Werbung
Werbung
Werbung

Bilder, Skulpturen und Installationen eröffnen neue Blicke auf die Welt.

Bildende Kunst hat seit der Kindheit mein Leben geprägt. Da ich das Glück hatte, in einer Künstlerfamilie aufzuwachsen, waren Bilder und Skulpturen wie Familienmitglieder für mich. Während andere Familien am Sonntag in die Berge wanderten, gingen wir ins Museum. Statt eine Großtante am Wochenende zu beglücken, besuchten wir das Untere Belvedere.

Ich empfand dies alles andere als langweilig. Kaum konnte ich es erwarten, bis wir alle Säle durchwandert hatten, um im letzten Raum die grimassenschneidenden, lustigen Köpfe mit den charakteristischen Gesichtsverzerrungen zu sehen. Zu Hause vor dem Spiegel habe ich dann versucht, die einzelnen Köpfe nachzuahmen. Natürlich hatte ich keine Ahnung, dass es sich dabei um die etwa 1770 entstandenen "Charakterköpfe" des bedeutenden Barockbildhauers Franz Xaver Messerschmidt handelte. Aber unbewusst habe ich offenbar gespürt, dass dieser Künstler wesentliche Befindlichkeiten der menschlichen Existenz in Skulpturen festhalten konnte.

Es war bei jedem Museumsbesuch aufs Neue aufregend, was es da alles zu entdecken gab. Noch spannender waren aber die Geschichten, die mein Bildhauer-Vater über Gemälde, Plastiken und Künstler zu erzählen wusste. Ob diese phantastischen Erzählungen kunsthistorisch relevant waren, spielt keine Rolle. Wesentlich war, dass ich bereits als Kind eine Welt jenseits der materiellen, medien- und konsumorientierten Lebensrealität kennen gelernt habe. Es war die subjektive Welt der Kunst, die meine Kindheit belebt hat. Eine Welt, in der ein Pferd blau und ein Baum rosa waren, in der ein Gesicht zwei Nasen haben konnte.

Kunst und Religion

Nicht besonders religiös erzogen, habe ich erst über die Kunst einen Bezug zur Religion bekommen. Als Studentin wollte ich plötzlich wissen, welche Geschichten von mir geschätzte Maler wie Giotto, Massacio und Tintoretto auf ihren Bildern erzählen. Also habe ich neugierig in der Bibel nachgelesen. Es ist unmöglich, sich mit der Kunstgeschichte zu beschäftigen, ohne das Alte und Neue Testament zu kennen.

Bilder geben uns die Möglichkeit, ungemein viel über die religiöse Situation einer Gesellschaft zu erfahren. Auch wenn die Künstler scheinbar nur eine Episode aus dem Leben Jesu auf die Leinwand gepinselt haben. Das hat mich Pieter Bruegels "Kreuztragung" im Wiener Kunsthistorischen Museum gelehrt. Das 1564 entstandene Ölgemälde zeigt den "Aufstieg zum Kalvarienberg". Im Unterschied zu seinen Vorgängern hat Pieter Bruegel das biblische Geschehen in seine Zeit versetzt. Die 300 Personen auf dem Bild sind in zeitgenössische Tracht gekleidet.

Als Bruegel dieses Bild malte, waren die Niederlande von politischen und religiösen Unruhen erschüttert. Der Widerstand gegen die spanisch-katholische Fremdherrschaft wurde immer stärker, die religiöse Spaltung des Landes gipfelte 1566 - zwei Jahre nach der Entstehung des Gemäldes - im Bildersturm.

Christus ist nicht wie auf so vielen anderen Bildern heroisch erhöht. Vielmehr ist der Kreuztragende im volksfestartigen Treiben nur schwer zu entdecken. Die Menschen schenken dem unter dem Kreuz zusammengebrochenen Jesus keine Beachtung. Das Berührende an diesem Bild ist gerade die Alltäglichkeit. Bruegel zeigt, dass Mord an Andersgläubigen in seiner Zeit allgegenwärtig war. Zahlreiche Galgenräder erinnern an die Hinrichtung von vermeintlichen "Ketzern" durch die Inquisition. Die Leidensgeschichte Jesu ist kein einmaliges Geschehen, sie findet immer wieder - auch heute und jetzt - statt.

