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Weltschau der Kunst in Venedig Spiegel des Geistes

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Seit 1895 der im Café Florian auf dem Markusplatz von Männern des geistigen venezianischen Lebens erdachte Plan einer alle zwei Jahre in Venedig abzuhaltenden Ausstellung der zeitgenössischen Kunst der Welt zum erstenmal verwirklicht wurde, besitzt die kulturell interessierte Menschheit eine Möglichkeit, in die Urgründe und Hintergründe der geistigen Situation ihrer Zeit zu blicken. „Die Kunst ist für die Geschichte der menschlichen Gemeinschaft das, was der Traum des Menschen für den Psychiater bedeutet“, schrieb René Huygbe vor etwa 15 Jahren. „Die Kunst erscheint vielen nur als eine Zerstreuung am Rande des wirklichen Lebens, sie sehen nicht, daß sie in das Herz dieses Lebens hinabreicht und seine noch unbewußten Geheimnisse offenbart, daß sie die diskretesten, die aufrichtigsten, weil am wenigsten berechneten Geständnisse enthält. Die Seele eines Zeitalters maskiert sich hier nicht; sie sucht sich, sie verrät sich hier mit jenem Vorherwissen, das allem eigen ist, was aus der Empfänglichkeit und Besessenheit hervorgeht.“

Die am 19. Juni 1954 eröffnete 27. Biennale ist ein großartiges Zeugnis von der Lebendigkeit der Kunst auch in unseren Tagen. Wenn man mit der Gondel zu den Giardini Pubblici gefahren ist, dann muß man beim Eintritt in diese Anlage, zwischen deren majestätischen alten Bäumen die Pavillons der Biennale stehen, sich freimachen von der Vision Venedig und dem Hauch der Vergangenheit. Es ist nicht möglich, die Kunst unserer Zeit richtig zu bewerten, wenn man mit dem Maßstab einer bestimmten Kunstepoche befangen an sie herantritt, man muß den für alle Zeiten gültigen Maßstab anlegen und „jedes Ding an seinen Ort weisen“. Da wird man sich inmitten des Einsturmes der nahezu viertausend Kunstwerke von über sechshundert Künstlern aus zweiunddreißig Staaten wieder bewußt, daß die Leistung des wahren Künstlers nicht aus der Zeit kommt, sosehr sie deren Spiegel ist, sondern das Gefängnis der Zeit sprengt. Neben vielem Negativen findet der kritische Betrachter auch viele positive Züge, auch an den Fehlwegen offenbart sich häufig, was positiv gesucht wird, und wie sich in der Kunst das dramatische Ringen unserer Zeit kundgibt.

Zwischen abstrakter Kunst und Surrealismus, den beiden wichtigsten Richtungen „moderner“ Malerei und Skulptur, vermochte das zeitgenössische Kunstschaffen ohne engherzige Kriterien bei der Auswahl seinen Platz zu erhalten; so zeigt die 27 Biennale trotz des weitgehend erreichten thematischen Zusammenhanges, in dem geradezu das gesamte echte zeitgenössische Schaffen im Sinne der „Moderne“ sich einfügen läßt, ebenso die Systematik der Konfusion und offenhart die moderne Dekomposition, aber sie verdeutlicht auch, was Ernst Jünger geschrieben hat: „Die Menschheitsgeschichte weicht ab auf das Mechanische und Dämonische zu, kehrt aber zu den Normen zurück, in denen sich ein neues Gleichgewicht ausbildet.“ So verwirrend beim ersten Gang durch die Biennale (welche an Werken darbietet, was ansonst ein viertelhundert Ausstellungen vorstellen) Fülle und Vielfalt und Wechsel auch sind, es ist Surrealismus und abstrakter Kunst mitgegeben, daß Wertvolles und Wertloses nicht erst in langem Bemühen ausgesondert werden muß. sondern leicht und deutlich zu erkennen und zu scheiden ist.

