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Angebot an Wirklichkeit

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Uber dem klassizistischen Fridericianum, einem der beiden Ausstellungsgebäude der „documenta 5“, liest man auf einem riesenhaften Transparent: „Kunst ist überflüssig.“ Kein Fragezeichen, es wird festgestellt. Anderseits steht in einer Gebrauchsanweisung für diese Ausstellung, daß sie Informationen über Aspekte des modernen Kunstgeschehens biete.

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Uber dem klassizistischen Fridericianum, einem der beiden Ausstellungsgebäude der „documenta 5“, liest man auf einem riesenhaften Transparent: „Kunst ist überflüssig.“ Kein Fragezeichen, es wird festgestellt. Anderseits steht in einer Gebrauchsanweisung für diese Ausstellung, daß sie Informationen über Aspekte des modernen Kunstgeschehens biete.

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Worum geht es? Um Kunst? Nicht um Kunst? Jedenfalls besagt das Wort „documenta“ lediglich, daß etwas dokumentiert wird, man darf hinzufügen eine geistige Situation, die sich, generell gesagt, vorwiegend in einem nicht praktischen Zwecken dienenden Schaffen ausdrückt. Tatsächlich läßt sich die von dem Schweizer Harald Szeemann, dem ehemaligen Direktor der Berner Kunsthalle, gestaltete „documenta 5“ noch weniger nur der Kunst zuordnen als die früheren Kasseler Ausstellungen. Gesetzt, man faßt den Begriff Kunst essentiell als Sichtbarmachung des Unsichtbaren auf.

Nun gibt es auch das Motto „Befragung der Realität“, und das trifft weitgehend zu, versteht man darunter nicht nur jenen Erscheinungsbereich der Welt, wie er sich dem primitiven Menschen darstellt. Der Ausdruck Wirklichkeit wurde von Meister Eckart vom lateinischen

„aetualitas“ abgeleitet, das Wirksamkeit heißt. Es geht also um die Realität des Wirksamen, genauer, des neuest Wirksamen. Dies aufzuzeigen wurden die Arbeiten ' eingeladenen Künstlern, wie sie mangels einer anderen geeigneten Bezeichnung immer noch benannt werden, herangeholt, allein 82 Amerikaner, .29 Bundesdeutsche, 12 Schweizer, 5 Österreicher, wobei mindestens die Hälfte der Aussteller auch der Fachwelt unbekannt ist.

Ein kennzeichnender Eindruck geht wider Erwarten vom Tafelbild aus, das nun von der Photographie entscheidend beeinflußt wird, wie vordem die Malerei zeitweilig auf die Photographie einwirkte. Diese Maler sind bestrebt, die Realität, wie sie sich unmittelbar darbietet, so real als möglich zu erfassen, sie also weder zu interpretieren noch ihr durch Verzerrung Geheimes zu entlocken. Sie führen damit, was bisher als nahezu verächtlich galt, Abbilder der Umwelt vor, die mitunter, wie in scharfem Licht gesehen, in der Realität des Realen etwas verschärft sind. Das gilt für die Ansicht eines Parkplatzes oder zerstörter Autos von Paul Staiger, für die Reiter von Richard McClean, für das Bild von Robert Bechtle, das ihn, seine Frau und seine beiden Kinder wie für ein Familienphoto vor seinem Auto stehend darstellt. Chuk Close malt wandhohe Porträtköpfe, die von Farbphotos kaum zu unterscheiden sind, ja, er ahmt sogar noch die photographische Unscharfe etwa eines Rockkragens nach. Dem „Radikalen Realismus“ dieser Amerikaner ordnen sich auch fünf stehende Gestalten des Schweizers Franz Gertsch zu, die möglicherweise einem Rennen zusehen, Wenn der Amerikaner John Wesley nur die schwarzen Konturen von Figuren realistisch wiedergibt und die Flächen gleichmäßig rosa oder blau anstreicht, so ergibt sich bestenfalls eine modische Wirkung.

Eine Plastik des Amerikaners John de Andrea stellt ein lebensgroßes nacktes Paar dar, das sich eng aneinanderschmiegt, wobei für die Köpfe echte Haare verwendet wurden. Von Panoptikumsfiguren unterscheiden sich die beiden lediglich durch das erdige Hellbraun der Körper. Weder in den Bildern der radikalen Realisten noch hier wird die Realität irgendwie tiefer befragt, sie wird ganz einfach in jener Plattheit herausgearbeitet, wie dies dem durch die Auswirkungen der Technik geistig nivellierten Menschen entspricht. Es ist dies die Realitätsspiegelung im Massenmenschen von heute. Anders bei Edward Kienholz, der in einem riesigen kuppelüberwölbten Raum außerhalb der Neuen Galerie, dem zweiten Ausstellungsgebäude, eine ebenfalls lebensgroße Figurengruppe ausstellt, die eine grausame Lynchjustiz von Weißen an einem Neger darstellt. Die Masken der Weißen zeigen primitiv-sadistische Züge. Auch dies ist Panoptikum, aber scharf sozial-kritisches.

Unter dem anspruchsvollen Titel „Individuelle Mythologie“ werden eine Reihe von Arbeiten zusammengefaßt, die an Mythologisches nur sehr vereinzelt gemahnen, es gelangen da einfach Ichwelten zur Darstellung. So ist die des amerikanischen Photographen Lucas Samaras sein eigener Körper, er gibt ihn in erstaunlichen Variationen wieder. Der Amerikaner Joseph Cornell ordnet in lotrechten Bildschachteln spielerisch signifikant Plastisches an und benennt das „Pavillon“ oder „Hotel de la Mer“. Unser Stenvert hat da Eindrucksvolleres zu bieten.

