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Eisen und Beton

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I.

Das 19. Jahrhundert, reich an bedeutenden Werken der Musik und Malerei, des Romans und der Lyrik, entwickelte keinen eigenen Baustil, sondern griff auf Bauformen vergangener Zeiten zurück. Freilich brachte auch diese Zeit bedeutende Architekturpersönlichkeiten hervor, wie Karl Friedrich Schinkel, Gottfried Semper oder Violett-le-Duc.

Gleichzeitig mit der Industrialisierung nimmt die Bevölkerung sprungartig zu, der Zug in die Stadt setzt ein. In 150 Jahren vergrößert sich London um das Achtfache, Paris in 50 Jahren um das Zweieinhalbfache. Eine völlige Veränderung der Herstellungsmethoden sowie das Verdrängen und Ablösen des Handwerks durch die Industrie führt zur Machtstellung der Technik. Die Architektur hatte sich bisher auf die traditionellen Bauaufgaben beschränkt: Kirche, Schloß, Rathaus und Bürgerhaus. Mit der Industrialisierung begannen sich nun neue Bauaufgaben herauszukristallisieren: Fabriken, Verwaltungsgebäude, Bahnhöfe, Krankenhäuser, Sportbauten, Schulen, Bibliotheken und Ausstellungsgebäude. An dieser Fülle von Einzelaufgaben scheiterte der Eklektizismus mit seiner an historischen Vorbildern geschulten Methode. Jede Stilgeschichtlichte Epoche hat noch, auf der Suche nach ihrem spezifischen Ausdruck, das Material gefunden, das ihrem Anspruch entsprach. Zu den bisher natürlichen Baustoffen, Stein, Holz und Lehm, kommen die künstlichen, Stahl, Beton und Glas. In einer Zeit des schöpferischen Tiefstandes erwartet man sich nun vom Eisen entscheidende Anregungen. Solche gehen in der Tat vom Brückenbau aus. 1779 baut John Wilkinson die erste gußeiserne Brücke über den Severn bei Coalbrookdale in England. Diese reine, auf jede Dekoration verzichtende Konstruktion, zeigt eine neue ästhetische Wirkung. Mit großer Kühnheit entwirft Thomas Telford 1801 eine weitgespannte„-stützeinlose Brücke über die Themse in London. Der erste-Versuch im Hochbau ist die 150 von Henri Labroust erbaute Bibliotheque Nationale in Paris. Unmittelbar darauf, 1851 bis 1854, erbaut Joseph Paxton den Kristallpalast in London. Als Gegenstück dazu entsteht 1889, anläßlich der Pariser Weltausstellung, die „Galerie des Machines“, die bereits als klassisch zu bezeichnende Stahlkonstruktion. Hier gelingt zum erstenmal eine völlig stützenfreie Überspannung von großer Distanz (115 Meter), sie ist die Erfüllung einer seit Jahrhunderten erträumten Raumvorstellung. Der zur selben Ausstellung errichtete Eiffelturm (Höhe 300 Meter) verwertet die Erfahrungen der vorhergegangenen Brückenbauten und wird mit seiner architektonischen Eleganz zum Denkmal der modernen Ingenieurkunst.

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Im 19. Jahrhundert gilt Stahl als der neue Baustoff, obwohl der Stahlbeton seit der zweiten Hälfte des Jahrhunderts, durch die Entdeckung des Gärtners Monier, bereits bekannt ist. Die konstruktiven Grundlagen schafft erst der Franzose Francois Hennebique in den neunziger Jahren, zur gleichen Zeit, als man in der Architektur die schlichte, sachliche Form anzustreben beginnt.

Die neue Konstruktionsmöglichkeit und dieser Gestaltungswille führen zu einer günstigeren Entwicklung als im Stahlbau, wo es eigentlich nur zu Einzelleistungen kam. Nun entstehen auch die ersten Kirchenbauten im neuen Material. 1894 baut Anatol de Baudot die Kirche St. Jean de Montmartre in Paris, den ersten Sakralbau in Stahlbeton.

