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Unbehagen im Gemeindebau

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Die Geschichte des Wiener Gemeindebaus ist noch nicht geschrieben. Trotzdem erscheint dieses Thema fast als ein historisches: die Höhepunkte gehören der Vergangenheit an, und neue sind vorläufig keine zu erwarten. Man soll aber auch die Produktion der Gegenwart mit jenen Maßstäben messen, die der junge Gemeindebau zum Teil selbst geschaffen hat. Das ist notwendig, denn die Wiener Verhältnisse sind nicht ohne weiteres mit denen anderer Städte zu vergleichen. Das erschreckend tiefe Wohnniveau der Zeit vor 1914 hat Voraussetzungen geschaffen, die sich bis heute stark auswirken.

Das Unbehagen am Gemeindebau entsteht jedoch nicht nur aus dem Vergleich mit den eigenen großen Leistungen der zwanziger Jahre oder dem gegenwärtigen Niveau in Ländern mit richtungweisender Architektur, sondern aus tieferliegendenj^“nuimteil-weise bewußten Erfahrungen aus jener vielzitierten Gründerzeit, weicht scKöh einmal in einem großen Stil, nur mit anderen Spielregeln und Voraussetzungen, einen „Bedarf gedeckt hat. Wenn auch heute ein fortgeschritteneres und humaneres System verwirklicht wird, so sind doch Symptome sichtbar, die kommenden Generationen vielleicht als zweite Gründerzeit erscheinen werden.

Der junge, heute historische Gemeindebau der Zwischenkriegszeit war eine revolutionäre, kulturelle Tat, und nicht nur Demonstration eines politischen Konzepts. Er war Bekenntnis und Programm: Die baukünstlerische Bewältigung der Behausung für die breitesten Volksschichten wurde zum wichtigsten Problem der Architektur erklärt. Es traten die besten Architekten in den Dienst dieser Aufgaben, und man vollbrachte gerade in Wien Leistungen, die internationales Aufsehen erregten.

Die Notwendigkeit einer radikalen Lösung war auch besonders groß. Wie die Zählung vom April 1917 ergab, waren vom gesamten Wohnungsbestand 73 Prozent Kleinwohnungen (von dem bekannten Zimmerküchetyp, mit indirekter Belichtung und Belüftung der Küche über den Gang), die noch dazu im Durchschnitt von drei bis vier Personen belegt waren. Die sanitären Einrichtungen sind bis heute genügend bekannt.

Durch die Einführung der Wohnbausteuer konnte im September 1923 der Gemeinderat den Beschluß zum Bau von 25.000 Wohnungen fassen.

Aber diesem entscheidenden Schritt gingen schon bemerkenswerte Versuche voraus: Die Vertreter der Gartenstadtbewegung hatten eine lebhafte Diskussion entfacht, deren Ergebnisse einige Siedlungsbauten waren, die noch heute, wenn man von der zeit-bedis-gten, wegen Mangel an Baumaterial dürftigen Ausführung absieht, einen beispielgebenden Wohnwert besitzen. Heinrich Tessenov wurde aus Dresden geholt, und es entstand die Kolonie Rannersdorf. Leider konnte dieser bedeutende Pionier nicht für Wien gewonnen werden. Er soll über die unplangemäße Ausführung seiner Siedlung so verärgert gewesen sein, daß er wieder abreiste. Adolf L o o s schuf mit Hugo Mayer die Siedlungen „Wien-West“ und „Heuberg“, Reihenhaussiedlungen mit einem ganz spezifischen, erfrischenden Charakter. Man wird an die Geschlossenheit und Einheitlichkeit burgen-ländischer Dörfer erinnert, wenn man diese Siedlungen nicht überhaupt als eine moderne Modulation der Siedlungsatmosphäre des Wiener Raumes bezeichnen will.

