6616824-1955_36_11.jpg
Digital In Arbeit

Ein Kampf, die Welt zu bewältigen

Werbung
Werbung
Werbung

Linz, im August

Die Kunst der Niederländer — das sind für uns die Werke der van Eycks, von Bosch, den Brueghels, Rubens, van Dyck, Frans Hals, Rembrandt, Ruisdael, Vermeer. Der letzte große Niederländer, von dessen Bedeutung wir uns eine genaue Vorstellung machen können, ist Vincent van Gogh, von dem der Expressionismus seinen Ausgang nahm. Und doch haben die Niederländer im selben Jahrhundert noch einen zweiten Künstler hervorgebracht, der an Einfluß und Bedeutung van Gogh womöglich noch übertrifft: Piet Mondrian (1872 bis 1944).“

Eine Ausstellung holländischer Kunst der Gegenwart wird daher immer zwei Pole haben; der eine wird die sinnenhafte, farbige, explosive Malerei sein, die in den expressionistischen Eruptionen des Vulkans van Gogh ihren Ursprung hat; der andere wird die ruhige, überlegte abstrakt-konstruktive Malerei der „Stijl“-Gruppe sein, die der ungeordneten Natur das ordnende Schema menschlichen Geistes entgegenhält. Rechter Winkel und gerade Linie sind Ausdruck menschlicher Planung, der — gleichzeitig mit Entstehung der „Stijl“-Bewegung — die Trockenlegung des Zuidersees zu danken ist.

Die ältere Garde der niederländischen Malerei wird — auf der einen Seite — von Jan Sluyters (1881), Herman Kruijder (Kruyder, 1881 bis 1935) und Charles Hubert Eyck (1897) repräsentiert. Sluyters läßt sich nicht auf einen Stil festlegen; allein aus den Jahren 1912 bis 1915 finden sich in der Ausstellung der Neuen Galerie der Stadt Linz von ihm ein „Damenbildnis“ und „Geranien“ in dekorativem Jugendstil, Bilder, die sehr an Klimt erinnern: dann ein „Kubistisches Frauenporträt“; dann ein „Kubisti-sches Interieur“, in dem sich schon das surrealistische Moment der Wirklichkeistverfremdung (wie es Gütersloh in seinen kleinen Blättern hat) andeutet. Sein expressionistisches Selbstporträt aus dem Jahre 1924, sparsamer und kräftiger in den Farben, bändigt die Kräfte, die ihn bewegen, und liegt — wie häufig bei Selbstbildnissen — wieder näher an der

Natur. Von Kruijder, dem späteren expressionistischen Maler des Dorflebens, wirken „Der Reiter“ und „Der Flötenspieler“ am stärksten, die eine in der Art Rousseaus stilisierte Natur geben. Eyck ist der konservativste unter den dreien; erst die kleinformatigeren Gemälde, die er von einem Aufenthalt aus Curacao mitbrachte, reißen den Beschauer durch ihre Frische mit: die „Negerin mit Kind“ und die „Negerfamilie“, ein dekoratives Bild, das durch abstrakte Formelemente im Gleichgewicht gehalten wird.

Die andere Seite, das ist dann Mondrian (Mon-driaan) und die „Stijl“-Bewegung. 1917 begründete Mondrian gemeinsam mit Theo van Does-burg die Zeitschrift „De Stijl“ — eine der epochemachenden Zeitschriften unseres Jahrhunderts. Den Stil, den er in seinen Bildern der Folgezeit realisierte, nannte er selbst „Neo-Plastizismus“. Mit seinen Bildern wollte er sich dem Weltplan nähern, der auf einer großen Harmonie beruht, die aus dem Gleichgewicht der Verhältnisse von Linie, Farbe und Form entsteht Kunst entsteht aus den Spannungen der Welt; er: aber wollte das Aufhören der Spannungen und die Heimkehr zur Ordnung. Er strebte die Ueber-windung der Kunst an, in dem er die Harmoniegesetze der Kunst in der Welt verwirklichen wollte. Er schreibt: „Wenn die Verwirklichung des rein Bildnerischen in der greifbaren Wirklichkeit das Kunstwerk ersetzt, dann werden wir Gemälde nicht mehr nötig haben, denn wir werden inmitten verwirklichter Kunst leben. Und die Kunst wird in dem gleichen Maße verschwinden, als das Leben mehr Gleichgewicht zu haben beginnt.“ Kunst erscheint ihm als ein Kampf, in dem wir die Welt zu bewältigen versuchen; ist uns das einmal gelungen, dann haben wir alles in Ordnung gebracht und bedürfen der Kunst nicht mehr: der Kampf ist gewonnen. So ist es zu verstehen, daß sich seine Gedanken vor allem in der Architektur, in der Raumgestaltung durchsetzen konnten; man sehe sich nur einmal einen von Gropius gestalteten Raum anl Ueberau finden wir da das rechte Maß, geläuterte Formen, klare Proportionen. Das natürlich Wuchernde, das ungebändigt Lebendige ist überwunden, ist abwesend, der „Raum des reinen Geistes“, wie ihn sich Mon-drian vorstellte (und wie er ihn auch in seinem Atelier in New York anstrebte), ist verwirklicht. Und doch gibt es ein Bild, das einen solchen Gropius-Mondrian-Raum zeigt, nüchtern, gegliedert, abstrakt — und auf dem Tisch steht in einer Vase ein Strauß Feldblumen. Es scheint, als ob der Mensch diese letzte Nüchternheit des Geistes nicht ertragen hätte und etwas Lebendiges, etwas ganz und gar Zufälliges gesucht hätte, etwas, das nicht gemessen und berechnet ist, sondern das einfach da sein will.

