Die Mühlen Gottes
Les Meules de Dieu. Von Jean de Pange. Editions Alsatia, Paris. 286 Seiten
Les Meules de Dieu. Von Jean de Pange. Editions Alsatia, Paris. 286 Seiten
Der bekannte Historiker, dessen Beiträge zur Geschichte Lothringens und der Entwicklung der französisch-deutschen Beziehungen zu den wertvollsten ihrer Art gehören, schildert hier seine politischen Lebenserinnerungen. Sie gehen weit zurück, bis in die Jahre seiner Kindheit, die er — sein Vater war damals der französischen Botschaft in Wien als Militärattache zugeteilt — in der Residenzstadt des Kaisers von Österreich verbrachte. Wien war für ihn die übernationale, wahrhaft europäische Metropole, am Schnittpunkt dreier Welten gelegen, der germanischen, slawischen und romanischen, und vom Besten dieser drei Welten erfüllt; und im Kaiser sah er den ritterlichen Fürsten seines eigenen Stammes, den lothringiscaen Herzog, der, getreu den höchsten Traditionen seines Hauses, die Lasten, die ihm Pflicht und Schicksal auferlegt, in Ehren bis zu Ende trug.
Im kulturverwandten Österreich fühlte sich der junge Franzose fast wie zu Hause; in seiner lothringischen Heimat hingegen, wo Pange, der Stammsitz seiner Familie lag, empfand er auf Schritt und Tritt den Druck der preußisch-deutschen Fremdherrschaft. Seine Abneigung, und später sein Kampf, galt nicht der deutschen Nation, mit der ihn ein tiefes Verständnis und aufrichtige Sympathien verbanden, sondern der Bismarckschen Gründung von 1871, dem preußisch-deutschen Kaiserstaat, der auf nichts beruhte denn auf militärischer Macht, und, seiner Überzeugung nach, der Geschichte und dem Genius der
Deutschen völlig widersprach. Begreiflich, daß er in seinen Erinnerungen den Übergriffen, die sich die preußisch-deutschen Militärs, ohne Rücksicht auf die Proteste der Zivilverwaltung und auch der Reichstagsmehrheit, im sogenannten „Reichsland" zuschulden kommen ließen, einen breiten Raum gewährt; aber auch dieses Kapitel behandelt er mit derselben vornehmen Ruhe und Objektivität, die alle seine Darstellungen kennzeichnet. Wenn er den preußischen Militarismus verurteilt, so verurteilt er nicht weniger scharf die Fehler der französischen Politik, angefangen von dem schier unfaßbaren Versäumnis der Regierung Napoleon III., der Frankreich drohenden Gefahr durch Abschluß des von Erzherzog Albrecht angeregten Bündnisvertrages mit Österreich zu begegnen. Für die verhängnisvoll ungeschickte Behandlung der Saar- und der Rheinlandfrage nach dem ersten Weltkrieg wie für die „rechtswidrige" Besetzung des Ruhrgebietes durch Frankreich findet er keine Entschuldigung, und er verhehlt nicht seine Enttäuschung darüber, daß die elsaß-lothringischen Ansprüche auf Autonomie bei den damals führenden Männern Frankreichs so wenig Verständnis gefunden haben.
Immer wieder kommt de Pange auf die österreichisch-ungarische Monarchie zu sprechen. Er beklagt ihre sinnlose und sinnwidrige Zerstörung und die Torheit der Sieger von 1918, die sich von nationalstaatlichen Schlagworten und den Einflüssen eines Benes betören ließen, statt auf der Umgestaltung der Monarchie in eine Donauförderation zu bestehen, die allein imstande gewesen wäre,
den Aspirationen eines pangeimanischen und panslawischen Imperialismus einen Riegel vorzuschieben. Die beste Hoffnung für die Zukunft und die einzige Möglichkeit für eine dauernde Überwindung der deutsch-französischen Gegensätze erblickt er im Rahmen der übernationalen, paneuropäisch-föderalistischen Bewegung, deren Sitz keineswegs zufällig in Straßburg ist; in der Hauptstadt eines so lange und so heiß umstrittenen, aber doch immer wieder als Bindeglied zweier Kulturen dienenden Grenzraumes.
