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HELDEN GESUCHT

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Das Drama in Enkhuizen, bei dem ein Junge von 15 Jahren seine Freundin ermordete, hat wieder einmal die Aufmerksamkeit auf das Übel der sogenannten Bildromane gelenkt. Man glaubt, das Lesen solcher Bücher habe den Jungen zu dieser ^normalen Tat getrieben. Ich glaube das nicht. Mehr noch: Diese Annahme bringt ans Lieht, wie sehr wir von dem richtigen Begriff dessen, was „Roman“ genannt wird, abgeirrt sind.

Was ist ein „Bildroman“? Ein Bildroman ist ein Heft mit nichts als Bildern, unter denen ab und zu, aber lange nicht immer, Texte stehen. Sie werden in Auflagen zu zehntausen-den im Land verkauft. Und das aus zweierlei Gründen. Erstens: Weil sie billig sind, was sich von den anderen Romanen kaum sagen läßt. Zweitens: Weil sie die Taten eines Helden zum Thema haben. Der Leser wird mit einem Mann ungewöhnlichen Ausmaßes, enormer Körperkraft und messerscharfen Verstandes konfrontiert. Kurzum: Mit einem Mann, wie wir alle selbst sein möchten, aber nicht sind. Was macht nun dieser Mann? Weiter nichts, als sich aus allerlei Schwierigkeiten befreien: Er stolpert in eine Fallgrube, wird in luftdichten Kellern eingeschlossen und in bodenlose Abgründe gestürzt. Der Witz dabei ist, daß der Mordskerl durch nichts kleinzukriegen ist. Er triumphiert immerzu. Er tut nichts anderes als triumphieren. Der erstaunliche Verkauf solcher Hefte gründet sich auf die psychologische Tatsache, daß der Leser sich schon beim Durchblättern mit diesem Heiden identifiziert. Menschen, die selbst, in ihrem eigenen Leben, Helden sind, lesen solche Hefte nicht. Sie würden beim besten Willen nicht einsehen können, was für Anziehungskraft darin steckt. Dieser Menschenschlag ist naturgemäß so selten, daß er die Verkaufsziffer nicht beeinflußt. Die Leser rekrutieren sich aus der endlosen Masse derjenigen, die nicht erfolgreich sind, die kein heroisches Leben führen, die auf Gehaltszulage hoffen, für einen neuen Wintermantel sparen und in ihren Angstträumen das Gesicht ihres Chefs vor sich sehen. Und dann natürlich aus den Fünfzehnjährigen. Denn die Pubertät ist nicht die erfolgreichste Periode in einem Menschenleben.

Denken wir übrigens nicht, daß es nur Halbwüchsige, kleine Beamte oder Handelsreisende mit Provision sind, die Abenteuerhefte heben. Auch Minister und Industriekapitäne, die mehr als andere Menschen mit Schwierigkeiten zu kämpfen haben, kann man abends im Bett mit einem Kriminalroman antreffen. Man darf sie selbst nur nicht darnach fragen, denn sie schämen sich dieses Bekenntnisses, obgleich der Himmel wissen mag, warum. Man muß ihre Frauen oder die darnach fragen, die am nächsten Morgen diese Heftchen abstauben.

