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Gibt es noch Kunst?

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Die Frage, ob es Kunst noch gebe, ist, glaube ich, wohl berechtigt, da sie von so manchen Formschaffenden — ich wähle vorsichtig diese Bezeichnung — selbst negiert wird. Der italienische Bildhauer Lucio Fontana erklärte, die Kunst werde in Zukunft nicht mehr bestehen, der Schweizer Bewegungsplasti-ker Jean Tinguely behauptete, Kunst sei ein überholter Begriff. Auch Herbert Marcuse meinte, vielleicht werde die Kunst als solche gegenstandslos werden, das heißt ihre Bedeutung verlieren. All das geht letztlich auf Hegel zurück, der schon am Anfang des vorigen Jahrhunderts postulierte, die Kunst sei „nach der Seite ihrer höchsten Bestimmung für uns ein Vergangenes“. Und noch eine Stellungnahme: Der New Yorker Kunsttheoretiker Joseph Kosuth verkündete, van Goghs Bilder seien nicht mehr wert als seine Palette.

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Die Frage, ob es Kunst noch gebe, ist, glaube ich, wohl berechtigt, da sie von so manchen Formschaffenden — ich wähle vorsichtig diese Bezeichnung — selbst negiert wird. Der italienische Bildhauer Lucio Fontana erklärte, die Kunst werde in Zukunft nicht mehr bestehen, der Schweizer Bewegungsplasti-ker Jean Tinguely behauptete, Kunst sei ein überholter Begriff. Auch Herbert Marcuse meinte, vielleicht werde die Kunst als solche gegenstandslos werden, das heißt ihre Bedeutung verlieren. All das geht letztlich auf Hegel zurück, der schon am Anfang des vorigen Jahrhunderts postulierte, die Kunst sei „nach der Seite ihrer höchsten Bestimmung für uns ein Vergangenes“. Und noch eine Stellungnahme: Der New Yorker Kunsttheoretiker Joseph Kosuth verkündete, van Goghs Bilder seien nicht mehr wert als seine Palette.

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Wer ist nun außer den bildnerisch Tätigen vor allem zuständig, über diese Fragen zu urteilen? Man denkt zunächst an die Kunstwissenschaft. Doch da steigen Bedenken auf. Im Jahr 1923 wurden 711 Gemälde Rembrandt zugeschrieben, heute sind es nur noch 420. Ein Bild, das Kunstsachverständige für einen Magnasco oder Guardi hielten, hat man erst durch eine materialtechnologische Untersuchung als Fälschung erkannt. Ein anderes Beispiel: In den Jahren 1937 und 1939 gab es in kunstwissenschaftlichen Zeitschriften etwa zwei Dutzend eingehende Abhandlungen, die sich mit dem „neuen Vermeer“ beschäftigten, ohne an der Echtheit des Bildes zu zweifeln. Van Meegeren, der Fälscher, gestand selbst später die Fälschung ein. Auch in Museen werden die Bilder nach der Berühmtheit des Namens gekauft. Führungen in öffentlichen Sammlungen bieten meist lediglich Hinweise auf Entwicklungszusammenhänge, die Frage, ob und wodurch ein Bildwerk tatsächlich Kunst ist, bleibt meist unerörtert. Dennoch sind die Direktoren und Kustoden, die Leiter der Galerien dazu gezwungen, Qualitätsurteile zu fällen.

