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Wiederkehr der deutschen Kunst

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Schon vor Monaten wurde in den westlichen Zonen Deutschlands mit der Räumung der Kunstdepots begonnen; es darf festgestellt werden, daß Deutschlands reicher musealer Kunstbesitz dank rechtzeitiger Bergung fast zur Gänze erhalten blieb und die jahrelange Verbannung gut überstanden hat. Die Rückführung und Freigabe durch die Besatzungsbehörden öffnet allmählich wieder Museumspforten, die der Krieg geschlossen. Wenn nun, in fast allen größeren Städten — nur Berlin bildet immer noch infolge seiner gewaltigen Bauschäden eine Ausnahme — die heimgekehrten Kunstwerke aus ihrem Dornröschenschlaf inmitten von erschütternden Trümmern erwachen, dann geschieht dies meist in behelfsmäßigen Ausstellungsräumen, die es mit sich bringen, daß jeweils nur eine bescheidene Auswahl aus den umfangreichen Sammlungen der Öffentlichkeit zugänglich ist (eine Maßnahme, zu der ja bekanntlich auch das Wiener Kunsthistorische Museum gezwungen ist). So wird in einem Augenblick der größten materiellen und tiefsten geistigen Not Deutschlands die Begegnung mit seinen von einstiger geschichtlicher Größe und kultureller Höhe Zeugnis ablegenden Kunstdenkmälern zu einem Anruf, aus dem Ansätze einer seelischen Gesundung gefunden werden könnten. Das von der jüngsten Vergangenheit verzerrte Bild deutscher Wesensart wird in dem rückhaltlosen Bekenntnis zu diesen Vorbildern wieder ins Gleichgewicht gerückt. Jährelang hatte das deutsche Volk ohne seine einzigartigen Kunstwerke gelebt und hatte in München das nationalsozialistische Kunstbanausentum an deren Stelle mit selbstüberheblichem Pomp jährlich im „Haus der Deutschen Kunst“ eine quantitativ vielleicht imponierende Schau unter der anmaßenden Parole der „Wiedergeburt der deutschen Kunst“ aufmarschieren lassen.

Es erscheint nun geradezu als „Entsühnung“ dieses Pseudotempels, wenn in seinen Räumen die erste Münchener Kunstausstellung nach dem Kriege eröffnet wurde; mit der aus den Bestäifc-den der zerstörten Pinakothek zusammengestellten reichen Auswahl bayrischer G e-mälde des 15. und 16. Jahrhunderts erfährt der Bau gleichsam seine nachträgliche „Weihe“; es sind Werke, die weit über die engeren landschaftlichen Grenzen hinaus die deutsche Kunst zu europäischer Bedeutung erhoben. Um nur die klangvollsten Namen von den rund 160 ausgestellten Werken zu nennen, seien die Tafeln Altdorfers (darunter die bekannte Alexanderschlacht), Dürers, Holbeins, (Grünewalds und Burgkmairs genannt. Im Anblick der monumentalen Apostelbilder Dürers etwa wird dieses zu den geschichtlichen Vorbildern aufgerufene Bekenntnis sichtbar, in dem der Künstler nicht nur seiner eigenen, von religiösen Wirren aufgewühlten Zeit sein künstlerisches Testament setzen wollte, sondern diese hohen Gestalten werden über das Zeitgebundene hinaus zu Wegweisern aus dem gegenwärtigen moralischen Chaos. Dürers Apostelinschriften erlangen im Hinblick auf die „falschen Propheten“, von denen das deutsche Volk verführt wurde, eine erschreckende Aktualität.

Vor einigen Wochen wurde nun der lokalgebundene Rahmen der Ausstellung erweitert und um kostbare österreichische und niederländische Werke bereichert; darunter erfreuen sich die Tafeln Michael Fächers (unter anderen der berühmte Kir-chenväteraltar) und des Salzburgers Marx Reichlich besonderen Interesses. Lukas Cranach, Stefan Lochner, Rogier van der Weyden, Memling, Dierk Bouts, Hieronymus Bosch und viele andere vervollständigen das Bild dieser für die abendländische Malerei so fruchtbaren Epoche.

