Wandel ist der Zeiten Wesen, alle staatlich-politischen, gesellschaftlichen oder kulturellen Gegebenheiten, wie wir sie jeweils vorfinden, und die Suche nach dem, was jeweils zum Wandel gereift ist, muß zum ersten Auftrag jedes Verantwortlichen gehören, muß getragen sein von dem Mut zur Wendung in das Unbekannte, vom Bekenntnis zur schöpferischen Phantasie. Das aber hat mit dem Verändern um jeden Preis, dem Überbordwer- fen, dem Kind-mit-dem-Bad-Ausgießen, nichts zu tun. Das notwendige Wandeln ist nicht gleich mit Zerstören, es erfordert vielmehr ein sehr kritisches Sichten der Anzeichen, um die Entscheidungen zum Notwendigen treffen zu können und allem De- struieren zu wehren.
In jedem Augenblick kommen auf jeden Menschen Entschlüsse, Entscheidungen, Gestaltungen potentiell zu, jeder Augenblick ist eine Aufgabe, aus solcher Potentialität, dem Möglichkeitsspielraum Fakten, Tatsachen, Aktualität zu machen. Ich glaube nun, daß dies gar nicht immer nach logischen, verstandesmäßigen Denkmodellen möglich ist; Verhaltensentscheidungen kommen aus der Ganzheit einer Persönlichkeit, also muß auch die Ganzheit darauf vorbereitet sein. Die Anzeichen echten Wandels sind also nicht minder als intellektuell im emotionalen Bereich angesiedelt, sie werden daher etwa in dem, was Künstler suchen, am allerehesten manifest werden.
Kunst ist nicht die Errungenschaft oder Begleiterscheinung einer gesteigerten zivilisatorischen Stufe der Gesellschaft, wie es etwa höhere Formen der Lebenskultur oder Lebensbedürfnisse sind, und sie ist daher keinesfalls prinzipiell auf Eliten beschränkt. Kunst ist wie Sprache eine Grundfahigkeit des Menschen. Allerdings, genau wie in der Sprache, entscheiden erst Verwendung, Erfüllung mit Inhalten (d. h. natürlich nicht mit Themen) und die Be-sin- nung, Sinngebung also, ihren Rang. Aber auch ihr Verstanden-werden.
In allen Kulturen hat Kunst den Menschen begleitet, vom Augenblick des Bewußt-werdens der eigenen Existenz ari, mit der er sich in zweifacher Weise ausgeliefert sah: einem bedrohenden Außen gegenüber und einem bedrängenden Inneren. Diese Qualität bestimmte alles weitere. Der steinzeitliche Mensch formt die Tiere seiner Umwelt ab - sie zu erbeuten ist für ihn Lebensfrage; aber zugleich erkennt er im Abpressen seiner Hand auf den Wänden der Höhlen sein eigenes Ich, mit dem er sich in solchem Augenblick zum erstenmal herausgerissen fühlt aus der Einheit der Schöpfungswelt, der Instinktbindung und Sicherheit, losgelöst, eigener Verantwortung überlassen. Er ist Individuum. Und dazu gehören alle der Erkenntnisproblematik beigeordneten Ungreifbarkeiten. Die Angst, Schuld und Sühne, die Hoffnung auf Bleibendes inmitten allen Werdens und Vergehens. Die Liebe. Das Ausgeliefertsein. Höhere Mächte. Die Sehnsucht nach der Urbindung an die Natur. Feindschaft, Haß, Kampf um die Existenz, die ganze weitgespannte Skala des Seienden und aller Bedingtheit. Uber all dem aber zieht sich das Erkennenwollen hin, jene wahre und tiefe Urkraft des Seins.
Die den Menschen auszeichnende Sprache vermag in allen seinen Lebensphasen seiner Kommunikation zu dienen, vom ersten Lebensschrei und kindlichen Lallen an, dessen Bedeutung eine Mutter sehr wohl zu deuten weiß, bis zu den höchst differenzierten Aussagen der Wissenschaft, ob dies nun Immanuel Kants „Kritik der Reinen Vernunft“ oder die Symbolsprache des Elektronikers sein mag. Aber die Grenze verbaler Fähigkeit wird sowohl da wie dort doch schon sehr deutlich. Des Philosophen Ludwig Wittgenstein allbekanntes Wort „Worüber man nicht sprechen kann, darüber muß man schweigen“ mag hier klar werden. Ich wage zu ergänzen und als Grundthese zu bekennen: „Worüber man nicht sprechen kann, darüber muß man Kunst machen.“ Kunst ist die andere, die alternative Sprache des Menschen, die davon handelt, was die Sprache, das Instrument des Intellekts, nicht zu beantworten vermag.