Alle Kunsttendenzen gegenwärtigen Schaffens in Italien kommen dem Besucher in den dreißig Sälen des Hauptpavillons vor Augen, die 1380 Werke von 276 italienischen Künstlern beherbergen. Etwa ein Drittel der Ausstellung mag man besichtigt haben, dann drängt sich Dostojewskijs Wort auf: „Warum liebt der Mensch bis zur Leidenschaft gleichfalls die Zerstörung und das Chaos?“ Zuvor aber erfreuen Gemälde von Filippo De Pisis, Arturo Tosi, Massimo Campigli, Ottone Rosai, Vincenzo Ciardo, Bruno Saeti, Virgilio Guidi, Carlo Corsi, Mario Marcucci, Neno Mori, Elia o Fantuzzi, die Personalausstellung des prämiierten Giuseppe Santomaso und die Gedächtnisausstellungen der seit der letzten Biennale verstorbenen Maler Eugenio Viti, Adolfo Lcvier, Teo Gianniotti, Mario Bac- chclli, Alberto Savinio und Angelo Del Bon. Dann aber folgen die Säle der abstrakten und surrealistischen Maler, bei deren Werken die Mahnung aus dem Lukasevangelium erinnerlich wird: „ das Neue kommt nicht mit Aufsehenerregen!“

Von starker Wirkung sind Santomaso, Mattia Moreni, Enrico Paulucci dank Einfachheit der Formen und virtuoser Begabung für die Farbenkomposition. Unerträglich, ja lächerlich sind dagegen alle Konstruktionen, alles Unechte, Nachahmerische, Kunstgewer- belnde und läppisch Spielende, wie cs besonders kraß sich zeigt bei dem in seine gefärbten Gips- oder Zementflächen mit Hammer und Nagel Löcher bohrenden Lucio Fontana, oder wenn Mario Deluigi die Bildfläche mit einer Farbspritzpistole füllt. Ermüdend und quälend sind jene abstrakten und surrealistischen Schaustücke, denen nichts als Neurose oder Spielerei innewohnt, denen jede sinnvolle Gesetzmäßigkeit oder jeder erwägenswerte, ja irgendwie denkbare Gedanke fehlt. Ihnen reiht sich schließlich am Ende der Ausstellung ein öder, unfroher Neorealismus vorwiegend politisch-demagogischer Ten denz an, zumeist kommunistische Maler, bekannt bereits von der Biennale 1952, insbesondere Carlo Levl, Gabriele Mucchi, Ar- mando Pizzinato, Giuseppe Zigaina u. a., auch der diesmal nur mit einem interessanten „Boogie-Woogie in Rom“ vertretene Renato Guttuso. Rühmend hervorzuheben wären noch einige der Medailleure, die ausgezeichneten Graphiker Cesco Magnolato und Paolo Manaresi, sodann der Trientiner Remo Wolf. Bemerkenswerte plastische Werke zeigen die Preisträger Pericle Fazzini, Oscar Gallo, Mar- cello Mascherini, Adriano Alloati, interessant in seiner Nachahmung totemistischer und südostasiatischer Zierate auf seinen Skulpturen Mirko. Hat man die überaus unterschiedliche Schau der zeitgenössischen italienischen Kunst besichtigt, spürt man, daß viele vorgeben, der Zug ihres künstlerischen Schaffens gehe ins All, während er ins Nichts führt. Inmitten der zur Diskussion gestellten Werke, von denen manche Herausforderungen und Zumutungen sind, nimmt man in der unverkennbaren Atmosphäre einer künstlerischen Tradition, welche auf italienischer Erde auch den stürmischesten Neuerer nicht ganz entläßt, Temperamente, Kompositionskraft und Kolorismus wahr, die aus dem Chaos streben und führen.