Gleichzeitig entstanden durch Josef Frank, Krause, Kaym, Het-m a n e k und Schartelmüller bemerkenswerte Anlagen. Obwohl der Siedlungsbau von der Gemeinde in ländlichen üebieten auch spater nie ;anz aufgegeben wurde, fiel doch die Entscheidung zugunsten des sogenannten „Stockwerkbaues“, der eine schnel-ere Bebauung, aber auch eine ökonomischere Ausnützung der kleineren Grundstücke im Stadtgebiet versprach. Die Werkbundsiedlung, 1932 schon inter den schwierigsten Umständen :ertiggestellt, blieb nicht nur der etzte sichtbare Ausdruck einer archi-:ektonischen Bewegung, sondern über-laupt die letzte Manifestation moderier Baukunst in Österreich.

Wenn auch die Ziele der sogenann-:en Gartenstadtbewegung als utopisch :rklärt wurden, so hat doch diese Aus-:inandersetzung fruchtbringend weiter-jewirkt. Es entstanden nun der Reihe lach die großen Wohnhausanlagen, inter ihnen „Superblocks“ mit 1000 )is 1500 Wohnungen. Es wurden vorliegend „Höfe“ gebaut, die in der Geschichte oft Ausdruck einer genützten, autarken Gemeinschaft wa-en. Die Wohnungen waren verhältnis-näßig klein und mit geringem sanitären Komfort ausgestattet, den geneinsamen Bedürfnissen wurde jedoch tm so mehr Rechnung getragen. Diese \nlagen sind heute noch organische, inverwechselbare, geographische Orte nnerhalb des Stadtkörners. die sich durch Großzügigkeit, Differenziertheit, Weiträumigkeit und kraftvollen Ausdruck ihrer Bestimmung auszeichnen. Ihr Pathos ist heute freilich schon überflüssig geworden, aber es ist doch sympathischer als die Monotonie der Fassaden einer gelangweilten Gesellschaft. Wenn ihre „strategische“ Anlage mehr optisch als tatsächlich wirksam war, so haben doch diese Monsterbauten einen weitaus menschlicheren Maßstab (um ein heutiges Schlagwort zu gebrauchen) und sind in ihrer architektonischen Durchbildung mit viel mehr Sorgfalt behandelt als die Konfektion von heute.

Kunstgeschichtlich gehören diese Bauwerke dem Expressionismus an, der viele Kontakte zum Mittelalter besitzt, in einer gewissen Mystifizierung des Profanen.

Das Bauschaffen jeder Zeit ist Ausdruck ihrer Fähigkeiten, Ziele und Grenzen. Wir besitzen demnach im Gemeindebau nach 1945 eine Illustration unserer wirklichen kulturellen Lage.

Gegenüber dem Altgemeindebau gibt es natürlich Fortschritte, aber nur im zähl- und wägbaren Bereich: die Wohnungen sind größer geworden, die sanitäre Einrichtung vollständig, und das gesamte Bauprogramm hat beachtlich zugenommen. Aber im gleichen Grad scheinen die „geistigen“ oder „kulturellen“ Werte verschwunden zu sein. Die äußeren Beziehungen der Häuser ergeben nicht mehr Räume, sondern Abstände; sie sind Ergebnisse der Bauordnung. Die Höhen werden von einseitigen Erwägungen diktiert. Die Vermittlung zwischen Außen- und Innenraum hält man für Luxus. Die Loggien der Vorkriegszeit, als wertvolle Erweiterung des Wohnraums, verschwinden. An ihre Stelle treten endlose Fensterreihen, manchmal Fenstertüren, und noch seltener dekorativ verteilte, unbrauchbare Balkohe.

Im Stadtgebiet gerät man in einen seltsamen Wettlauf mit der Gründerzeit. Da noch ihre Baulinien und

Gesimshöhen gelten, füllt man nach ihnen wieder die Bombenlücken aus und bringt, dank der niederen Raumhöhen, noch mehr Geschoße unter. Zuletzt scheut man sich nicht, mit Tricks über die Gesimskanten hinaus-zuklettern, die eigentlich nur einem hartgesottenen Hausherrn der Gründerzeit zuzutrauen wären. Da man diese Praktiken vom gesamten öffentlichen Wohnbau her kennt, so hätte gerade die Gemeinde mit guten und großzügigen Lösungen vorangehen müssen.

So sind es an vielen Stellen gerade Gemeindebauten, die im Verein mit Gründerhäusern den alten Maßstab und den Charakter einiger Straßenzüge zerstören.

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