So*wurde, in aller Verschiedenheit und doch im Kem einheitlich, Kunst in sämtlichen Kulturen zur sinnbildhaften Anschauung des nicht Greifbaren, des Bleibenden, Ewigen, und so zum Ausdruck der existentiellen Suche des Individuums und seiner Angst vor der nur allzu engen Grenze der eigenen Kraft. Zur Präsenz einer außerwirklichen Wahrheit, von der Sinn, Ziel und Verhalten des Menschen geprägt wird. Sie berührt also immer und über allem Wandel Urfragen, nicht Tagesprobleme, Unaussprechbares, nicht neueste Nachrichten: was ist Leben, was ist Tod, Schicksal, was aber auch ist der Mensch als Zoon-politikon, in seinem
Verhalten zum Nächsten, und in seinem unstillbaren Bedürfnis nach Schönheit?
Nun ist dem einen Pol die Schönheit sehr viel, dem anderen wenig wert; ist sie doch als Fähigkeit für die Ganzheit, den Menschen zu erfüllen, als Balance menschlicher Struktur, von höchstem Rang. Sie ordnet, klärt und vermag das Wesentliche vom Unwesentlichen abzuheben. Es zählt, Kunst überhaupt zu schaffen, sie wahrzunehmen und zum Bestandteil eigenen Wesens zu machen, zu einer Kraft, aus der das individuelle wie aber auch das gesellschaftliche Verhalten entscheidend bestimmt zu werden vermag.
Ich möchte aus einer Äußerung jenes prominenten Vertreters des Frankfurter Kreises, Herbert Marcuse, der kürzlich verstarb, einen Schluß ziehen. Er sprach davon, daß es nun an der Zeit sei, Kunst zu eliminieren, zu vertreiben, Antikunst zu propagieren, deshalb, weil Kunst eine ordnende, die Menschen befriedigende Wirkung besitze, da aber, so Marcuse, es das Ziel sein müsse, die Gesellschaft nicht zu ordnen, nicht zu befriedigen, sondern sie durch Zerstörung zu verändern, müsse auch die Kunst zum Verschwinden gebracht werden. Ich schließe daraus: es ist an der Zeit, mehr, ja alles für die Kunst zu tun. Denn, lassen Sie mich Moliėre zitieren: „Wir sind nicht nur verantwortlich für das, was wir tun, sondern auch für das, was wir nicht tun.“
Es ist ein Zufall, oder vielleicht auch gar keiner, daß vor wenigen Tagen auf Einladung der Stadt Wien ein Symposion unter dem Titel „Kunst-wofür?“ stattgefunden hat. Man sieht eben, wie drängend offenbar und von sehr unterschiedlichen Gesichtspunkten her alles in die Frage mündet, die Otto Bihalyi-Me- rin seinerzeit zum Thema eines Buches gemacht hatte: „Sind wir eigentlich im Zeitalter der Wissenschaft am Ende der Kunst?“ Und hier setzt meiner Meinung nach der Wandel unserer Tage an. Man muß nämlich längst die Frage umkehren: „Sind wir denn eigentlich noch im Zeitalter der Wissenschaft?“ Hat nicht sehr vieles an geistigen Phänomenen der jüngsten Zeit seine Wurzel in der Skepsis an Sinn und Wert der Wissenschaft?
Man soll mich nicht falsch verstehen; nicht an der Wissenschaft als Summe der Kenntnisse schlechthin! Das würde nicht weniger bedeuten, als dem Analphabetismus und der Herrschaft des’Unwissens noch mehr Selbstbewußtsein zu verleihen. Aber die Vorstellung einer linear aufsteigenden Evolution durch immer mehr anwachsende Einzelerkenntnisse, durch Analyse der Natur und ihrer Kräfte und deren Ausbeutung durch die Technologie - sie scheint viel von ihrer Position und Überwältigung eingebüßt zu haben.
Wird der Mensch die Mutter Erde ermorden oder erlösen? - fragte soeben Arnold Toynbee in seiner jüngst erschienenen Geschichte der großen Zivilisationen, und er antwortete: „Er kann sie vernichten, wenn er seine technische Macht vergrößert. Auf der anderen Seite könnte er sie erlösen, wenn er die selbstmörderische, aggressive Habgier überwindet.“
Ich habe für mich während des genannten Symposions die Darlegungen, Diskussionen und Statements verglichen mit der Erinnerung an jene mir unvergeßlichen Tage im steirischen Stift Seckau vor genau zwanzig Jahren, als Otto Mauer und Pierre Restany in der ver- dichtetsten und verfeinertsten Metasprache sich analytisch an die Grenzen des Denkbaren vortasteten, um dem Wesen des Künstlerischen nahezukommen. Es war damals, daß Friedensreich Hundertwasser zum erstenmal gegen die Herrschaft der logisch-rationalen Welt auftrat und von der Gottlosigkeit der geraden Linie sprach, und solcher Vergleich schien mir außerordentlich bemerkenswert, sogar symptomatisch.