Nun ist Kunstwissenschaft, wie das Wort besagt, eine Wissenschaft. Max Weber forderte, daß Wissenschaft wertfrei zu bleiben habe. Die Kunstwissenschaft arbeitet als Wissenschaft mit rationalen Mitteln, sie arbeitet mit dem Beweisbaren, in ihr hat, wie gesagt wurde, klinische Atmosphäre zu herrschen. Das Kunstessentielle liegt aber jenseits des Rationalen, läßt sich mit dem Verstand nicht erfassen. Walter Ko-schatzky, Direktor der Wiener Albertina, erklärte, das Wesen des Kunstwerks sei den Analytikern immer mehr aus den Fingern geglitten. Er stellte weiter fest, „daß dem Wissen ein Kunstwerk allein nicht zugänglich se:; es ist aber ein falscher Schluß, daß es ohne Wissen möglich ist“. Nun, wie sollte man etwa wissenschaftlich exakt nachweisen, daß ein Selbstbildnis Rem-brandts mehr Gehalt hat als ein gewiß vorzügliches Porträt, sagen wir: von Amerling? Es ist der Extremfall denkbar, daß ein Kunstwissenschaftler den kunstwissenschaftlichen Apparat vollendet beherrscht und doch nichts von Kunst versteht. Das heißt aber auch, daß Kunstwissenschaftler sehr wohl Bedeutungsvolles über Kunst zu sagen haben können, allerdings nicht, indem sie innerhalb des Bereichs der Kunstwissenschaft verbleiben, sondern auf ihr aufbauend und durch die Kraft ihrer Persönlichkeit über sie hinausreichend. Jenseits ihrer Wissenschaft fällen sie Qualitätsurteile.

Wer ist außer ihnen befugt, über Kunst zu sprechen? Der Kunstschaffende selbst, weiter jener Kunstbetrachter, der zu den lebendigen Quellen der Kunst eine innere Beziehung besitzt, und der Kritiker, für den diese Beziehung die erste Voraussetzung bildet. Einfühlung Ist nötig, um ein Kunstwerk als Kunstwerk zu erfassen. Ohne Einfühlung kommt man nicht aus, wenn ein zu Erfühlendes vorhanden ist. Das Kunstwerk als Erlebnis abzulehnen, hieße seine Wirkung auf die verhältnismäßig flache Schichte der Ratio zu reduzieren. Es gebe keine objektiven Maßstäbe des künstlerischen Urteils, erklärt Werner Schmalentoach, der Leiter der Landeskunstsammlung Nordrhein-Westfalen.

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Was ist nun Kunst, oder richtiger: Was hat man bisher unter Kunst verstanden? Nach Hegel ist Kunst die Darstellung des Übersinnlichen, Unendlichen im Sinnlichen und Endlichen. Ein bekannter Ausspruch von Paul Klee lautet: „Kunst gibt nicht das Sichtbare wieder, sondern macht sichtbar.“ Und sogar Marcel Duchamp erklärt von Dada: „Es war eine metaphysische Haltung.“ Es geht in der Kunst darum, im Dargestellten das dahinter Wirkende, nicht Darstellbare spürbar zu machen. Was unser Verstand restlos zu absorbieren vermag, ist nicht Kunst. Nur wenn ein unauflösbarer Rest bleibt, können wir von Kunst sprechen. Kunst gibt es nicht ohne Geheimnis. Doch e. sei ein Großer des mathematisch-physikalischen Denkens, es sei Einstein zitiert. Er sagt: „Das schönste, was wir erleben können, ist das Geheimnisvolle. Wer es nicht kennt und sich nicht mehr wundern, nicht mehr staunen kann, der ist sozusagen tot und sein Auge erloschen.“

Scheu vor dem Gefühl, Negierung des Gefühls entspricht durchaus der Einstellung einer überwiegenden Mehrheit der heutigen Menschen.

Aber läßt sich das Gefühl aus der Kunst beseitigen? Picasso erklärte, es sei ganz einfach, was er mit seinen Werken erreichen wolle: Nichts weiter als Gefühl ausstrahlen. Es geht aber nicht um Gefühl an sich, sondern um eine bestimmte Richtung des Gefühls. Paul Klee sei nochmals zitiert: „Unser pochendes Herz treibt uns hinab, tief hinunter zum Urgrund.“ Es geht um Tiefe. Wie Freud rational, mit wissenschaftlichen Mitteln in die Tiefe der menschlichen Seele vordrang, so schließt die Kunst erlebnismäßig Tiefenbereiche der Seele, ja des Weltganzen auf. Die Dimension unserer Sicht weitet sich dadurch, umfaßt alle wirkenden Kräfte, gerade auch das Inferno des Unbewußten, das Ungeheuerliche dämonischer Urgewalten. Allerdings haben viele eine Scheu vor diesen Bereichen, sie wollen deren Vorhandensein nicht wahrhaben, es würde ihre Ruhe stören.