Ein „Bildroman“ unterscheidet sich von einem alltäglichen Kriminalroman nur insoweit, daß seine Handlung hauptsächlich durch Zeichnungen sichtbar gemacht wird. Nur sporadisch wird sie von dürftigen Texten näher erklärt wie: „Achtgeben, Dick!“ oder „Paß auf, hinter dir!“ Warnungen, die gewöhnlieh in Form umfänglicher Seifenblasen dem Muhd eines begleitenden Freundes oder Beschützers entquellen. Man glaubt nun, es auf Grund dieser unwesentlichen Abweichung (die vielleicht dem Einfluß des Films zuzuschreiben ist) mit einer neuen und höchst verderblichen Lektürenart zu tun zu haben. Das ist ein Irrtum. Der einzige Unterschied zu der bekannten Wildwestgeschichte oder der gebräuchlichen Detektivstory liegt darin, daß der Bildroman noch weniger Denkkraft und noch geringere Selbstarbeit vom Leser fordert. Man kann nahezu bar jeglicher Phantasie oder Intelligenz sein und doch dem Geschehen einer Dick-Boss-Story auf dem Fuß folgen. Aber das ist kein wesentlicher Unterschied. Im Grunde ist auch der Bildroman ein Zweig des alten Baumes: des Abenteuerromans. Das ist der Urstamm, auf den alle diese Triebe zurückzuführen sind. Der ganze Bestand eines Bahnhofskioskes umfaßt nichts anderes als Variationen dieses Themas: Ein Held, der siegt, — Dieses Thema ist durch und durch gesund. Homers „Odyssee“, Vergils „Äneis“, Defoes „Robinson Crusoe“ und Dickens „David Copperfield“ sind darauf gebaut. Das ist das Motiv jedes großen Romans, jedes wirklichen Märchens, kurzum, der ganzen Weltepik. Mit diesem Gegeben steht und fällt die ganze Romanliteratur. Sowohl Balinesen, die vor ihren Wajang-Puppen kauern, als holländische Kinder, die dem Kasperltheater zuschauen, werden von nichts anderem als diesem Motiv in Bann geschlagen. Man kann den Helden Odysseus nennen oder Buffalo Bill. Er kann Äneas heißen oder Sherlock Holmes. Man kann ihm den Namen Lord Lister, Winnetou, Pickwick oder Däumling geben. Das tut alles nichts zur Sache. Um was es geht, ist: daß wir einen Menschen zu sehen bekommen, von Gefahren umgeben und immer Sieger bleiben. Alle großen Romane der Vergangenheit endeten mit einem Happy-End. Und das konnten sie, weil die Gefahren von außen kamen. Der Konflikt lag nicht in der Hauptperson. Das war ein alltäglicher Mann, wenn auch etwas ungewöhnlicher Abmessung. Er besaß normale Eigenschaften, auch in der Vergrößerung gesehen. Es waren die Umstände, die anormal schienen: Windhosen, Sandstürme, Sirenen und Strudel. Aber das alles war zu überwinden...

Der Heros hob die Hand —und die Stürme legten sich, die Sirenen verstummten. Nun, unsere modernen Schriftsteller haben mit diesem alten Motiv gebrochen. Sie haben die Abnormität von den Umständen auf die Hauptperson verschoben. Das ist nun ein Schizophrener, ein Psychopat, ein Sonderling. Der Konflikt liegt in ihm. Er kann sich aus dem Schlamassel nicht befreien, denn er sitzt selbst drin. Damit hört er auf, ein Held zu sein. Der heutige psychologische Roman beschreibt nur ein Opfer. Dadurch ist keine Rettung, keine Lösung möglich. Es würde zu weit führen, hier auf die Ursachen dieser Verschiebung einzugehen. Historisch betrachtet, kann man, glaube ich, „Die Leiden des jungen Werthers“ von Goethe als Erstling dieser neuen Arbeitsmethode ansehen. Werther lebt in idealen Verhältnissen. Außerdem ist er jung, nicht unbemittelt und hat reiche geistige Gaben. Zum Schluß ist er auch noph verliebt. Das Ergebnis ist, daß er sich eine Kugel durch den Kopf jagt. Er ist nämlich kein Held. Er ist ein Schwächling. Dieses Buch, das damals völlig allein stand (auch in Goethes Oeuvre), ist der Prototyp der gegenwärtigen Romankunst geworden. Will ein Roman heutzutage Anspruch auf Beachtung von seiten der literarischen Kritik erheben, dann muß er zum Thema einen armen Teufel haben, der zugrunde geht. Doch damit hören diese Bücher, so gescheit auch geschrieben, auf, Romane zu sein. Sie sind klinische Beschreibungen geistiger Abirrungen. Sie sind psychiatrische Zeugnisse. Sie sind wertvolle Beiträge zur Kenntnis menschlicher Abweichungen. Aber sie sind keine Romane.