1903 errichtet der Altmeister des französischen Betonbaus, Auguste Perret (1874 bis 1954), das Wohnhaus in der Rue Franklin in Paris in Skelettbauweise. Es gelingt ihm damit, eine für den Stahlbeton typische Gestaltung zu entwik-keln. Die wenigen Stützen, auf denen die Konstruktion Tuht, erlauben weitgehende Freiheit in der Raumteilung durch Trennwände. Damit ist der variable Grundriß, später ein Element der modernen Architektur, geschaffen. Bei Perrets Entwurf für eine Garage in der Rue Ponthieu in Paris tritt die unverkleidete Skelettkonstruktion als Architekturform in Erscheinung. Sie ist Konstruktion und Form zugleich. Die nicht tragende Wand wird in Glas aufgelöst. Damit wird eine weitere Ausdrucksform der modernen Architektur vorweggenommen. Höhepunkt seines Schaffens aber ist die Kirche Notre-Dame Le

Raincy 1922. Die Wände aus Stahlbetonfertigteilen, von jeder Tragfunktion befreit, lassen das Licht allseitig ein, die dünnen Stützen wirken als senkrechte Raumakzente und bilden die seitliche Begrenzung des mittleren Schiffes. Damit ist der modernen Architektur der endgültige Durchbruch im sakralen Raum, in der Einheit von Material und Konstruktion, gelungen. 1913 baut Max Berg die Jahrhunderthalle in Breslau, eine Betonrippenkuppel mit einer Spannweite von 65 Meter.

In Amerika beginnt die Entwicklung mit der von George Washington Snow entwickelten Balloon-Frame-Konstruktion, einer Art zimmermannsmäßig vorbereiteten Skelettkonstruktion aus Holz, zum erstenmal angewandt bei der Kirche St. Mary in Chikago 1833. 1848 entwirft James Bogardus eine Gußeisenfabrik in New York. Gußeiserne, vorfabrizierte Elemente ersetzen das Mauerwerk. Die Tragkonstruktion besteht aus gußeisernen Stützen und Balken. Dieses Gebäude ist als Vorläufer für die Skelettkonstruktion zu bezeichnen. Erst durch die Verwendung von Stahl, der nicht nur druck-, sondern auch 'zugfest ist, und durch das Verbinden der Stützen und Balken wird das Skelett vom Fundament bis zum Dach ein in sich steifes Tragwerk. Die erste Stahlskelettkonstruktion wendet William Le Baron Jenney bei dem Home Insurance Building in Chikago 1883 bis 1885 an, sie wird zum Markstein einer von innen heraus organisierten Architektur. Durch die Übersetzung von Sempers „Stil“ und der weit verbreiteten Publikation „Manifest über die moderne Baukunst“ von Otto Wagner durch John W. Root beginnt der Einfluß europäischer Architekturtheorien spürbar au werden. Louis Sullivan, der stärksten Persönlichkeit der damals entstehenden „Chikagoer Schule“, gelingt mit seinem 1899 erbauten Warenhaus Carson, Pirie and Scott in Chikago der beste Ausdruck der Skelettkonstruktion. Sullivan wird nicht nur als Praktiker, sondern auch als Theoretiker richtungweisend, sein Gedanke, ein Gebäude von innen nach außen zu planen, war damals neu. Durch die Weltausstellung 1893 in Chikago feiert die sogenannte „abstrakte Schönheit“ den Sieg über die funktionelle Gestaltung Sullivans und damit auch über die Chikagoer Schule und ihre modernen Bestrebungen. Allein dastehend führt der aus dieser Schule hervorgehende Frank Lloyd Wright (1869 bis 1959) deren Tradition weiter. Die Einordnung des Baukörpers in die Natur und die Entwicklung des Hauses von innen nach außen, ohne Bindung an die überlieferten Formgesetze, führt zum „organischen Bauen“. Erst 1932, seit der Berührung mit der modernen europäischen Architektur durch die nach Amerika emigrierten Architekten, tritt Amerika wieder entscheidend auf.

