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Hausbau in der Kulturform des 20. Jahrhunderts

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Didįp echnische Hochschule Graz hat durch die Verleihung der Würde und des akademischen Grades eines Doktors der technischen Wissenschaften ehrenhalber an Richard Neutra einen amerikanischen Architekten geehrt, der zu den beachtetsten und bahnbrechendsten Baukünstlern der Gegenwart gehört.

Wie es in der Promotionsurkunde heißt, wurde das Ehrendoktorat an Richard Neutra verliehen wegen der „entscheidenden Impulse, die er der Entwicklung der neuzeitlichen Baukunst gab, und seiner Verdienste, die er sich als gebürtiger Österreicher für das neue Bauen in aller Welt erworben hat“.

Durch Neutra wurden die schöpferischen Ideen seiner Lehrer Otto Wagner und Adölf Loos, jener österreichischen Architek- tenpersönlichkeiten, die zu den Pionieren einer Erneuerung der Baukunst in Europa gehören, vielleicht am folgerichtigsten weiterentwickelt.

Für die Entwicklung des Werkes des nun seit 1923 in den Vereinigten Staaten tätigen Architekten waren allerdings noch zwei andere Komponenten von ausschlaggebender Bedeutung: die Tendenzen der modernen amerikanischen Architektur und die Gestaltungsmöglichkeiten mit dem hochentwickelten amerikanischen Baumaterial, das durch die Hand Neutras höchste künstlerische Ausdruckskraft erfährt.

Richard Neutra hatte auch unter den amerikanischen Architekten Vorläufer, die sich um einen architektonischen Ausdruck des großtechnischen Zeitalters bemühten: im vorigen Jahrhundert John Welborn Root und Louis Sullivan, vor allem aber den gegenwärtig achtzigjährigen Frank Lloyd W right.

Als Neutra seine Tätigkeit in Amerika beginnt, werden die Hochhausbauten zum großen Teil noch immer mit unorganischen Dekorationen überzogen, die ihre Details aus der klassischen Formenwelt holen, imc Einzelwohnhaus herrscht im allgemeinen noch der „colonial-style“ vor. Seit damals beschäftigt Neutra das Problem, das den eigentlichen Inhalt seines Werkes bildet: die Entwicklung des Wohnhauses, das dem Lebens- rhythmus des 2 0. Jahrhunderts entspricht und Ausdruck unserer Zeit ist, das heißt des Wohnhauses in seiner vielfältigsten Form, beginnend bei der einfachen Arbeitersiedlung bis zum großen individuell gestalteten Einzelhaus.

Unter seinem Einfluß und unter dem Einfluß Frank Lloyd Wrights sowie einiger jüngerer Architekten, die dem Museum of Modem Art in New York nabestehen, hat sich die amerikanische Architektur in diesem Vierteljahrhundert grundlegend gewandelt.

Das Werk Richard Neutras, einer kritischen Analyse unterzogen und unter dem Aspekt der gegenwärtigen Architekturentwicklung von verschiedenen Standpunkten aus betrachtet, offenbart sich mit beachtenswerter Klarheit:

Vom allgemein architektonischen und städtebaulichen Standpunkt gesehen, zeigt sich im Werk Neutras ein deutliches Abrücken vom amerikanischen Typus des Stockwerks- und Hochhauses für Wohnzwecke. Gemeinsam mit Fr. L. Wright, einem leidenschaftlichen Verfechter des Flachbaues, propagiert Neutra den ebenerdigen Wohnhausbau, nicht nur aus menschlichen und hygienischen, sondern auch aus wirtschaftlichen Gründen. Interessant ist die Feststellung, daß Wright nach seinen systematischen Untersuchungen über die Vor- und Nachteile des Hochhauses und des Flachbaues zu dem Ergebnis gelangt, daß der Flachbau im Wohnhausbau trotz dem hiedurch bedingten ungeheuren Wachstum der Städte im Gesamteffekt volkswirtschaftlich günstiger erscheint als das Hochhaus. Es tritt somit das für eine spätere Kunstgeschichtsschreibung sehr interessante Phänomen auf, daß in der Mitte des 20. Jahrhunderts führende amerikanische Architekten das Flachhaus vertreten, während namhafte Pioniere einer modernen Baukunst in Europa, wie etwa le Corbusier, das Hochhaus inmitten großer Grünanlagen und die Zusammenfassung des Wohnraumes zu großen Wohneinheiten propagieren.