Und sie werden dann auch vom kleinen Mann nicht gelesen. Dennoch möchte der kleine Mann lesen. Das heißt: Er möchte seine Alltäglichkeit einen Augenblick vergessen und sich in einen Supermenschen verwandeln. Er möchte seine eigenen Eigenschaften, aber dann ins Ungewöhnliche transponiert, im Helden wiedererkennen. Er möchte mutig sein, klug und furchtlos und den ungeheuerlichsten Abenteuern die Stirn bieten. Und er greift nach Buffalo Bill, Lord Lister, Raffles, ja erniedrigt sich zu Dick Boss. Er zieht den Schund in dem Genre, das ihn in Bann schlägt, den Meisterwerken des Genres vor, aus dem er sich nichts macht. Und er hat damit vollkommen recht. Man kann zwar über den schlechten Geschmack des Volkes schimpfen. Aber wenn man dem Volk Steine für Brot gibt, dann handelt es vernünftig, wenn es die Steine liegenläßt und das Brot vorzieht, sei es auch altbacken, verschimmelt und zwischen den Zähnen knirschend.

Es gibt nur eine Methode, die Kluft, die zwischen unseren Schriftstellern und dem Volke klafft, zu überbrücken, und die lautet: Daß die Schriftsteller auf diese Seite des Abgrundes kommen. Daß sie aufhören mit ihren trübseligen Krankengeschichten über Menschen, die unter psychiatrische Behandlung gehören und endlich einmal einen Roman sehreiben. Wir wünschen einen Helden zu sehen. Es gibt nur eine Methode, den Bildroman zu verbannen, nämlich: Einen Roman über ein Mannsbild zu schreiben. Dick Boss über die kalte Schulter anzusehen, damit kommen wir keinen Schritt weiter. Dick Boss ist aus gutem Holz geschnitzt. Es ist leider der Holzschnitzer, der nicht für das Fach taugt. Man schneide uns einen echten „Boß“: einen Meister der Umstände und seines eigenen Lebens — und der alte wird zu Brennholz.

Zum Schluß: Gebt der Jugend ihre Jugendbücher zurück. Die Werke von Karl May und Fennimoore Cooper sind bald nirgends mehr zu bekommen (es sei denn in diesen verstümmelten Editionen, die man „Bearbeitungen“ nennt), auch Paul d'Ivoi wird nicht mehr gedruckt. Und wo ist Gustave Airmand geblieben? Wo sind sie, die gebräunten Oberhäupter, die echten Landläufer, die noblen Erzähler am Lagerfeuer? Das echte Jugendbuch war nichts anderes als was Tausende von Jahren das Buch für Erwachsene gewesen Ist: der Lebenslauf eines echten Mannes von Schrot und Korn, der es schaffte. Nimm der Jugend diese Art von Erzählungen und sie greift nach dem Plunder der Kioske, dem Abfall der obskuren Leihbibliotheken Hier, in der Dämmerung Zwielicht leben die alten Heroen noch, die wir in unserem Eigendünkel verbannt haben. Schlecht beschrieben und von Stümpern illustriert, wächst hier der Held wieder aus den schmuddeligen, zerlesenen Blattseiten empor.

Man denke nicht, daß man jemals die Jugend daran hindern könnte, diese fettigen Präriegeschichten, diese verschimmelten Detektivstorys zu kaufen. Man kann ihr ebensogut verbieten, Atem zu holen oder zu pfeifen. Außerdem bleibe ich dabei, daß sogar diese Bücher noch besser sine' als die farbenfrohen über brave Musterknaben und Muttersöhnchen, die wir ihnen aufdrängen wollen. Noch niemals gab es einen Jungen, der seine Freundin auf den Eisenbahnschienen festband und mit einem Messer durchbohrte, well er das irgendwo in einem Indianerbuch gelesen hatte. Ein Junge, der so etwas tut, ist nicht recht bei Trost. Eine andere Erklärung gibt es nicht. Indem wir die Schuld auf eine bestimmte Art der Lektüre schieben, begehen wir einen fundamentalen Irrtum. Diese Lektüre ist gesund. Die Form nur, In die sie zurückgedrängt wurde, ist mangelhaft. Das ist ein ästhetisches Manko, kein sittlicher Mangel. Indem wir diese Begriffe verwirren, verkennen wir das Wesen der Romankunst.

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