Bruegels "Kreuztragung" zeigt eines deutlich: Ein Bild kann ganz konkrete Aussagen über religiöse Fragestellungen treffen und zugleich viele Interpretationsspielräume offen lassen.

Kunst und Beziehung

Bilder spiegeln die Vorstellung einer Gesellschaft von der Beziehung zwischen den Geschlechtern. In Zeiten der Singlegesellschaft und der zunehmenden Scheidungen fungieren historische Bilder aber auch als Projektionsfläche für unsere unerfüllten und oft kindlichen Sehnsüchte nach der ungetrübten Verschmelzung zweier Personen. Wie sonst lässt sich erklären, dass Gustav Klimts legendärer "Kuss" zum begehrtesten Besuchsobjekt von Touristen aus allen Ländern wurde.

In Beziehungsbildern zeigt sich die jeweilige Sichtweise des fast immer männlichen Künstlers auf die Geschlechterdifferenz. So kniet die Frau auf Klimts "Kuss", ganz dem Beziehungsmodell der Jahrhundertwende entsprechend, hingebungsvoll vor dem Mann, der als aktiver Part seine Hände packend um die ihm ergebene Frau schlingt.

Mich hat bereits als junges Mädchen Egon Schieles Ölbild "Kauerndes Menschenpaar" viel mehr als das Klimt-Gemälde angesprochen. Auf dem in Erdtönen gehaltenen, beinahe quadratischen Bild ist ein nacktes Paar zu sehen. Es sitzt auf einem Sofa - nicht neben-, sondern hintereinander und berührt sich nur scheinbar zufällig an marginalen Körperstellen. Die Liebenden wirken eng verbunden und doch blicken beide in eine andere Richtung. Trotz Nähe dominieren Individualität, auch Isolation und Einsamkeit. In einer Achse, zu Füßen der Frau ist ein Kinderkopf zu erkennen. Er war ursprünglich nicht in die Komposition miteinbezogen - wahrscheinlich hat ihn Schiele, als er von der Schwangerschaft seiner Frau Edith erfuhr, nachträglich ergänzt. Das Kind kam nie zur Welt. Die gesamte Familie starb kurz nach der Entstehung des Bildes an der Spanischen Grippe. Mit diesem Wissen erscheint uns die melancholische Darstellung geradezu visionär.

Kunst kann nicht bloß ästhetisch konsumiert werden. Je mehr wir über ein Kunstwerk, seine Entstehung, den Künstler und die Zeit, in der es gemalt wurde, wissen, desto mehr können wir darauf erkennen. Wie bei dem Erlernen einer Fremdsprache und dem Kennenlernen einer anderen Kultur eröffnet sich die Welt der Bilder erst für den, der bereit ist, sich tiefer auf sie einzulassen.

Kunst und Literatur

Als Kunst- und Literaturwissenschafterin habe ich viele Bilder nicht im Museum, sondern durch die Darstellung eines Schriftstellers kennen gelernt. Romane, Gedichte und Essays, die von Bildern, Skulpturen oder Künstlern handeln, gehören zu meiner Lieblingslektüre.

Ein Bild, das mich erst durch einen Roman zu faszinieren begann, ist Tintorettos "Bildnis eines alten Mannes mit Pelz" aus dem Kunsthistorischen Museum in Wien. Diesem "Weißbärtigen Mann" hat Thomas Bernhard seinen letzten Prosatext "Alte Meister" gewidmet. Was hat den Schriftsteller gerade an diesem Porträt so gefesselt, habe ich mich gefragt und das Bild immer wieder betrachtet, obwohl der Autor gerade dieses Vertiefen in Bilder kategorisch ablehnt. "Hüten Sie sich vor dem Eindringen in Kunstwerke, sagte er, Sie verderben sich alles und jedes, selbst das Geliebteste."

