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Der Komponist v E. N. von Reznicek

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Erinnerungstage sind Mahnrufe. Nicht immer deckt sich jedoch ihre historische Notwendigkeit mit den Aufgaben, die die Zeit stellt; aus gutem Instinkt wehren wir uns gegen die Autorität der Gedenktage, die nicht selten einen Mahnruf erzwingen wollen, auch da, wo es scheinbar nicht in Einklang zu bringen ist mit der lebendigen Wirkung, die Leben und Werk eines großen Menschen über den Kreis seines Lebens hinaus erreichen konnten.

Anders im Falle des Komponisten Emil Nikolaus von Reznicek, der vor einem Jahre am 2. August im Alter von 86 Jahren das Zeitliche segnete. Nur scheinbar ist das Werk dieses Mannes, dessen Name schon allein als Dirigent und Verfechter zahlreicher moderner Werke an vielen Bühnen und in' manchen Konzertsälen Europas in der Musikgeschichte fortwirken wird — Warschau und London sind die Pole seiner Dirigentenwirksamkeit —, von den Zeitläuften überholt worden. Schon zu seiner Lebzeit hat man vergeblich darauf hingewiesen, daß er es nicht vermocht hätte, neben Richard Strauß oder Hans Pfitzner, die wesentlich im musikalischen Bühnenwerk ihren Stil zur Reife bringen konnten, sich zu behaupten. Immer wieder setzte Reznicek mit einem neuen Beweis seiner vielgewandten, die Grazie des frohen und leichten Lebens wie auch seine Vertiefung im künstlerischen Bekenntnis gleichermaßen umfassenden Kunst in Erstaunen. Sicher: er ist auf vielen Gebieten zu Hause, auf allzu vielen vielleicht; so ist er nicht der Meister der Oper geblieben, und selbst seine zehn Bühnenwerke schillern im Auf und Ab eines Geistes, der die leichte Muse ebenso zu neuer Gestalt führte, wie er echte dramatische Vorwürfe in leuchtender Kantilene und einer Orchestersprache voll Farbe und realistischer Durchschlagskraft zu bannen vermochte. Rezniceks Werk ist eben so vielgestaltig und umfaßt alle Gegensätze des musikalischen Schaffens vom Lied über die Kammermusik und Orchesterwerke absoluter Musik und symphonischer Programmatik bis zur Bühnenkunst, so daß es nicht leicht scheint, ihn in die großen Zusammenhänge einzuordnen.

Worauf es heute angesichts eines abgeschlossenen Lebens und Werks im Falle E. N. von Rezniceks ankommt, ist der Hinweis auf die ursprünglichen Kräfte, aus denen dieses Werk wuchs. Denn es sind viele, denen das Ableben des Komponisten erst heute aus diesem Anlaß des ersten Gedenken zum Bewußtsein kommen mag. Daraus erwächst die Pflicht einer ersten Besinnung. Die geschichtliche Einordnung und die Aufgabe der Gegenwart, nun dieses Werk auf seine überzeitliche Bedeutung aufs neue zu prüfen, müssen sich aus den Forderungen ergeben, die unsere Zeit mit ihren Problemen im Werk Rezniceks als erfüllt ansehen kann.

E. N. von Reznicek wurde am 4. Mai 1860 als Sohn des Feldmarschalleutnants von Reznicek in Wien geboren. Mag er vom Vater, der ihn entgegen seinem Willen zur juristischen Laufbahn bestimmte, den unabdingbaren Willen mitbekommen haben, den früh als einzig möglich erkannten Lebensweg des Berufsmusikers durchzusetzen: von der Mutter, die aus dem rumänischen Fürstengeschlecht der Ghika stammte, hat er zweifellos die schillernde Vielfalt seiner musischen Begabung geerbt. Auch wenn man seiner Herkunft nicht eine letzte Entscheidung im geistigen Sinne zuerkennen will: hier liegen dennoch die Wurzeln einer Veranlagung, die eine der künstlerisch reizvollsten Persönlichketten im europäischen Kunstleben um die Jahrhundertwende ausmacht. Daß dieses Leben trotz vieler Schicksalsschläge, die, abgesehen vom rein persönlichen Bezirk, nun einmal das wechselvolle Leben eines Theaterkapellmeisters zu begleiten pflegen, über seinen eigentlichen Zenit hinaus — das Hauptwerk, die musikalische Komödie „Donna Diana“ kam 1894 in Prag heraus — bis ins hohe Alter hinein immer wieder überraschen konnte mit einer neuen Variation seines schöpferischen Elans, hebt er allerdings über manchen Zeitgenossen hinaus.

