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Mehr als ein Science-fiction-Autor

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Eine geheimnisvolle Haut, die auf dem nackten Leib getragen, unsichtbar macht, wird vom Erfinder, einem Schweizer Forscher und Nobelpreisträger, an den Adoptivsohn vererbt, der vergeblich Gutes damit zu stiften sucht. Frank Thiess, der große deutsche Romancier (jüngst mit dem ostdeutschen Andreas - Gryphius - Liiteraiturpreis 1975 ausgezeichnet), dessen immer noch wachsendes Werk mit Recht seit einem halben Jahrhundert von einer elitären Leserschaft hochgeschätzt wird, erzählt, auf alles bloß Sensationelle verzichtend, diese Science-fiction-Story auf das Ernsthafteste in dem eben erschienenen neuen Roman: „Der Zauberlehrling“. Und siehe da: der irreale Vorwurf wird glaubhafte Romanwirklichkeit. Die einst an diesem Autor hochgerühmte Kunst, „aus vielen gleichlaufenden Schicksalen und gegensätzlichen Menschenarten durch kleine Ausschnitte und bewegte Gespräche ein umfassendes Rund-

gemälde der Zeit zu stellen“, er beherrscht sie souverän noch immer. Und immer noch ist da der „hemmungslose Trieb, die lustbetonte Selbstqual, die Vergrübelung der eigenen Seele, die unterweltliche Mystik des Geschechts, die Zwie-geburt von Tier und Gott“, mit anderen Worten „der östliche Geist, gegen den deutsche Bildung und Gestaltung nichts vermocht hat“, wie es einmal ein bekannter Literaturhistoriker formuliert hat.

Aber nur oberflächlichen Lesern könnte es scheinen, als überwiege im Roman des Achtzig] ährigen von 1975, gespickt mit wissenschaftlichen Avantgardismen, des geborenen Liv-länders Bildung sein östliches, Mystisches, und dieses mag in der überall verständlichen und durchsichtigen Welt des Romans nur wie deren farbig-schöner Schatten anmuten. Trügerisch auch der gelegentliche Eindruck, der Forderung: Bilde, Künstler, rede nicht! sei durch ein kompromißhaftes: Rede gebildet! nur vollkommen entsprochen worden. Wie hier Gebildete gebildet denken und sich geistreich, und oft genug zitierend, auszudrücken wissen, das läßt einen an das Wort Gottfried Kellers über die angeblich phrasenhaften Helden Corneilles denken: Ihm wäre nichts lieber, als diese Phrasen geschrieben zu haben.

In der Tiefe der scheinbar nur auf den modernen Alltag gegründeten Geistigkeit entdeckt der aufmerksame Leser sehr bald das Gold allverantwortlicher Menschlichkeit. Dem, der zum erstenmal einen Roman von Thiess in die Hand bekommt, sei zur Einstimmung sein Erinnerungsbuch „Jahre des Unheils“ empfohlen, in dem der von den Nationalsozialisten Verfemte seine Tagebücher verarbeitet hat, seine „Strahlungen“ sozusagen, weniger prätentiös und zugleich ergreifender als die Jüngerschen. Man wird, dort die Entdeckung machen,

Roman den Dichter schon lange bewegt hat. Unter dem Eindruck eines generellen Verbots seiner Bücher, schreibt er 1935 den Satz nieder; der den Inhalt des „Zauberlehrlings“ von 1975 zusammengefaßt: Ein Mensch, dem göttliche Macht ohne zugleich göttliche Allwissenheit und Allgerechtigkeit gegeben ist, muß zum Terroristen werden und dort

töten, wo er Leben stiften wollte. — Und weiter unten: Nicht in der Technik selber lag das Böse, es lag in der Anziehungskraft ihrer Erfindungen, deren Nutzung durch den kalten Verstand des fanatisierten Forschers zu einem nie dagewesenen Grauen führen konnte, führen mußte. Denn der Mensch war ihrer Versuchung nicht gewachsen. '

Schon der allererste Versuch mit der Haut endet tragisch: Als ihr Träger die Mutter des Freundes vor seinem Vater, einem Trinker und

Gewalttäter, schützen will, begeht

tet Angerührte erschreckt Selbstmord. Mit dem unter dem Schutz der Haut beschafften Geld — man wollte damit die von dem Trinker hinterlassenen Schulden zahlen — will der Freund nichts zu tun haben. Dem Helden und einzigen Wisser des Geheimnisses wird es zu schwer, es zu bewahren: Er teilt es einem zweiten mit. Mit größter Natürlichkeit folgt eins aus dem andern. Die äußere Spannung, die das Entdecktwerden-Können verspricht, bleibt merkwürdig unausgenützt. Doch hält die innere Spannung an bis zum Schluß. Allzu rasch auch scheint dem Leser der Kampf um die Erbrechte an der Erfindung durch den Unfalltod der Rivalen beendet. Die Halluzinationen des Helden, in deren einer ihm der verstorbene geistige Vater und Forscher erscheint, hätten einem Dostojewski nicht besser gelingen können. Eingestimmten Lesern wird sich zweifellos auch deren Symbolkraft offenbaren. Und sie werden sich von dem Sterben des jungen Helden nicht überrumpelt fühlen.

Nein, es ist nicht Science-fiction, was Frank Thiess hier geschrieben hat, es ist kein Abenteuerroman, oder doch „nur“ einer der menschlichen Seele. Der modernen Seele, die zerrissen schwankt zwischen Anbetung und Abscheu vor der Technik und der Macht, der sie an die Hand gegeben. Und so ist es ein politisches Buch geworden, von besonderer Art. Zu bloßen Abenteuern und Sensationen aber würden schlecht solche Worte passen, wie sie der leibliche Vater am Tage seines Sterbens dem Sohne schreibt, und die hier stehen mögen, den Geist dieses außerordentlichen Werkes zu charakterisieren: Die Fülle des Lebens gehört nicht der Zeit, deren Tage wir zählen. In einer einzigen Stunde des tiefsten Schmerzes und des höchsten Glückes ist das ganze Leben enthalten. Es ist nichts verloren.

Nichts verloren sein wird auch von dem Werk, das Frank Thiess schreibt, der zu den großen deutschen Schriftstellern zählt.

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