Bei der letzten Kasseler Documenta-Ausstellung wurden Kriterien qualitativer Art von vornherein ausgeschlossen, entscheidend war der Neuigkeitswert des Gebotenen. Um den Vorstoß ins noch nicht Vorhandene ging es. Tatsächlich haben die rasanten Änderungen in unserer Umwelt einen ebenso rasanten Wandel der Bildkünste bewirkt, die ein Spiegel unserer Situation sind. Der Maler, der Bildhauer ist ein Exponent der Allgemeinheit, würde er sich dem widerstzen, bestünde die Gefahr, die Kräfte, die sein Schaffen speisen, abzusperren. Tatsächlich haben die meisten Großen neue Ausdrucksbereiche und Ausdrucksformen geschaffen. Neuheit ist an sich kein Wert, nicht alles Neue erweist Qualität, aber besondere Potenz besitzt fast stets das Gepräge der Neuheit.

Von Andy Warhol lief vor kurzem der Film „Flesh“. Für sein Bild „Eine Dose Rindfleischsuppe mit Gemüse“ wurden umgerechnet eineinhalb Millionen Schilling bezahlt. Warhol erklärte: „Ich glaube, alles ist Kunst.“ Wenn aber alles Kunst ist, ist nichts Kunst, der Begriff löst sich auf. Es gibt einen Wirrwarr verschiedenster Behauptungen über Kunst und Nicht-Kunst, will man aber den Begriff für alles in Kunstausstellungen Gebotene aufrechterhalten, dann muß zwischen einem Gemälde von Lionardo da Vinci und etwa einem übergroßen Comicstrip-Bild von Roy Lichtenstein irgendeine Gemeinsamkeit bestehen. Es gibt sie: Beide Werke haben keinen praktischen Zweck, sie sind nicht in die Funktionen materieller Lebensvorgänge eingeschaltet. Natürlich kann man den Begriff solcherart ausweiten, es fragt sich nur, ob dies sinnvoll ist, well man damit, einem kollektivistischen Trend folgend, entscheidende Unterschiede, und zwar nicht nur graduelle, verwischt, die nun einmal vorhanden sind. Ist die alte Kunst keine Kunst, sind die Werke von Lionardo, Rembrandt oder Goya keine Kunstwerke? Hat man sich das früher nur eingeredet? Sind es aber Kunstwerke, dann ist das heutige bildnerische Schaffen dazu in Beziehung zu setzen, wir haben aus dieser Konfrontation Schlüsse zu ziehen.

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Halten wir an der bisherigen begrifflichen Fixierung des Wortes Kunst fest, geben wir zu, daß es auf manche Hervorbringung, die in Kunstausstellungen gezeigt wird, nicht mehr anwendbar ist, so spricht man damit keineswegs jenen Werken, die sich da nicht mehr einordnen, Bedeutung ab. Das wäre nur Kurzsichtigkeit oder Übelwollen. Es hat sich neben der Kunst und dem Kunstgewerbe, wozu auch Design gezählt sei, ein Drittes von erheblicher Bedeutung gebildet: Es ist das zweckfreie Werk ohne transzendenten Bezug. Das zeigt sich mitunter in der Op-art, bei kinetischen Werken, bei der Minimal-art, bei sogenannten „Objekten“, bei der Concept-art, bei der Land-ort. Welche Bedeutung kommt ihnen zu? Denken wir daran, daß die Kasseler Ausstellung, die alle vier Jahre stattfindet und die Venediger Biennale eigentlich schon überrundet, „documenta“ heißt. Das Wort ist trefflich gewählt. Es geht in den ausgestellten Werken darum, etwas zu dokumentieren. Es sind das zweckfreie Werke ohne Gehalt, die

Neues bieten, aber nicht symbolhaft wirken. Das Symbol ist laut C. G. Jung „der bestmögliche Ausdruck für einen erst geahnten, aber noch unbekannten, unbewußten Inhalt“. Das Kunstwerk bietet keine Dokumentation, da Dokumentieren ein rationaler Vorgang ist. Zweckfreie Werke ohne metaphysischen Bezug setzen Signifikantes unserer geistigen Situation ins Optische um. Das ist ihre Bedeutung.

