsjahre eingefangen hat, aber auch die andere Seite dieser Zeit: eine sehr unmittelbare Hilfsbereitschaft von Mensch zu 'Mensch und die Lebendigkeit eines Daseins jenseits bürgerlicher Saturiertheit.

Ein zweiter Roman, „Die sterbende Jagd“, beschwört das Ende eines Kampffliegergeschwaders in den letzten Tagen des Krieges herauf. Wesentlich vor allem, wie hier hinter der nüchternen und genauen Schilderung des Ringens einer kleinen Schar von Uebriggebliebenen gegen den vielfach überlegenen Feind noch ein anderes Ausgesetztsein dieser Luftkämpfer transparent wird: ihre Erfahrung der Abgründigkeit des Raumes in 'ihren Flügen wird zum Gleichnis der Ungeborgenheit des heutigen Menschen, der die schützenden Grenzen verlassen hat und nun zum Spielball von Kräften und Mächten geworden ist und weiß, daß er nicht entkommen kann.

Auf einen dritten Roman, „Das Schiff im Berg“, folgt dann der Sammelband von Erzählungen „Einr mal und oft“, der uns sehr wesentlich für Gaisers Welthaltung zu sein scheint. Schicksalhafte Begebenheiten und Verstrickungen, Zufall und Bestimmung — das sind in immer neuen Abwandlungen die Themen dieser Geschichten. Wo bleibt aber da die eigene Entscheidung des Menschen, könnte man fragen. „Die Rollen sind ausgeteilt, einer darf Abel sein, einer Kain“, heißt es in der „Fuchsstute“, einer der packendsten Erzählungen des Bandes. „Sie vergessen eines, die Gnade, die sich auch Kains annimmt. Sie wollen sie nicht sehen“, ist die Antwort. Und sie wird bestätigt durch ein Angebot des Schicksals an den Helden, der sich preisgegeben und ausweglos wie in einem Netz gefangen vorkommt, ein Angebot, das alle Verkettungen lösen könnte und das anzunehmen an ihm liegt. „Zum erstenmal war alles wirklich. Doch schon spürte er, wie er sich verbarg; eine widerlich süße und grausame Empfindung schüttelte ihn, der bodenlose Genuß, ein Verdammter zu sein. Er nahm nicht an, er schlug aus. P.“

Eine tragische Weltsicht wird da offenbar, die wir so eingehend in Gaisers früherem Werk verfolgt haben, weil sie uns ein Schlüssel zum rechten Verständnis auch des neuen Romans „Schlußball“ zu sein scheint, der gerade zum 50. Geburtstag des Dichters erschienen ist. Es wäre zuwenig, dieses

Buch lediglich als zeit- und gesellschaftskritisches Dokument zu interpretieren, wie verschiedene Rezensenten das getan haben. Die kritische Auseinandersetzung mit typischen Erscheinungen unserer Zeit ist freilich nicht zu übersehen. Wir werden nach Neu-Spuhl geführt, in eine mittlere deutsche Industriestadt, in der das Wirtschaftswunder die Menschen verdorben und das echte Leben erstickt hat.

„Sie waren von einer Gier nach Besitz und Sifherheit umgetrieben, die etwas Verzweifeltes hatte. Sie mhsn sich um so seltsamer aus, je deutlicher wurde, wie alle Sicherheiten sich zurückzogen und wie gefährdet jede Art von Besitz war. Sie alle schienen sich vorzusagen, daß sie etwas nachholen und zugleich auch schon vorbauen müßten. Die Mühe, die sie sich machten, um eine Lebenshöhe zu erreichen und sie vermeintlich zu sichern, fraß ihre Zeit und endlich sie selbst. Sie fraß sie fort, ohne daß sie dazu kamen, zu genießen, um was sie sich so verzweifelt anstrengten. Sie maßen sich selbst an dem Geld, das andere einnahmen, denn an was' sie sich sonst messen sollten, wußten sie nicht. Weil sie mit nichts fertig wurden, lebten sie im Stande dauernder Ver-sehrtheit. Diese Versehrtheit rührte die Wurzeln an, die Fähigkeit, etwas zu glauben, den Willen, über etwas zu urteilen ...“