III.

In den neunziger Jahren entwickeln sich in England, Belgien, Österreich und Deutschland Bewegungen, die trotz ihrer Verschiedenheit gemeinsame Züge aufweisen: Ablehnung jeglicher Formen vergangener Stile, Suche nach einer neuen Ornamentform (damit noch dem 19. Jahrhundert verhaftet). In England sammeln sich in der Bewegung „Arts and Crafts“ um William Morris und John Ruskin bereits nach der Mitte des Jahrhunderts Künstler, die um die Hebung des handwerklichen Niveaus bemüht sind. Der Schotte Charles Rennie Mackintosh übt später, mit seinem neuen“ Konzept für das Wohnhaus (von innen nach außen konzipiert, mit zweigeschossiger Halle, um die die übrigen Räume locker gruppiert werden) wesentlichen Einfluß auf Adolf Loos und die Wiener Secession aus. Zum Unterschied von Arts and Crafts erkennt „Art Nouveau“ in Belgien die Bedeutung der Maschine für das neue Bauschaffen. Henry van der Velde (1863 bis 1957), der spätere Direktor der Kunstschule Weimar, mit seiner „Reinheit der neuen, zweckmäßigen Form“ bildet das Haupt der Bewegung. Die in München erscheinende Zeitschrift „Jugend“ gibt dem Stil seinen Namen. Um ihn gruppieren sich Victor de Herta in Belgien, H. P. Berlage in Holland und Charles Rennie Mackintosh in England, die „Wiener Secession“ mit Otto Wagner (1841 bis 1918), der, ursprünglich dem Elekti-zismus verhaftet, sehr bald eigene Wege geht, die Reinheit der Form aus der Konstruktion entwickelnd (vgl. dazu seine 1895 erschienene Publikation „Moderne Architektur“). Bei seiner 1905 entstandenen Postsparkasse in Wien verzichtete er auf jeden ornamentalen Schmuck und rindet in seiner Anlage und seiner Kirche am Steinhof, die ein seither unerreichtes Beispiel sakraler Architektur darstellt, seinen Höhepunkt. Joseph Olbrich, ein Schüler Otto Wagners, stellt in seinen Bauten auf der Mathildenhöhe in Darmstadt die Verbindung zu der deutschen Gruppe mit Behrens, Eckmann, Endell und Riemerschmid her. Die Wiener Secession bildet die Grundlage für die 1903 entstehende „Wiener Werkstätte“, in der Joseph Hoffmann das moderne Wiener Kunstgewerbe gestaltet. Adolf Loos (1870 bis 1932), ein Feind des Ornaments und damit der Antipode zu Olbrich und Hoffmann, schafft mit seinem Haus Steiner 1910 einen puritanisch strengen, einfachen Baukörper, die Fenster sind ohne Profile in die nackte Fläche geschnitten, die ästhetische Wirkung geht allein vom Wechsel von verglaster und geschlossener Fläche aus. Durch die Absage an das Ornament tritt die Proportion hervor. Die unbedingte Sachlichkeit wird die neue Architektursprache.