Pierre Restany, der französische Kunstkritiker, erklärte: „Die Kunst der Avantgarde ist keine Kunst der Revolte mehr, sondern eine Kunst der Mitwirkung.“ Worin besteht die Mitwirkung? In der Umweltveränderung, wofür mancherlei Seltsames, das in den Ausstellungen dargeboten wird, noch als recht vager, ja unbeholfener, andeutender Versuch aufgefaßt werden kann. Nun, die Bauwerke, die Siedlungen, die Straßen, die Eisenbahnen, die Land- und Forstwirtschaft verändern grundlegend die Umwelt, aber all das ist zweckgerichtet. Die Mitwirkung, von der Restany spricht, besteht in zweckfreier Umweltveränderung. Dem Bulgaren Christo wurden fünf Millionen Schilling bereitgestellt, um im Canon von Colorado einen Kunststoffvorhang von 381 Meter Breite und 60 Meter Höhe zu ziehen. In der Eifelgememde Monschau, 2500 Einwohner, erhielten Bäume einen blauen Anstrich, wurde die Fassade eines Cafes mit rosa Schaumstoff verkleidet, in den engen Gassen brachte man riesige Plastikballons an. In Hannover, Stadt mit 524.000 Einwohnern, stehen durch drei Jahre hindurch je umgerechnet sieben Millionen Schilling für ein „Experiment Straßenkunst“ zur Verfügung. Zwei Österreicher waren im ersten Jahr daran beteiligt, Fritz Wotruba mit einer Skulptur, Roland Goeschl mit großen Farbkuben. Auf Plätze legte man Riesenpolster, der obere Teil eines Stadttors wurde mit einem Ballon verstopft, Kirchenfassaden erhielten eine Abdeckung mit irritierenden Spiegelfolien. Waren das, von Wotrubas Skulptur abgesehen, Kunstwerke?

Was in Monschau, in Hannover geschah, zeigt das Bestreben, das Einzelobjekt, wie man es auf Ausstellungen sieht, das Tafelbild, die Piedestalskulptur zu desavouieren, aus der individualistischen Tätigkeit auszubrechen. Mit dieser Umweltveränderung tritt, wie der Wiener Architekturkritiker Friedrich Ach-leitner erklärt, eine Verlagerung des historischen Architekturbegriffs zu einem Umweltbegriff ein, innerhalb dessen die Architektur eine begrenzte Funktion hat. Von Kunst kann man nicht sprechen, da die tieferen Bezüge fehlen, es deuten sich aber Zukunftsentwicklungen an, mögen deren Ansätze auch Vielfach noch schrullig wirken. Aber man denke etwa daran, da/? Leonard Bernstein im US-Fernsehen die amerikanischen Familienväter beschwor, die Pop-Rebellen, ihr Beat, ernst zu nehmen. „Wenn wir ihnen zuhören“, meinte er, „können wir vielleicht etwas über unsere Zukunft erfahren.“

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Neue Entwicklungen kommen nicht von ungefähr, sie kommen aus innerer Notwendigkeit. Fragt man sich, weshalb sie sich eben jetzt ergeben, stößt man auf ihre Ursachen, man beginnt sie zu verstehen. Auf die heutige Situation angewendet, heißt das: Es gibt auch heute Kunst, eine Kunst mit neuen Ausdrucksbereichen und Ausdrucksformen, es wird sie wohl weiterhin geben, denn, wie Sir Herbert Read sagte, Kunst und nicht Wissenschaft verleihe dem Leben einen Sinn, „weshalb keine erdenkliche Gesellschaft der Zukunft je ohne Kunst auskommen werde“. Zugleich ist in breiter Front ein bildnerisches Schaffen entstanden, das nicht Kunst im bisherigen Sinn ist, das sich aber als signifikante Dokumentation der heutigen geistigen Situation, wie sie sich in unserem rationalen Zeitalter ausgebildet hat, erweist. Darüber hinaus gibt es Versuche, in noch unerschlossene Bereiche möglicher Umweltgestaltung vorzustoßen. Das alles beansprucht stärkste Aufmerksamkeit, wollen wir Zeitgenossen dieser unserer Zeit sein. Ich glaube, es lohnt.

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