Kurt Strachwitz
Unterwegs. Von Emil Merker. Eugen- Diederichs-Verlag, Düsseldorf Köln. 452 Seiten.
Wir haben hier das Lebensbild eines Mannes, dem das Dasein schwere Lasten aufgebürdet hat. In ärmlichen Verhältnissen aufgewachsen, wurde er in noch jungen Jahren von einem Augenleiden befallen, welches ihn zwang, den eben erst ergriffenen Beruf eines Lehrers wieder aufzugeben. Menschenscheu, immer einsamer werdend, und von völliger Erblindung bedroht, findet er Trost im zunehmenden Erfolg seiner Bücher und in seiner Liebe zu Gottes freier Natur. Das Ende des zweiten Weltkrieges erlebt er in seiner böhmischen Waldheimat, und hier beginnt für ihn das Schicksal, das Millionen mit ihm teilten: Flucht, Verlust aller Habe, rastlose Wanderung in der Fremde auf der Suche nach einem Ort, der wieder zur Heimat werden könnte. In ländlicher Abgeschiedenheit, in Bayern, hat Merker die ersehnte Zufluchtsstätte gefunden. Sein hartes Los hat ihn nicht verbittert, ebenso wie die Atmosphäre nationalistischer Leidenschaft, in der er den größten Teil seines Lebens verbrachte, es nicht vermocht hat, ihn zu nationaler Intoleranz zu verführen. Obzwar er, wie leider so viele Deutschböhmen, die Sprache seiner tschechischen Landsleute nie erlernte, hat er die Tschechen nie gehaßt, auch dann nicht, als sie ihn, wie alle Mitbürger seiner Zunge, gegen jedes Recht aus dem Lande jagten. Leidenschaftslose Duldsamkeit in allen Dingen charakterisiert den Geist, in dem diese Erinnerungen geschrieben sind. Sie konnten nur von einem besinnlichen und gütigen Menschen geschrieben werden.
Jan Susky
Verhängnis und Verheißung. Roman einer Familie. Von Josef Mühlberger. Bechtle- Verlag Eßligen, 547 Seiten.
Es geht bei diesem Roman nicht um das Schicksal der Familie Aschenbrenner, sondern um das Österreichs. Die Erzählung beginnt mit dem 7. Juni 1937 und schildert die historische Entwicklung im folgenden Jahrzehnt aus der Beobachtung des Lebens in einer oberösterreichischen Kleinstadt. Die Beobachtungen sind im großen und ganzen richtig, aber sie sind nicht mehr neu. Das Werk demonstriert innere und äußere Vorgänge, die jeder gesehen und die meisten nunmehr längst eingesehen haben. Es ist aber leider nicht stark genug, um einem heute noch immer Uneinsichtigen die Augen zu öffnen.
Der Autor scheint sich der Schwäche seiner epischen Diktion bewußt zu sein und sucht stilistische Abhilfe bei gelegentlichen Lyrismen, die in einem Roman immer verdächtig wirken und eher stören, als daß sie in Stimmung bringen. „Danach war eine leere Stille, die nicht wußte, worauf sie wartete“, heißt es an einer Stelle, und an einer anderen: „Noch irrten ein paar Akkorde durch das leere Haus in die schattig-kühle Gasse, dann zerfielen sie." Eine leere Stille, von der nichts ausgesagt wird, als daß sie „war", bleibt unansehnlich; auch der literarische Schnörkel „die nicht wußte, worauf sie wartete" vermag da nichts, zu ändern. Und die Resonanz von ein paar „verirrten Akkorden" dauert nicht lange genug, als daß man sie durch einen so redseligen Satz, der bis in die schattig-kühle Gasse führt, nachahmen könnte. Oder: „ glich der steinerne Raum einem unterirdischen Garten." Man muß das „Unbeschreibliche mit etwas Bekanntem vergleichen, wenn man es anschaulich machen will. Im Abstrakten findet sich der Autor viel besser zurecht. Die Gesinnung des Autors ist sauber, die geistigen Unterscheidungen werden richtig und tolerant getroffen. Der Glaube wirkt bei den Figuren dieses Romans wie ein Kompaß, der auch über die verworrensten Wege zum Ziele führt. Schade, daß in diesem Fall die Begabung mit dem Charakter nicht Schritt zu halten vermag!