Aus den italienischen Sälen führt der Weg über die drei Säle mit den 52 Werken von Gustave Courbet (1819—1877), wo man sich nach der geschauten Auflösung und Zerfaserung an der Festigkeit und Dichte, am Reiz des Stoffes wieder beruhigen und erholen kann, in die weite Welt, über den Ozean. Kolonialstil und Moderne vermengen sich in den Sälen Australien, Südafrika, Kanada. Deutlich erkennt man bei Uruguay und Brasilien — mit den Gemälden „Stadt“, „Ziegen“ und „Mutterschaft“ erscheint hier der aus Mals in Südtirol stammende Karl Plattner — das Bemühen der Ablösung vom europäischen Einfluß und Ringen nach Eigen- wüchsigkeit mit indianischem Untergrund. Indien ist der angelsächsisch-amerikanische Einfluß nicht gut bekommen, Japan hat er aus der .Bahn geworfen. Vietnams Lackmalereien sind eigenartig, reizvoll aber ist die Vermählung uralter indonesischer Kultur mit moderner Maltechnik im Werk des „kokosch- kesen“ Malers Kusuma Affandi.

Die Parallele zur Malerei in der Entwicklung der Plastik, das Wegstreben vom Gegenständlichen, das Zurückgreifen auf die Elemente, die Neigung zur Deformation und zugleich die Sehnsucht nach letzter, reiner Form offenbart sieb im Saal, der dem Straßburger Bildhauer, dem Elsässer Jean (Hans) Arp, gewidmet ist, welcher einen Hauptpreis der Biennale erhielt. Den anderen erhielt der originelle, keineswegs stets ansprechende deutsche Maler Max Ernst, einer der Begründer des Dadaismus und Surrealismus, dessen Werke teilweise von unheimlicher Suggestivkraft sind, der an Rang die anderen zeitgenössischen Surrealisten einsam überragt; abwechslungsreich, symbolkräftig. Zwischen Surrealismus und abstrakter Malerei bewegt sich wendig Joan Miro, der außer in seinem Sondersaal noch im spanischen Pavillon seine gefälligen Kinder einer spielerischen Phantasie und dekorativen Begabung zeigt, abstrakte, surrealistische Gebilde voll Verspieltheit.

Der luftige, schöne österreichische Pavillon des Oberbaurates Josef Hoffmann mit seinen Höfen und Terrassen beherbergt neben einem Dutzend Aquarellen von Paris Gütersloh 115 Werke jüngerer Künstler, wobei eine geschickte Auswahl der Werke jeweils ein abgerundetes Bild der einzelnen Künstlerpersönlichkeit bietet. Bei starker Internationalität findet sich eine österreichische Note im kunstgewerblichen Zug fast aller Aussteller. Der deutsche Pavillon wartet auf mit den Gedächtnisausstellungen des hinter seltsamen Farben und Linien Geheimnisse andeutenden, Farbkristalle in überraschender Perspektivenbeherrschung verbindenden Paul Klee und des zur Bauhausschule gehörenden Oskar Schlemmer. Etwas monoton wirken die lebenden deutschen Surrealisten, irreale Schienen- und Drahtgebilde zeigt der Bildhauer Hans Uhlmann.

Der volksdemokratische Fortschritt stellt sich in der Kunst als tatsächlicher Rückschritt vor. Der Pavillon der Sowjetunion ist wie seit 1932 auch heuer leer. Ungarns Ausstellungsmaterial war noch nicht eingetroffen. Die Tschechen, Rumänen und Polen brachten in der Plastik einen bombastischen Materialismus, pathetische Monumentalität primitivster Propaganda. Auch die Malerei und Graphik fällt aus dem Rahmen der übrigen Biennale. Verstaubt ist die Malerei —- der 91 jährige tschechische Maler Ludvik Kuba; oder die jungen Rumänen Octavian Angheluta mit einem Bild aus dem Reschitzawerk oder Gabor Miklossy vom Grivitzaaufstand 1933 in Malweisen aus dem vorigen Jahrhundert —, interessanter sind die zeichnerischen Reportagen aus dem Partisanentum, etwa von den Slowaken Ludö Fulla und Vincent Hloznik und dem Tschechen Vojtecb Tutelbach, die Indochina- und Chinablätter der Polen Ta- deusz Kulisiewicz und Aleksander Kobzdej. Dieser Blick durch den Eisernen Vorhang ist lohnend. Jugoslawiens Zwielichtigkeit offen-’ bart sich auch in der Kunst; östlich-naturalistisches Pathos der Plastik, westlich-freiere Form in der Graphik.