Und die Österreicher: Hermann Nitsch zeigt Photos seiner Abreak-tionsspiele mit geschlachteten Tieren, von Günther Brus sieht man Zeichnungen, die an de Sade denken lassen, Arnulf Rainer ergibt sich in Photos der Leidenschaft, mit schwarzen Pinselstrichen sein Antlitz zu löschen, Rudolf Schwarzkogler ist posthum vertreten, die „Haus-Rucker & Co.“ haben an einem der Fenster des Fridericianums außen eine aufgeblasene Plastikkugel mit einer im Innern befindlichen Hängematte angebracht. Der Amerikaner Paul Thelk aber hängt an die Wände eines Badezimmers Ansichtskarten, beschriebene Zettel, wie dies etwa bei Hausmeisters üblich ist, so-ferne sie ein Badezimmer besitzen. Die Realität, das Wirkende persönlicher Vorstellungen oder Vorlieben, eingeschlossen Abwegiges und Allerprimitivstes, wird da gezeigt.

Unter die Gruppe „Selbstdarstellung“ fällt ein Bild des Italieners Giuseppe Penone mit einer Art schwarzem Schädel, blickt man durch ein Loch, ist in einem winzigen Spiegel das eigene Auge zu sehen. Wir werden mit uns selbst konfrontiert. Der Deutsche Klaus Rinke läßt Wasser durch handbreite Schläuche in mehr als zwanzig Windungen rings um ein Wasserbecken rinnen. Auch dies sei Selbstdarstellung. Sieht so das Strömen unseres Lebens aus? Der Amerikaner Richard Serra stellt hohe Eisenwände diagonal in einen Raum, die Mitte bleibt offen, so daß man die Raumteile begehen kann. Ein mögliches Raumerlebnis, aber wozu? Erlebnishaftes will wohl die Amerikanerin Dorothea Rockburne bieten, die in einem weiß tapezierten Raum ein paar breite Streifen in gebrochenem Weiß anbringt, ebenso die Amerikanerin Eva Hesse, die enggeraffte gelbe Vorhänge nebeneinander an die Wand hängt. Läppisch. Lediglich als riesenhaften Gschnas kann man das saallange Luftschiff mit winzigen Propellern und silberner Kabine bezeichnen, das der Belgier Panamarenko entwarf.

Doch es wirkt, in der „Süddeutschen Zeitung“ war ein Photo zu sehen, das zeigt, wie zwei bundesdeutsche Minister und der Kasseler Oberbürgermeister vergnügt aus den Fenstern der Kabine blicken.

Einen Sonderbereich des Wesenhaften, schlicht Verinnerlichten, bildet in dieser Ausstellung das Religiöse, Titel „Bildwelt und Frömmigkeit“. Es werden Mittel und Geräte der Andacht vorgeführt, Kreuzwegstationen, der Naivmalerei zugehörige Votivbilder, Wallfahrtsandenken. Hier ist das Wirken von längst Geschaffenem in das Dargebotene einbezogen. In der Abteilung „Science Fiction“ wird eine materielle Zukunftswelt imaginiert, die aus dem Blickwinkel der jeweiligen Zeit phantastisch wirkt. Auch da sieht man früher Entstandenes, technische Fiktionen aus dem 19. Jahrhundert. Unter den Phantasien von heute gibt es Roboter, Supermänner, wohlausgerüstete Raumfahrzeuge. In der Abteilung „Utopie und Planung“ wird noch Unausgeführtes, aber angeblich Ausführbares gezeigt, so das Modell eines 800 (achthundert) Meter hohen Hauses des Italieners Aldo Loris Rossi und seiner Mitarbeiterin Donatella Mazzoleni, ein Entwurf, der einen „Grand Prix International“ erhielt.

Als „Trivialrealismus“ werden Gartenzwerge, „altdeutsche“ Bierhumpen vorgeführt. Berechtigt ist auch die Verkleinerung antiker Skulpturen auf Handspannengröße dem Kitsch zugeordnet. Auch die Wirkung dieser Gebilde auf-nicht wenige Menschen ist Realität. Völlig kitschfrei sind die hier gezeigten Bilder von Geisteskranken. Da gibt es männliche Akte, bei denen man etwa an Kolig denkt. Die Beine sind oben, der Kopf ist unten, das Bild wurde keineswegs verkehrt aufgehängt. Unbestreitbare Kunst bieten die Graphiken zweier Geisteskranker, die längst nicht mehr leben: Adolf Wölfl und Heinrich Anton Müller. Aber das ist bekannt.

Eine aktivierende Einwirkung auf die Masse versuchen politische Plakate. Man sieht solche der CDU, der CSU. Es gibt da auch eines der Vereinigung zur Bekämpfung des Bolschewismus aus dem Jahr 1919, ein arger Kitsch. Es stammt angeblich von Oskar Kokoschka, das kann wohl nicht wahr sein. Gegensatz zur Breitenwirkung politischer Propaganda bildet die Introvertiertheit des Museums. Eine Kartonschachtel von Marcel Duchamp enthält als Miniaturmuseum Repliken und Farbreproduktionen seiner Werke, das Schublademuseum des Schweizers Herbert Distel birgt winzige Arbeiten von 140 bildnerisch Tätigen.

Die Realität des heute Wirksamen wird in der „documenta 5“ big in Grenzbereiche aufgezeigt. Hier geht es nicht primär um Kunst, sondern um unsere heutige Einstellung zur Umwelt. Da sind vielfältige Auseinandersetzungen möglich und notwendig. Der Katalog der Ausstellung ist für die Benützung während der Besichtigung ungeeignet, er wiegt dreieinhalb Kilo. Aber er enthält eingehende Darstellungen dieser Problematik, mit denen man sich im nachhinein auseinandersetzen kann.

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