Im Juni eröffnete das vom Kriegsgeschehen arg heimgesuchte F r e i b u r g eine umfangreiche Schau von Meisterwerken mittelalterlicher oberrheinischer Kunst. Diese einzigartige Ausstellung entsprang dem Wunsche der Fachwissenschaft, die vor der Kriegsnot geschützten Werke vor ihrer Rückführung an ihre zerstreuten Standorte in einer Zusammenstellung allen Kunstfreunden noch einmal vor Augen zu führen; eine für die Fachwelt selten glückhafte Möglichkeit, bedeutende stilverwandte Kunstwerke nach überraschenden Restaurierungsergebnissen nebeneinander zu sehen. Im Mittelpunkt der Ausstellung steht der Hochaltar des Breisacher Münsters, ein Werk des Meisters HL, eine der schönsten Schöpfungen deutscher spätgotischer Schnitzkunst überhaupt. Mit seiner glutvollen „barocken“ Linienmusik bildet er eine stilistische Parallele zu unseren österreichischen Schnitzwerken in Mauer bei Melk und dem Hochaltar aus Zwettl. Der Altar wurde ron seinem dicken, lehmgelben Ölfarbenanstrich des 19. Jahrhunderts befreit; dabei ist ein die Fachgelehrten überraschendes Novum zutage getreten: das Schnitzwerk wurde vom Meister in der Hauptsache in dem warmen hellen Ton des Lindenholzes belassen, nur die sparsam auf Inkarnat, Augensterne, Brauen und Lippen der drei Hauptfiguren und einige Attribute der Flügelheiligen beschränkte Farbe ist ohne Kreidegrund unmittelbar auf das Holz aufgetragen; eine bisher sonst nirgends nachweisbare mittelalterliche Farbfassung. Bei der Reinigung kam nunmehr auch an drei Stellen die Signatur in ihrer originalen Form zum Vorschein, ebenso das Vollendungsdatum des Werkes 152 6.

Wenn nun erstmalig diesem Werk der Niederrotweiler Altar, der eine vielumstrittene Stellung im Werk des Meisters HL einnimmt und nun ebenfalls in seinem Mittelstück von der späteren Übermalung befreit ist, unmittelbar zur Seite gestellt wurde, so lassen sich vielleicht die noch offenen Fragen der Kunstgeschichte einer Klärung zuführen. Diesen beiden Glanzleistungen oberrheinischer Schnitzkunst werden zahlreiche, aus drei Jahrhunderten stammende anonyme Plastiken angereiht, die mit ihren teilweise erhaltenen köstlichen alten Fassungen einen umrissenen Begriff zu geben vermögen von einer Kunstgattung, die gerade in diesem Zipfel zwischen Bodensee und dem Elsaß zu einer Zeit politischer und kultureller Bindung an Österreich ihre höchste Blüte entfaltete.

Die in dieser umfangreichen Ausstellung vertretene Tafelmalerei reicht vom Hausbuchmeister über den älteren Holbein, Hans Baidung Grien und Grünewald zu dem jüngeren Holbein, Bernhard Strigel und dem umstrittenen Meister von Meßkirch. Plastik und Malerei werden ergänzt durch eine Reihe zauberhafter Glasmalereien des 13. bis 16. Jahrhunderts, unter welchen die auf Baidungs Entwurf zurückgehenden Scheiben des Freiburger Münsters aus der berühmten Freiburger Ropstein-Werkstatt von besonderer kunsthistorischer Bedeutung sind. Abgerundet wird das Bild dieser schöpferischen Kunstprovinz durch gediegene Goldschmiedearbeiten, gestickte und gewebte Paramente und kostbare kirchliche Kleinkunst.

Köln, das durch das furchtbare Kriegsgeschehen achtzig Prozent seiner Wohnbauten verlor, seine vieltürmige Silhouette einbüßte (es verfügt zurzeit über keine unversehrte Kirche) und heute eine Ruine von riesenhaftem Ausmaß darstellt, vermag seinen unversehrt gebliebenen reichen musealen Kunstbesitz nur in bescheidenster Form der Öffentlichkeit darzubieten. Über Trümmer hinweg gelangt man zu dem aus der einstigen mittelalterlichen Stadtbefestigung noch erhaltenen Wehrbau, in dem nun, nach der Zerstörung aller Kölner Museen, kleinere periodische Kunstausstellungen veranstaltet werden. Die erste Schau war der rheinischen Kunst des Mittelalters gewidmet, in deren Mittelpunkt die in zauberhaftem Gold schimmernden Tafeln Stefan Lochners standen, denen in wenigen Vitrinen reizvolle Reliquienschreine und Flügelaltärchen zur Seite gestellt wurden, die mit ihren farbigen Emails von der unerreichten Höhe mittelalterlicher rheinischer Goldschmiedekunst Zeugnis ablegten. Fortgesetzt wurde diese Ausstellung nun mit etwa fünfundzwanzig Gemälden der holländischen und flämischen Malerschule des 17. Jahrhunderts. Im Mittelpunkt steht Rubens und vor allem das Selbstbildnis Rembrandts, das — am Ende seines Lebens gemalt — mit seinem wehmütigen und doch überlegenen, vom Wissen um die letzen Dinge geprägten Lächeln über eine den Künstler nicht mehr verstehende Welt zu den erschütterndsten europäischen Künstlerbekenntnissen zählt.

Die strenge, durch beschränkte Raumverhältnisse bedingte Auswahl erbringt einen um so höheren Rang und stärkere Wirkung jedes einzelnen Kunstwerkes, und in den wenigen Bildern wird jener weite Weg offenbar, den die für die gesamte europäische Kunst entscheiendende holländische Malerei des 17. Jahrhunderts beschritten; in den ausgestellten Werken eines Jan Steen, Frans Hals, Jordaens, van Dyck, Ruisdael, Jan van Goyen, Terbordi und Teniers erschließt sich der ganze überquellende malerische Reichtum eines wohlhabenden Landes und eines lebensfrohen Volkes.