Die 72 einförmigen surrealistischen Bilder des Griechen Nicos Engonopoulus exerzieren den Surrealismus, in dem er wohl wie mancher andere auch seine Erotik abreagiert, zu Tode. Dänemark bietet ruhige, satte Impressionisten, Holland bleibt ebenfalls etwas konservativ, Finnland wirkt einigermaßen verstaubt. Kalt wirkt Englands Pavillon mit Ben Nicholson, Francis Bacon und dem in Berlin geborenen Lucian Freud als Hauptausstellern. Einwanderer, der litauische soziale Surrealist Ben Shahn und der holländische farbwütige Willem de Kooning, bestreiten die Schau Amerikas. Eindrucksvoll und ordentlich präsentiert sich die Schweiz mit dem 86jährigen Maler Cuno Amiet, dem Gedächtnis des Bildhauers Carl Burckhardt und dem Bildhauer Paul Speck. Den modernsten Pavillon besitzt Israel, in dessen Schau sich der Widerstreit zwischen dem Traditionalismus und Erbe der Heimatstaaten der jetzt in Israel schaffenden Künstler und dem jungen israelischen Etatismus kundgibt.

Höchst ungleichmäßig ist der spanische Pavillon, in dem einige hervorragende Landschafter und vor allem Werke von Joan

Mirö und Salvador Dali zu sehen sind. Frankreich ist reichhaltig, aber weniger packend als in vorhergehenden Biennalen. Da sind die heute bereits 70jährigen Wilden, von der Gruppe" der „Fauves . Derain, Matisse, Rouault, de Vlaminck und van Dongen; eine Anzahl von Abstrakten, mehrere hervorragende Graphiker und schließlich zeitgenössische Maler der phantastischen Kunst, der Belgien einen ganzen Pavillon gewidmet hat. Von Hieronymus Bosch und Pieter Breughel dem Ackeren bis zu James Ensor und Felicien Rops und zu René Margritte und Paul Delvaux über hundert Bilder von Phantasten und Vorläufern der gegenwärtigen Surrealisten, ein Querschnitt durch die Schlaf- und Wachträume eines halben Jahrtausends, eine Schau . von grandiosen Visionen, skurillen Spinti- sierereien, dämonischen Abstraktionen, Erotomanien und Grand-Gignol-Schocks. — In den Napoleon-Sälen der Neuen Prokuration auf dem Markusplatz zeigt Norwegen die schöne Gedenkausstellung für Edvard Munch (1863—1944).

Wenn auch im Bewußtsein des 19. und 20. Jahrhunderts das Idealbild des Menschen entschwunden ist und man vielfach an das Goethe-Wort erinnert wird, daß „kein Mittelpunkt, auf den hingeschaut wircL mehr gegeben ist“, so wird man nach dem Rundgang durch die Biennale zum Gedanken des Philosophen Karl Jaspers finden: „Bilder der Situation sind der Sporn, durch den der einzelne erweckt wird, sich zurückzufinden zu dem, worauf es ankommt.“ Die Biennale 1954 von Venedig ist nicht nur eine riesige Schau zeitgenössischer Kunst, sie ist auch eine Veranstaltung, die von hohem Wert für die Deutung der Zeit, für die Diagnose unserer geistigen Situation ist.

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