Vom funktionellen Standpunkt weisen seine Bauten eine äußerste Konizentrie- rung der Arbeit s- und Nebenräume auf kleinstem Raum auf, mit Ausnützung sämtlicher modernster technischer Hilfsmittel und eine weitgehende Auflockerung und Öffnung der eigentlichen Wohn- räume. Hiedurch ergibt sich eine außerordentliche wirtschaftliche Konzentration der technischen Anlagen eines modernen Hauses. In vielen der Neutraschen Häuser ist der Typus der später industriell hergestellten und genormten „kitchen-units“, in denen die Bedienung sämtlicher Apparate womöglich von einem Sitz aus erfolgen kann, vorweggenommen.

Konstruktiv gesehen, bedeutet das Werk Neutras den Verzicht auf jedes programmatische Hervorkehren oder Verdecken der Konstruktion. Neutra bemerkt hiezu: „Das bautechnische Gerippe eines Baues besitzt in der modernen Architektur nicht die Tendenz, plastisches Ausdrucksmittel zu werden. Es gibt Rahmen und Unterlage für die Raumbeherrschung, ist Schalung, Öffnung, und das ist seine wertvollste Tätigkeit. Unsere bauliche Anschauung wendet sich tatsächlich dem Räumlichen zu, während die griechische sich auf das Körperliche richtete. Es ist bezeichnend, daß hiebei die hergebrachten Grenzen zwischen Innen- und Außenarchitektur dahinschwinden und die äußere Ausbildung von der inneren Raumbildung zu lernen vermag. Im antiken Bauwerk ist es umgekehrt. Dort handelt es sich um da Finden körperlicher Verhältnisse, zuerst außen, dann innen; die Innenarchitektur ist nur eine Variante der äußeren.

Wir sind in der Kunst und im Laster des Abstrahierens des Materials veit über die Griechen hinausgelangt. Es gibt für uns keine statische Beziehung an sich, die baulich ausgedrückt werden könnte, sondern jeweilig nur eine besondere, in besonderem Stoff, unter einem besonderen Konstruktionsgedanken auftretende. Das bautechnische Gerippe eines modernen Baues läßt sich ebensowenig wie maschinelle Glieder zu einem plastisch-formalen Ausdrucksmittel auf züchten — darin liegt der entscheidende Gegensatz der modernen Architektur zur klassischen.“

Vom formalen Standpunkt betrachtet, erhebt sich die Frage: Wie weit ist die Neutrasche Architektur seit der Zeit, alt er an die Möglichkeit der Entwicklung einer Kunstform aus den struktiv-funktionalen Gegebenheiten des amerikanischen Wohnhausbaues dachte, also seit etwa 20 Jahren, Wirklichkeit geworden?

Als Neutra diese Möglichkeit in seinem Werk „Amerika, die Stilbildung des neuen Bauens in den Vereinigten Staaten“ (Wien 1930) erwähnte, hatten auch namhafte europäische Architekten ein völlig neues Raumideal entwickelt. Im Anschluß an den Kubismus in der Malerei mit seinen die perspektivische Raumkomposition auflösenden Tendenzen geht die Auflösung des Raumes auch in der Architektur vor sich.