Tatsächlich ist und bleibt die „Donna Diana“ der Mittelpunkt. Um sie kreist alles übrige, nicht gerade gleich Variationen über ein- und dasselbe Thema, aber doch mannigfachen Verwandlungen ähnlich, die dieser Geist auf einer höheren Ebene zu einem Werk aus einer Lebensanschauung vereinigen konnte. Denn das ist eigentlich das Wesen dieses etwa 150 Werke umfassenden Lebens, daß es niemals die Vornehmheit einer angeborenen aristokratischen Haltung aufgibt. Ob „Spiel oder Ernst?“, wie er eines seiner reizvollsten Bühnenwerke nannte, das gleichsam als autobiographisches Motto gelten mag: weder in der Tragik der Oper vom „Ritter Blaubart“, die nach dem ersten Weltkrieg Aufsehen machte (Darmstadt 1920), noch in der Volksoper vom „Till Eulenspiegel“ (Berlin 1902) öder in irgendeinem seiner symphonischen Werke, die sich ebenfalls wieder in geradezu lebensnotwendiger Parallele um eine „tragische“ und eine „ironische“ Symphonie gruppieren, spürt man jenen unechten Ton, der sich so gerne breitmacht, wo der „Erfolg“ gleichsam absichtlich die — Musik macht. F.eznicek ist sich trotz aller Wandlungen, denen sein Werk unterworfen war, niemals untreu geworden. Denn er erlebte jeden Stoff immer wieder auf der Grundlage echter gestalterischer Fähigkeit. Und mag sich ihm im Laufe seines über zwei Generationen der Entwicklung währenden Lebens auch beispielsweise die Befreiung der „Donna-Diana“-Partitur von einer allzu romantischen Orchestersprache als notwendig erwiesen haben (Neufassung 1933): darin ist keineswegs eine Eilfertigkeit zu erblicken, schnell den Anschluß an den neuen „Zeitstil“ zu erreichen, oder gar weltmännisch gewandter Opportunität. Tatsache ist, daß nun dieses „Standardwerk“ als Ganzes gleichsam aus Anfang und Ende dieses Lebens gewachsen ist und wie neugeboren dasteht. Der sprühende Geist der berühmten weltbekannten Ouvertüre spielt sich nun auch formal und im nahezu kammermusikalischen Gewand mit allen guten Geistern des echten Lustspiels ein ganzes abendfüllendes Werk hindurch aus.

Dieses Hängen zwischen den beiden Polen, zwischen Scherz und Ernst, zwischen Lustspiel und Musikdrama, zwischen ironisch und tragisch, belastet, wenn man genau hinsieht, dieses Leben viel schwerwiegender, als es jedem, der diesen immer chevaleresken, schnell zu geistreichen Bonmots, aber auch beißendem Sarkasmus bereiten Manne begegnete, wohl so schnell bewußt werden konnte. Auch er war schicksalhaft der großen Frage überantwortet, vor die sich I alle vollverantwortlichen Schaffenden gestellt sehen: über den gleichsam natürlichen Zweifel des schöpferischen Menschen hinaus lastet auf ihm aber noch die Doppelgesichtigkeit seiner Begabung, die ihm ständig die Bewährung seiner Kunst in Frage stellen mußte. Vielleicht ist hier auch der geheime Grund, warum nur wenige den Menschen E. N., hinter welchen Buchstaben seiner Vornamen er sich gerne verbarg, in seiner wahren Gestalt erkennen konnten. Wenn er vielleicht auch nicht die Maske einer zur Schau gestellten ritterlichen Höflichkeit und gelegentlich des brillierenden Gesellschafters trug: die Zwiespältigkeit seiner Natur, die ihn neben der „Eulenspiegel“ — Oper die symphonische Dichtung über den Pechvogel „Schlemihl“ — eine Autobiographie — neben einer Operette „Die Angst vor der Ehe“, Musik zu Strindbergs „Traumspiel“, und neben der „Donna Diana“ eine Raskolnikow-Ouvertüre schreiben hieß, um dann die beiden Wesenshälften wieder in der „Tragikomik“ sypmhonischer Variationen um Chanvssos kuriose Geschichte vom „Zopf, der hängt ihm hinten“, zu vereinen, wird verdeckt durch eine Liebenswürdigkeit, die zwar echt, aber dennoch auch Mittel zum Zweck ist. Der schöpferische Mensch kann die Rätsel, die er der Welt aufgibt, nur in seinem Werk zur Diskussion stellen. Es wird ihm niemand verübeln, seine Probleme auch noch auf andere Art zur Schau zu stellen: glücklich die Natur, die sich von ihrer heiteren Seite geben kann. E. N. wußte, was er der Gesellschaft schuldig war: er belastete sie mit seinem Werk, Last genug für jene, die es ernst mit ihm meinten. Daneben sah er keine Notwendigkeit. Gründe zur Diskussion im persönlichen Bereich zu geben. Viele wußten wirklich nicht, wer sich hinter „E. N.“ verbarg. Seine hohe Kultur gab ihm die Möglichkeit, die Not des Schaffenden allein im Werk der Öffentlichkeit mitzuteilen, und sonst nirgendwo.