Nicht daß nun, hier, 1979, weniger ernst und tief gedacht wurde als 1958 damals dort, aber anders. Ging es uns damals um die Definition, die intellektuelle Konsequenz, also Wissenschaft als Denkmodell, so ging es nun weit mehr um das Ganze, auch um die Praxis: für wen macht wer eigentlich was - so etwa.
Dem sehr geistreichen Einleitungsreferat Werner Hofmanns wurden kaum mehr als Banalitäten erwidert. Man solle doch aufhören so zu reden, hieß sogar ein Einwand, da es ohnehin die wenigsten verstünden, also wäre es gänzlich elitär und daher falsch. Peinlich kam einem in Erinnerung, daß so bereits 1936 ein Adolf Hitler argumentiert hatte: „Eine Kunst“, so hatte er sich im Haus der Deutschen Kunst ereifert, „die nicht auf die freudigste und innigste Zustimmung der gesunden breiten Masse des Volkes rechnen kann, sondern nur sich auf kleine blasierte Cliquen stützt, ist unerträglich.“ Im übrigen gilt der Unsinn, Kunst dadurch dem Volke näherzubringen, daß man sie zur Zerstreuung, zur Belustigung degradiert, nicht allein für jene längst vergessene Ära, sondern nicht minder heute für manche Realismen in Ost und West. Dies ist kein Weg.
Bleiben wir nur bei der Forderung, daß alles getan werden muß, damit immer mehr Menschen an die Kunst herangebracht werden können, nicht umgekehrt. Durch alle Möglichkeiten. Durch Museen, Publikationen, alle Medien, durch Erwachsenenbildung, durch Kunstreisen und - fordern wir es doch endlich … durch die Schulen. Wo doch auch eines Tages klar werden muß, daß vertiefte Beziehung zu alter und neuer, ferner und hiesiger Kunst als wesentliches Bildungsfundament mehr ist als Handfertigkeit, Gesang oder Strik- kenle?nen.
Hätten manche Parteiideologen, die jüngst erst ihre Programme formulierten, schon eine solche>ßchule besuchen können, Würden sie sehr wohl noch einmal überlegt haben, den Satz aufzunehmen: „Entscheidend an der Kunst sei, daß sie durch lebens- und gesellschaftlich bezogene Inhalte gefühlsmäßige Betroffenheit bewirke.“ Der dabei geselchte Beitrag zur Humanisierung der Gesellschaft tritt bei weitem nicht durch solche parteiideologische Inhalte ein, sondern allein durch Sublimierung der Einzelpersönlichkeit im Gefolge einer echten entstandenen Beziehung zum Kunstwerk, einer Beziehung zu den Kunstqualitäten eines Werkes, nicht aber wegen ihrer gesellschaftsbezogenen Themen, und seien sie noch so kritisch oder noch so rühmend. So formuliert, ist es lediglich die Ermutigung so mancher Bildchenmaler, nun eben in gesellschaftsbezogenem Realismus zu machen. “Z
Nicht minder problematisch indes ist der genau umgekehrte Weg. Man hörte jüngst rauhe Töne von Künstlern, in denen ihre bewußte Distanz zur Gesellschaft proklamiert wurde - Begründung: um nicht, wie sie es sagen, vereinnahmt zu werden. Die Idee des l’art pour l’art feiert sozusagen fröhliche Urständ’; doch dazu stimmt heute eine Menge an Voraussetzungen nicht mehr. Das ist ebenso kein Weg.
Nein, der Künstler wird gebraucht im Werden einer neuen Welt, er ist es, der die Wahrheit aufzeigt, der die Vision der Welt gibt, die es in jedem Menschen zu bewältigen gilt. Ihm, dem Künstler, allerdings muß auch klargemacht werden, daß er tatsächlich benötigt wird, daß man ihn braucht; nicht bloß, daß man ohnehin so großartig tolerant ist, ihn gewähren zu lassen, daß man ohnehin durch Steuergelder etliches für ihn tut. Nein, die Menschen, die Gesellschaft muß ihn anhören, ihm Geltung einräumen, auch dann, wenn es nicht belustigt.