Viele Anregungen dieser Zeit stammen von Malern und Plastikern. Für die Entstehung der modernen Architektur ist die „optische Revolution“ entscheidend. Neue Sehgebiete erschließen sich, die perspektivische Raumvorstellung wird abgelöst von der Sehform, die ein Objekt von verschiedenen Standpunkten aus zugleich erfaßt. Das bedeutet in der Architektur, daß der nach außen durch Wände abgeschlossene, eindeutig von einem Standpunkt erfaßbare Raum abgelöst wird von einem Gefüge ineinandergeschobener Raumvolumina. Das Stahl- und Stahlbetonskelett gibt die konstruktive Möglichkeit. Adolf Loos' Haus Steiner kann hier als erstes Beispiel angeführt werden. Die holländische Stijl-Gruppe, zu der sich 1917 die Maler Mondrian und Van Doesburg, die Architekten Oud, Van't Hoff und der Bildbauer Vantongerloo zusammenschließen, setzt sich mit den sozialen und wirtschaftlichen Gegebenheiten der Zeit auseinander. Die wechselseitige Beeinflussung der Künste führt zum erstenmal zu einem formal geschlossenen Erscheinungsbild auf den verschiedensten Gebieten. Die Entwürfe der Stijl-Gruppe leben vorwiegend von der Harmonie der Kuben, Flächen und Linien, hinter der die Funktion und Konstruktion zurückstehen. Als klassisches Beispiel und Manifest zugleich ist das 1923 von Van Doesburg und Car van Eesteren entwickelte Haus anzusehen.

Hier sei noch Antonio Gaudi (18 52 bis 1956), der die fließenden Linien des Jugendstils in die Dreidimensionalität seiner durchmodellierten Architekturplastik übersetzt, erwähnt. Durch die Übernahme organischer Formen in die Architektur ist sein Einfluß auf die Stadtplanung der dreißiger Jahre ,und auf Einzelbauten nachweisbar. Der deutsche Werkbund, 1907 begründet, faßt Architekten; 'fedustrie'1-' und Soziologen zusammen und will die Entfremdung zwischen den entwerfenden Künstlern und der Industrie überwinden. Peter Behrens (1868 bis 1946) versucht die Reform deT Architektur von der großen Form her. In seinen Bauten für die AEG Berlin wird der Industriebau zum erstenmal architektonisch bewältigt. Er steigert die Zweckform ins Monumentale und gelangt schließlich zur klassizistischen Form. Mit seinem Industriebau leitet er über zum Monumentalismus, Expressionismus und Plastizismus. i .S.i'r!.v 2'.,' v5

Neben Behrens bemüht sich auch Hans Pölzig um die Formung des Industriebaus. 1911 entsteht sein Wasserturm in Posen als ein noch ausgesprochen konstruktives Beispiel. Für seine monumentalisierende und expressiv übersteigerte Architektur ist das 1919 errichtete Schauspielhaus in Berlin charakteristisch. Die expressionistische Architektur versucht die starke Ausdrucksgebärde der gleichzeitigen Flächenkunst auf das dreidimensionale architektonische Gebilde zu übertragen. Hans Pölzig verkleidet die Kuppel des Zuschauerraumes mit einer Unzahl hängender Zapfen, Fritz Högers 1923 erbautes Chilehaus in Hamburg spitzt sich wie der Bug eines Schiffes im spitzen Winkel zu. Am nachhaltigsten ist Erich Mendelsohn vom Expressionismus beeinflußt. Ihm ist in seinen frühen Bauten in erster Linie uro einen plastischen Ausdruck der Betonstruktur zu tun. Angeregt durch die Formbarkeit des Stahlbetons, schafft er 1920 den Einsteinturm in Potsdam.

Im Entwurf von Antonio Sant'EIia, 1913, sehen wir riesige Aufzüge, Fahrbahnen und Drehscheiben, auffällig angebracht, die das Bild der Architektur von Augenblick zu Augenblick verändern. Diese Richtung beschränkt sich fast ausschließlich auf Italien und ist als erste Reaktion auf den Eklektizismus und den Jugendstil zu verstehen.

Alle diese Bestrebungen sind aber mehr oder weniger Übergänge zu den schließlich ganz Europa umfassenden eigentlich revolutionären Bewegungen, den Funktionalismus, Rationalismus, Konstruktivismus und Strukturalismus, die aus dem geschichtlichen Einschnitt, den der erste Weltkrieg bedeutet, hervorgehen.

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