Mondrians Bilder wirken in ihrer planimetrischen Gliederung durch vertikale und horizontale Bänder (nie sind in ihnen mehr als die drei Primärfarben Rot, Blau und Gelb verwendet) wie die Grundrisse dieses geistigen Raumes, in dem es keine Assoziationen an die Welt der Erscheinungen mehr gibt. Neben seinen Bildern hängen in Linz die asketischen Gemälde von Bart van der Leck (darunter die Triptychon-Komposition mit schwarzen Seitenstücken und weißem Mittelstück), Kompositionen von F. Vor-demberge-Gildewart, die subtilen, nicht-figurativen Paris-Bilder und die „Zwei Frauen“ von Geer van Velde und die spontan und in direkter Uebersetzung innerlicher Visionen entstehenden Bilder von Pietcr Ouborg: die „Treibende gelbe Form“, die abstrahierter Surrealismus ist, und das „Ahnenbild“, eine Ahnentafel nach Art der Primitiven, ein abstrakter Totempfahl sozusagen.

Von den Künstlern, die noch im vergangenen Jahrhundert geboren wurden, seien noch der Expressionist Jan Wiegers und der Neo-Expressionist Gerrit Benner genannt. Von den jüngeren fällt besonders C. Karel Appel (1921) auf. Seine großformatigen Gemälde haben die kindliche Einfachheit des späten Klee, sind aber bunter, froher, unruhiger. Schon ihre Titel sagen viel über sie aus: „Kind und Tier“, „Fragende Kinder“, „Sonne, Tier und Mensch“, „Das bunte Leben“; alle sind voll Lebensfreude und Naivität, auch das an Matisse und den Fauves geschulte „Sitzende Mädchen“ hat sie. Die anderen Maler urtd Graphiker der jüngeren Generation: C. G. Corneille, mit einem lyrischen Gefühl für Farben begabt; H. Disberg, V. H. Elenbaas, den wir vor einem halben Jahr in der Wiener Secession kennenlernten, G. A. M. Romijn, Ru van Rossum (farbige Radierung: „St. Franziskus und die Vögel“, südliche Märchenpracht) und Ap Sok.

Ein tragisches Schicksal hatte der 1882 geborene Maler, Graphiker und Typograph Hendrik Nicolaas Werkman, von dem in Linz elf Drucke ausgestellt sind; in den letzten Kriegstagen 1945 fiel er nationalsozialistischem Terror zum Opfer. Er arbeitete in Kontakt mit der Groninger expressionistischen Malergruppe „De Ploeg“, begann auch mit abstrakten Kompositionen; schließlich gelang ihm eine vollendete Verschmelzung von Farbe und Form.

Von den Plastikern erschüttert und fesselt vor allem Wessel Couzijn (1915) mit seiner zu bluten scheinenden Gipsskulptur „Ecce homo“; sie zeigt das Bild des Menschen unserer Zeit, der an seine Welt gekettet ist wie ein gefangener Raubvogel. Großartig nüchtern das „Schiffahrtsmonument Rotterdam“ (Bronze). Sehr sparsame, aus Eisenstäben konstruierte Plastiken sind „Vogel“ und „Kaktus“ von Carel Nicolaas Visser (1928).

Die Linzer Ausstellung, die 95 Gemälde, 75 Graphiken und 25 Plastiken umfaßt, wurde von H. L. C. Jaffe und W. Sandberg vom Stedelijk-Museum in Amsterdam zusammengestellt; im deutschen Sprachraum wird sie nur in Berlin und in Linz gezeigt. Es lohnt sich, eine Fahrkarte nach Linz zu lösen.

Ein Thema. Viele Standpunkte. Im FURCHE-Navigator weiterlesen.

FURCHE-Navigator Vorschau
Werbung
Werbung
Werbung