Wiesbaden, das sich infolge seiner Stellung als Sammelpunkt des in der amerikanischen Besatzungszone aufgefundenen deutschen Museumsbesitzes rasch zu einem kulturellen Zentrum entwickelte, bietet in seinem unzerstörten Landesmuseum wechselnd bedeutende Kunstausstellungen. Zurzeit werden über 350 Blätter aus dem Besitze des Berjine:' .vujjferstich-kabinetts gezeigt, die einen umfassenden Überblick über die gesamte europäische graphische Kunst geben, beginnend mit der hochmittelalterlichen Buchmalerei bis herauf an den Beginn des 19. Jahrhunderts; jede Kunstnation ist mit ihren bedeutendsten Meistern vertreten. Einige Plastiken von selten erlesener Schönheit (darunter Werke von Riemenschneider, Pisano, Donatello und anderen) bereichern die Ausstellung, in deren Rahmen auch die in letzter Zeit vielgenannte Nofretete gezeigt wird, die bekanntlich neuerdings von Ägypten zurückgefordert wird.

Neben dem Interesse an alter Kunst tritt seit dem Kriegsende immer stärker die m o-dcrne Kunst in den Vordergrund, und zahlreiche, an verschiedenen Orten veranstaltete Ausstellungen zeitgenössischer Künstler beschäftigen in steigendem Maße in Diskussionen und Zeitschriften weite Kreise, von denen auch breitere Bevölkerungsschichten erfaßt werden. Besonders aufschlußreich für die augenblickliche geistige Situation Deutschlands ist die Stellung der Jugend zu einer Kunst, die jahrelang als „entartet“ verfemt und ihren Augen entzogen war. Wie in anderen Bereichen, macht sich darin der Ausfall einer ganzen Generation bemerkbar, eine schmerzliche Diskontinuität, die von den Fallgittern des Nationalsozialismus hervorgerufen wurde.

Kürzlich fand eine Ausstellung moderner Maler in Augsburg, bei der jeder Besucher sozusagen mit dem Stimmzettel aufgefordert wurde, seine Meinung über die Bilder abzugeben, gerade bei jungen Besuchern vielfach eine fast erschreckend radikale Ablehnung; ein Teil der jungen Leute war sich einig, daß die Mehrzahl der Künstler „gehängt“ werden müßte, „mildere“ Beurteiler stimmten für KZ. Es mag. diese Haltung junger Menschen auf reaktionäre Wurzeln zurückgeführt werden, sie läßt sich aber auch damit erklären, daß die verschiedentlich gemeinte Modernität längst einem bereits der Geschichte angehörenden Geschlechte entspricht. Geht man die Liste der vielfach als modern klassifizierten Künstler durch, so gehören sie größtenteils dem Expressionismus an — seine unbestritten bedeutenden, aber nur seiner Zeitlage entsprechenden Leistungen sollen hier nicht angezweifelt werden —, einer Generation also, die schon 1914 historisch war und der die Revolution von 1918 nur eine neue Aktualität gab. Wenn sie heute zum drittenmal modern werden und die Rolle des Zeitgemäßen übernehmen sollen, so ist dies das seltsame Schicksal einer merkwürdigen Zeitverschiebung, hinter dem sich die ganze, scheinbar ausweglose Krise der modernen Kunst abzeichnet.

Dresden, dessen weltberühmte Galerie, bedingt durch die Umstände, nun in Moskau ihre neue Heimstatt gefunden, zeigt seit Anfang September die erste allgemeine deutsche Kunstausstellung, bei der Kunst aus allen vier Zonen, allen Landschaften, Generationen und Richtungen vertreten ist. Das bunte Bild der ausgestellten 600 Werke ermöglicht die aufschlußreiche Stellungnahme zu dem nahezu vollständigen Bild der gegenwärtigen deutschen Malerei. Man begegnet bekannten Namen, wie zum Beispiel Erich Heckel, Otto Dix, Karl Schmidt-Rottluff, George Groß, Max Beckmann, Max Pechstein, und Werken inzwischen verstorbener Künstler, wie E. L. Kirchner, Ernst Barlach, Paul Klee, Käthe Kollwitz. Daneben tritt eine Reihe neuer schätzenswerter Begabungen in Erscheinung, die aber überraschenderweise ebenfalls der älteren Generation zugehören; in der ganzen Ausstellung gibt es zwei Fünfundzwanzigjährige, zwei Frauen! Für das Gesamtbild der Ausstellung interessant ist die landschaftliche Differenzierung: der Osten zeigt eine größere Begabung zum Realismus, in dem sich die sozialen Umbrüche stärker und unmittelbarer abzeichnen; stärkere

Sensibilität dagegen verrät der Westen; im Norden herrscht die Kraft des Ausdrucks vor, der die einfallsreichere Phantasie des Südens gegenübertritt. Die originelleren Begabungen liegen in der Richtung der Abstraktion, der bessere Durchschnitt in der Wirklichkeitsinterpretation. Der Besuch der Ausstellung ist außerordentlich stark; bereits in den ersten Tagen erfolgten um 200.000 Reichsmark Ankäufe.

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