Jeden zweiten Vormittag begibt sich der Protagonist der "Alten Meister", der 82-jährige Musikkritiker Reger, ins Kunsthistorische Museum, um dort gegenüber von Tintorettos "Weißbärtigem Mann" zu denken. Thomas Bernhard schreibt, der "Weißbärtige Mann" sei "das großartigste Gemälde, das je gemalt wurde". Wir erfahren aber weder genau, was auf dem Bild zu sehen ist, noch wird etwas über die Entstehung des Werkes oder den Dargestellten berichtet. Auch wird an keiner Stelle erwähnt, warum gerade dieses Werk unter 800 Bildern des Kunsthistorischen Museums der Kritik standhält. Zugleich ist das Bild, indem es ausgespart wird, in dem Roman mehr als präsent. Thomas Bernhard nötigt den Leser geradezu, das Bild tatsächlich anzuschauen, indem er es eben nicht beschreibt.

"Alte Meister" führt uns vor Augen, wie zentral die Auseinandersetzung mit bildender Kunst für Schriftsteller ist. Denn die Literatur hat seit jeher den Austausch mit der "Schwesterndisziplin" gesucht. Keine Künstlerromane, keine Bildbeschreibungen, keine ästhetischen Reflexionen ohne die Inspirationsquelle bildende Kunst und deren optische Reize.

Kunst und Gesellschaft

Es gibt Momente, in denen ich Menschen verstehen kann, die Kunst als abgehoben und weltfremd empfinden. In solchen Augenblicken zweifle ich auch daran, ob ich wohl den richtigen Beruf gewählt habe. Da werden Flüchtlinge abgewiesen, weil es hier angeblich keinen Platz mehr für sie gibt, da verhungern an allen Ecken und Enden der Welt Kinder - ganz zu schweigen von den Konflikten und Kriegen im Nahen Osten, in Afghanistan und im Irak, während ich Tag für Tag Ausstellungskritiken verfasse. Aber trotzdem zweifle ich als Kunstwissenschafterin nicht an der gesellschaftspolitischen Relevanz von Kunst. Denn immer wieder treffe ich auf künstlerische Positionen, die den Finger auf Wunden legen, die aufzeigen, was von der Politik verdrängt oder schöngeredet, was von den Medien einseitig und unkritisch dargestellt wird.

Eine der für mich interessantesten Künstlerinnen Österreichs, die sich seit mehr als einem Jahrzehnt mit Fragen der Migration, der Integration von Fremden, den Auswirkungen der Globalisierung befasst, ist Lisl Ponger. Ihr hat das Wien Museum soeben die Ausstellung "Phantom fremdes Wien" gewidmet. Lisl Ponger dokumentiert aber nicht bloß Missstände im Umgang mit Fremden. Sie hinterfragt höchst subtil und vielschichtig unseren westlichen, postkolonialistischen Blick auf Fremde und Fremdes. In der großformatigen Fotoarbeit "Gone Native" aus dem Jahr 2000 sehen wir die Künstlerin im Ethnogewand neben einem Afrikaner sitzen. Es handelt sich dabei nicht um einen Menschen, sondern um eine Skulptur, ganz in der historischen Tradition der Mohren-Plastiken, die Jahrhunderte Bürgerhaushalte dekorierten. Der gesamte Hintergrund ist von einer Tapete mit dem Meinl-Mohren-Logo überzogen.

Ohne plakativ anzuklagen, werden hier in einem einzigen Foto der Umgang unserer Gesellschaft mit fremden Kulturen, die Ausbeutung außereuropäischer Ästhetik in Mode und Werbung und die Geschichte der Sklavenhalterei angesprochen. Wenn es Kunst gelingt, soviel zu leisten, dann erübrigt sich jede Frage nach ihrer gesellschaftspolitischen Relevanz.

Der Text gibt die in dieser Wochen laufenden "Gedanken für den Tag" (Montag bis Samstag, 6.57 Uhr, ORF-Radio Ö1) in gekürzter Form wieder.

Ein Thema. Viele Standpunkte. Im FURCHE-Navigator weiterlesen.

FURCHE-Navigator Vorschau
Werbung
Werbung
Werbung