Das allerdings setzt ein anderes Bildungsverständnis voraus, als es derzeit existiert. Daß zum Kunstbegreifen auch Wissen, Beschäftigung, Vergleich, Vertiefung gehört, ist alles eher als neu. Das naturwissenschaftliche Bildungsjahrhundert hat es nur verdrängt. Man hätte längst bei Dürer nachlesen können, wo er ausführt, daß nur über Kunst urteilen kann, wer etwas davon versteht. Aber man hätte auch bei Karl Marx nachlesen können und sollen, was ich Schulbehörden sehr empfehle, wo es heißt: „Wer Kunst genießen will, muß ein kunstgebildeter Mensch sein.“
Bei dem jüngsten, genannten, Symposion „Kunst - wofür?“ sagte der Frankfurter Peter Iden, den man sehr wohl zu den erklärten Progressiven zählen kann, einige erstaunliche Sätze, in denen sich aller Wandel anzeigt. Zunächst wandte auch er sich gegen die billige Wendung zu einem - wie er es ausdrückte - munteren Realismus, wie er zur modischen Attitüde geworden ist. Dann aber fuhr er fort: „Kunst sei eben nicht dienstbar zu machen, esmüßte vielmehr ihr Geheimnis bewahrt bleiben, sie sei eine transzendierende Kraft, in der wir wieder das Mysterium sehen lernen müßten.“ „Das Mysterium“, sagte er. Das ist ein neuer Ton, der sehr deutlich aufzeigt, wie stark bereits die Skepsis in jenem Weltbild der rationalen, intellektuellen Bewältigung ist, des Wohlstands und Konsums, der Kosten- und Nutzenidole, wie der geistigen und seelischen Verödung schlechthin.
Und es ist auch klar, welche bedeutende Rolle in diesem Wandel von vordergründiger Scheinerfüllung zur echten Sehnsucht einer Suche hinter den Dingen die Kunst spielen könnte, eine Kunst, die etwa den Mut hätte, sich wieder mit der Natur oder der Schönheit zu beschäftigen. Ist es doch klar, daß jener Wandel sich auch in der immer allgemeiner werdenden Sorge um die Umwelt aufzeigt, in dem Ablehnen immer gefährlicher werdender Technologien (die letzte Konsequenz analytischer Denkweise bildet ja die Zerspaltung der Urbausteine der Natur, der Atome) und in der ganz unbewußten Sehnsucht nach der Natur, nach dem natürlichen Leben, nach einer großen geistigen Einheit.
Nichts konnte mir solche Überlegungen mehr bestätigen, als soeben die aufsehenerregende Äußerung eines Dichters wie Peter Handke. In den Mittelpunkt seiner Rede vor wenigen Tagen stellte er ein Bekenntnis: „Ich bin mich bemühend um die Formen meiner Wahrheit auf Schönheit aus, auf die erschütternde Schönheit, auf Erschütterung durch Schönheit - die da sagen, es gibt keine Natur mehr, die sind freiwillig gefangen in ihren Wohn- und Fahrmaschinen, bereits selbst Maschinen geworden - aber die Natur ist und Kunst ist.“
Der Waridel der Zeit ist deutlich, der Pendelschlag des 19. Jahrhunderts klingt aus. Es geht nun darum, wieder sehen zu lernen und sehen zu wollen, jene Sensibüi- sierung durch Kunst zu finden, um das Empfindlichwerden durch Schönheit und Natur in das Werden der Persönlichkeit einzubeziehen und damit der gesellschaftlichen Humanisierung statt durch Schlagworte in der Tat zu dienen.
So vermöchte die Kunst sehr wohl an einer neuen Welt leitbildend geistig ihren Beitrag zu leisten, in dem nämlich die Zeitlosigkeit eines Menschen- und Weltbildes weitergetragen wird, zu dem wir uns bekennen. Nicht um Vergangenheit zu tradieren, sondern wie ich es mir seit jeher an diesem unvergänglichen Satz Goethes - er findet sich in den Gesprächen mit Friedrich von Müller - zum Ziel machte: „Es gibt kein Vergangenes“, sagte er, „das man zurücksehnen dürfte, es gibt nur ein ewig Neues, das sich aus den erweiterten Elementen des Vergangenen gestaltet, und die echte Sehnsucht muß stets produktiv sein, ein neues Besseres zu erschaffen.“ An solchem Wandel mittätig zu sein, das, glaube ich, ist uns allen und jederzeit aufgetragen.