„Die meisten Menschen leben in Neu-Spuhl“, heißt es gleich zu Beginn des Buches. Deutlicher hätte Gaiser nicht bekennen können, daß er der Situation, die er schildert, symptomatischen Charakter zuerkannt haben will. Doch ist das nicht alles. Es gibt Gestalten in Gaisers Geschichte, die sich scharf abheben von den Marionetten, die da so satt und zufrieden um das goldene Kalb tanzen. Menschen, die aus echten Quellen leben, die noch gültige Maßstäbe kennen, und an ihnen wird deutlieh, daß das echte und unmittelbare, das eigentliche Dasein in jeder Umgebung möglich ist, ja daß es da am ausgeprägtesten sich verwirklicht, wo äußerer Mangel und Leiden herrschen, wie bei jenen Außenseitern in Neu-Spuhl. Gaiser geht noch einen Schritt weiter, er stellt das „normale Leben“ schlechthin in Frage. „Ob das sogenannte normal verlaufende Leben, das der Gesunden und Unbelasteten ... ob das so normal ist, bleibt die Frage“, wird einer der zentralen Figuren des Geschehens, dem lahmen Mädchen, gesagt, das nicht mittun kann in dem schalen

Getriebe. „Was eine wie du lebt, ist die unverhülltere Form.“

Zwei andere Frauen, Herse Andernoth, deren Mann aus dem Krieg nicht heimgekommen ist, und ihre junge Tochter Diemut, sind diesem eigentlichen, to gar nicht glatten und freundlichen, diesem schmerzhaften und schweren Leben nahe. „Ungetröstet gehen und dabei nicht krank sein. Wenn man endlich getröstet ist, ich weiß nicht, hpit man dann ganz verloren oder alles gewonnen? Jedenfalls geht man ungetröstet der Wahrheit am nächsten“, sagt sich diese Herse. Und das lahme Mädchen sinniert über sie: „Ich denke mir, daß ein Mensch so spricht, wenn er meint, daß nichts, gar nichts verschenkt wird, und daß die Erwartungen eitel sind, und daß Belohnungen nicht stattfinden; und wenn er trotzdem sich vorgenommen hat, daß er leben will und nicht aufgeben.“

Das sind die zwei Welten, die Gaiser einander gegenüberstellt. Die eine, in der nicht ausgewichen, in der Bewährung geübt wird; die andere auf Schein und falsche Sicherheiten gestellt. Aber auch in diese glatte Welt, in der es keine Erschütterungen zu geben, in der alles aufzugehen scheint, bricht das Verhängnis ein. Auf eben jenem „Schlußball“ der Jugend kommen die Dinge ins Rollen. Eine Frau begeht Selbstmord aus Ueberdruß an jenem in Besitzgier erstarrtem Dasein, und weil sie noch weiß, daß das Leben einmal reich und erfüllt war, als sie und ihr Mann noch nichts hatten, als ihre Liebe und ihr Vertrauen zueinander. Ein Totschlag geschieht und ein Schwindler fliegt auf, der eigentlich gar keiner ist. In der Geschichte dieses Soldner hat Gaiser eine großartige Gelegenheit, seinen überlegenen Humor spielen zu lassen, der ihren sehr ernsten Hintergrund nur noch deutlicher ins Licht rückt.

Jeder bekommt schließlich seine Schuld. Aber die wenigsten wollen sie annehmen, ebenso wie sie sich vor der Wahrheit verschließen, die da plötzlich in ihre Scheinwelt einbricht, ebenso wie sie. Entscheidungen verwehren, die nun zu treffen wären. Es bleibt schließlich, auch nach den erschreckenden Ereignissen des Schlußballs, alles beim alten. Die wenigen, die wissen, worauf es ankommt, gehen ihren schweren Weg weiter. Die anderen, befangen in ihrer Ichsucht und ausgerichtet allein auf das Anhäufen äußerer Güter, haben nicht einmal gemerkt, daß jene Geschehnisse ein Anruf waren, das Leben zu ändern. Es werden Angebote gemacht, ähnlich wie in der „Fuchsstute“. Aber sie werden von den meisten gar nicht mehr gesehen und gehört. Gaiser scheint nicht zu glauben, daß sich viel daran ändern läßt. Der Zugang zum wahren, zum eigentlichen Leben ist weitgehend verstellt, freilich durch die Schuld des Menschen, der sich im Unwesentlichen verloren hat.

Ein Wort noch über die Form des Romans. Gaiser setzt sein Bild zusammen aus den von sehr gegensätzlichen Blickpunkten gesehenen Berichten der Beteiligten: ein vielstimmiger Chor, in dem auch die Toten in die Gegenwart hineinwirken. Durch die sich ergänzenden, aber auch einander in Frage stellenden Perspektiven wird die Vielschichtigkeit des Geschehens offenbar, und hinter der vordergründigen Handlung die innere, die eigentliche Wirklichkeit transparent, um die es Gaiser geht. Er zeigt hier vollendet, daß er Gewalt hat über das Wort. Seine Prosa ist, bei aller Kargheit und Strenge, kraftvoll und anschaulich — ein Geschenk inmitten der sprachlichen Beiläufigkeit und Willkür heutigen Schrifttums

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