Vielleicht liegt auch in diesem Besitz eines Kulturbewußtseins, das gleichsam nonchalant, ja ironisch sein konnte, ohne sich auch nur im mindesten damit zu verraten, der eigentliche Grund, daß dieser Mann im Geiste nicht alt, geschweige denn greisenhaft werden konnte. Er hat sich den Mitbesitz an den höchsten Gütern des europäischen Geistes, die ihn eben auch zum „literarischen“ Komponisten befähigten, den des Bühnenwerks und vieler herrlicher Lieder, nicht erwerben müssen. Reznicek wurde in eine geschichtliche Situation hineingeboren, in der man noch von einer Einheit des europäischen Geistes sprechen konnte, und da er selbst in allen Teilen seines Herzens und Verstandes Abkömmling einer im besten Sinne europäischen Geistesart war — auch im Hause des Vaters wurde beispielsweise tüchtig musiziert, nur die noch vorherrchende gesellschaftliche „Norm“ war es, die zunächst den „unstandesgemäßen“ Musikerberuf nicht dulden zu dürfen glaubte —, schloß sich ihm alles organisch auf. Als Aufgabe blieb ihm nur, die überkommene Kultur durch neue Zeugnisse ihrer immerwährenden Kraft zu bereichern. Zu kämpfen um sie war ihm nicht aufgegeben.

Das tut der Bedeutung Rezniceks als Komponist keinen Abbruch. Es gab in der Musikgeschichte immer Zeiten, denen aufgegeben ' war, die Errungenschaften weniger Revolutionäre zu sichten, ja zu klären und aus dem bereiteten Stoff lediglich neue Inkarnationen der Kunst zu schaffen. E. N. war sicherlich kein Revobtionär. Dennoch hatte er eine geschichtliche Aufgabe. Denn die Revolution, die in ihrem Kern dem Blitz des Geistes gleicht, der den Erdboden aufwühlt und neues Material an Gedanken und Mitteln aus ihm hervorschleudert, braucht immer wieder die großen Bewahrer und Erhalter, die das Neue gleichsam austragen, bis auch dieses wieder erschöpft ist. Diese Kraft hatte E. N. Und angesichts seines langen Lebens und der geistigen Lage, von der er auszugehen hatte — man stelle sich nur vor, daß Reznicek im Geburtsjahr Hugo Wolfs und noch 13 Jahre bevor Max Reger seinen Lebensweg antrat, zur Welt kam, und welche Wandlungen zogen seither an ihm vorüber! —, darf auch nicht die verwirrende Vielfalt seines Schaffens, dürfen nicht einmal die zahlreichen Stufen seiner Stilentwicklung Wunder nehmen. Hierin ist er allein mit Richard Strauß zu vergleichen, mit dem er tatsächlich auch als Schaffender gewisse Gemeinsamkeiten hat. Auch bei E. N. herrscht noch lange Zeit das Biographische und das dichterische Element als Erbe Liszts wie überhaupt das Romantische, nicht bloß als Ausdruck unvergänglicher künstlerischer Haltung, sondern durchaus auch als Stil. Daß diese tiefe Verwurzelung im europäischen Musikgeist, der bekanntlich erst in der Romantik zu nationalen Färbungen vorschritt, bei Reznicek trotz allem europäisches Gewicht behalten konnte, macht seine Besonderheit in der Vielfalt seiner Gestalten und Gesichte aus. Daraus resultiert auch für unsere Zeit eine Verpflichtung diesem Lebenswerk gegenüber, das Europa angehört.

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