Edwin Hartl
Erlebnis auf einer Insel. Novelle, 47 Seiten. — Lombardische Elegie. 62 Seiten. Von Werner Bergengruen. Beide im Verlag der Arche, Zürich.
Werner Bergengruen, dessen 60. Geburtstag wir eben feierten, legt mit diesen beiden schmalen Bändchen Zeugnis für die Gültigkeit jener Betrachtungen, denen er in einem in der „österreichischen Furche“ (Nr. 39) publizierten selbsterkennenden Essay „Dichtung und Dichter“ Ausdruck verliehen hatte. Wie so oft bei Bergengruen, umschließt kapper Raum eine Fülle des Gedachten und ein Maximum an Stilkunst. — In die Vergangenheit versenkt sich der Dichter in der „Lombardischen Elegie". In fließenden, jambischen Rhythmen läßt er Erinnerungen an die Kindheit, an sein eigenes Werden und jenes sei
ner Vorfahren erstehen. „Die alten Dinge haben mich erzogen“, sagt einer dieser Verse, und um die „alten Dinge", in Gestalt der aus einem bewegten Leben geborgenen Habe, kreist die Betrachtung, die, fast unmerklich in Reime übergleitend, zu „künftigen Ernten" weist. — In andere, übersinnliche Bereiche greift die Novelle: Ein Erlebnis um den ungeklärten Tod eines jungen Soldaten, der auf dessen Bruder geheimnisvolle Schatten wirft. Auf einer einsamen Insel erlebt die Mutter beider — und mit ihr der Erzähler — eine Wiederkehr des Verstorbenen, deren Ende zugleich dem Leben der Greisin ein Ende setzt. Hatte sie die Erkenntnis geheimer, schreckensvoller Zusammenhänge getötet? Eine starke, den Leser getangenhal- tende Handlung in plastischer, sparsamer, sorgfältig gewählter und ausgewogener Ausdrucksform. Carl Peez
Die Schatten werden länger. Von Ray Stanley. Übersetzung aus dem Amerikanischen. Thomas-Verlag, Zürich. 234 Seiten.
Wiederholt haben Romanciers die jüngste Vergangenheit mit den Verzerrungen dargestellt, die durch Leiden und Leidenschaft entschuldigt werden. Lobenswert neu ist Ray Stanleys Versuch, uns ohne Gehässigkeit das Rumänien zwischen 1947 und 1950 und das Versinken des Landes ins volksdemokratische Dunkel zu zeigen — die Schatten werden länger. Stanley hat den kühlen Kopf der Angelsachsen und die politische Naivität, die ja auch zum Verlust der Ostländer an die Sowjets geführt hat. Es ist ungemein fesselnd und erschreckend lehrreich zu sehen, wie wehrlos die westliche Welt in diesen Jahren den Methoden ihrer Gegenspieler gegenübergestanden ist. Allerdings wäre der Sache noch mehr gedient, wenn der Autor — von dem wir überzeugt sind, daß er nichts als die bittere Wahrheit sagt — einen dokumentarischen Bericht verfaßt und die Form eines Romans vermieden hätte. Er wollte aber wohl sein Buch der Masse der Leser nahebringen und diese Absicht war gut. Das Romanhafte ist leider dürftig und etwas blaß ausgefallen und verliert durch die Schwächen der Übersetzung noch an Wirkung. Welche Möglichkeiten hätten sich hier der Kunst eines wirklichen Erzählers geboten! Immerhin, das Buch ist empfehlenswert, der wichtigen Aufschlüsse zuliebe, die es uns gibt, und schließlich liegt in dem Thema selbst begreiflicherweise so viel Spannung, daß auch der Romanleser befriedigt sein kann.