Dieser in Europa von einem geistigen Standpunkt aus erfolgten Raumauflösung, als Ergebnis einer Erweiterung des optischen Gesichtsfeldes in der modernen Kunst, kam in den Vereinigten Staaten das aus wesentlich anderen Motiven von Fr. L. Wright entwickelte, aufgelöste, raum- und landschaftsverbindende Wohnhaus entgegen. Statt einer Raumfolge, wie in der früheren Architektur, ist nun die Raum durchdrin- g u n g das Kompositionsprinzip der modernen Baukunst. Die Wand verlier: ihre Funktion als Abschluß; die Räume sind Tiicht mehr als Einzelzellen gestaltet, sondern der Großraum, nur funktionell durch entsprechende Möbelstellung unterteilt oder durch halbhohe Wände getrennt, bestimmt das Haus. Die äußere Umhüllung als stoffliche Wand macht der Begrenzung des Raumes durch die entstofflichende Wirkung großer Glasscheiben Platz. Der Raum setzt sich in Form von Terrassen und Plattformen, ohne Treppen, sondern mit gleicher Fußbodenhöhe in den Garten oder in die Landschaft fort, in der Wirkung unterstrichen von weitauskragenden Baldachinen, die die Grenz von innen und außen weiter verwischen. Es ist eine Ausstrahlung des Innenraumes nach außen und ein Hereinziehen der Landschaft in den Innenraum.

Eine neue Form des landschaftsverbundenen Bauens — allerdings in einem anderen Sinn als dieses oft mißverständlich gebrauchte Wort bei uns gebräuchlich ist — kündigt sich an. Der Ausblick aus den Räumen in die Landschaft läßt dieselbe durch die Großräumigkeit erst voll zur Wirkung kommen. Durch die äußerst zart dimensionierten, eloxierten Aluminiumprofile der Tür- und Fenstersprossen wird die Glaswand in rhythmisch sich wiederholende Einzelabschnitte zerlegt. Die Landschaft erfüllt den Raum wie ein kostbares Gemälde. Ihre bewegte Wirkung wird noch gesteigert durch jeglichen Verzicht auf dekorative Details in der Raumgestaltung. Als dekoratives Detail wirkt lediglich der Schmuck der Blumen und Pflanzen, der allerdings nach rein architektonischen Grundsätzen in die gesamte räumliche Komposition einbezogen wird. In dieser Komposition spielt die Farbe eine außerordentliche Rolle, und zwar sowohl die Farbe der räumlichen Materialien für Wände, Boden, Decke, Möbel und Bezugstoffe als auch die Farbe der in diese Gesamtkomposi- tion einbezogenen Elemente der Natur.

Das gleiche äußerst feinfühlige Augenmerk wird der Behandlung des Materials gewidmet. Die Differenzierung der verschiedenen Oberflächenwirkungen wird mit der gleichen Delikatesse ausgeführt wie die farbige Übereinstimmung. Hierin zeigt sich allerdings in besonderer Weise sein großer Meister Adolf Loos.

Von noch einem Standpunkt ist das architektonische Werk Richard Neutras, zusammen mit dem Fr. L. Wrights und gleichgesinnter amerikanischer Architekten, von Bedeutung; es ist der vollendetste Ausdruck dafür, daß die amerikanische Nation über die Zivilisation hinausgewachsen ist und, in ähnlicher Weise wie in der Literatur, eine Kulturform des 2 0. Jahrhunderts zu entwickeln begonnen hat. Während anderswo vielfach rückläufige Bewegungen festzustellen sind und über Probleme diskutiert wird, denen der geschichtliche Hintergrund unserer Zeit fehlt, ist hier in äußerster Konsequenz der Weg beschritten, zu einem künstlerischen Ausdruck unserer Zeit und unseres Lebensrhythmus zu gelangen. Indem Neutra jede machtpolitische Auswertung der Architektur auf das schärfste ablehnt und als absolutes Moment nur den Raum als Hülle des Menschen gelten lassen will, begegnet er sich am stärksten mit seinem großen, um allerdings mehr als 20 Jahre älteren Zeitgenossen Fr. L. Wright, der über die Aufgaben einer Architektur der Zukunft die klassische Formulierung prägte: „Die kommende Architektur hat dem Menschen zu dienen und nicht den Mächten, die ihn zu beherrschen trachten.“

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