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Wenn Marcel Proust Architekt wäre...

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Architektur ist für den Oesterreicher Richard J. Neutra zuallererst: Wissenschaft vom Menschen. So lautet der Titel eines Vortrages, den er vor kurzem in Wien hielt, auch: „Bauen — ein menschliches Problem.“ Er hätte ebensogut lauten können: „Architektur als angewandte Physiologie.“ In der Tat war dies der Titel eines anderen Vortrages, den Neutra vor zwei Jahren in Darmstadt gehalten hat. Aus diesem Vortrag, der als Sonderdruck der Zeitschrift „Baukunst und Werkform / Die neue Stadt“ erschien, entnehmen wir mit Genehmigung Neutras einige besonders markante Stellen. Sie besagen im Wesen dasselbe, was Neutra auch in Wien sagte — hat sich doch seine Theorie von der modernen Architektur in diesen zwei Jahren ebensowenig verändert, wie sie vorher große Wandlungen durchgemacht hat. Denn Neutras Theorie der Architektur ist der heutige Mensch; sein Wissen von ihm hat sich im Laufe seines Lebens vertieft und verfeinert, und damit auch die Häuser, die er für ihn baute — nicht aber hat sich seine Ueberzcugung geändert, daß der Architekt für den Menschen bauen muß.

Aber Architektur ist für Neutra mehr als bloße Wissenschaft. Es ist damit allein nicht getan, daß wir rational über den Menschen denken, meint er. Der Architekt muß sich einfühlen können. Er muß wissen, wie der Mensch Welt aufnimmt, wie er auf die Umwelt reagiert, wie sie ihn beeinflußt. Denn die „Landschaft reicht von den Sternen bis in die Seele“. Wenn wir uns nicht in unserer Haut, in unserer Wohnung, in unserem Leben wohl fühlen — schuld daran ist, nach Neutra, zuallererst der Architekt, der eine schlechte Umwelt schuf, weil er den Menschen nicht kannte. Hörten wir Neutra so in Wien sprechen, so mußten wir an Marcel Proust denken, den französischen Romancier, der den Menschen kannte und begriff wie wenige Dichter vor ihm. Wäre Proust Architekt geworden — er hätte gebaut wie Neutra.

Neutra hat in seinem Leben für den Menschen gebaut — also fast ausschließlich Wohnhäuser. Meist für reiche Leute — aber auch für solche, die sich das Bauen gerade noch, mit Aufnahme von Krediten usw., leisten konnten. Seit Neutra, schrieb ein italienischer Publizist einmal, ist das Wohnhaus keine „feste Burg“ mehr. Es ist nach allen Seiten offen, Glaswände sind überall, die Landschaft kommt bis in Küche und Schlafzimmer. (Was voraussetzt, daß die Häuser in einer schönen Landschaft stehen ...) Was in unseren Wohnungen die Bilder sind, ist bei Neutra die lebendige Natur. Aber noch in anderer Hinsicht hat Neutra dem Wohnhaus das statische Element genommen. Damit die Bewohner durch ihr Haus nicht ermüdet werden, sind rundherum Blumen gepflanzt, die zu verschiedenen Jahreszeiten in verschiedenen Farben blühen. Und in den Fensterwänden des Hauses spiegelt sich das Wasser des Bassins, in dem sich Sonne und Wolken spiegeln, mit ihren verschiedenen Färb- und Helligkeitswerten am Morgen, zu Mittag und in der Nacht. So hat das Haus teil am Tages- und Jahreslauf und wird einbezogen in den Kreislauf der Natur. Neutra ist der Schöpfer des dynamischen Wohnhauses.

Neutra schreibt seine großen Erfolge als Archtitekt nicht zuletzt seiner glücklichen Ehe zu. Da Architektur nicht' bloße Wissenschaft, sondern auch eine Frage der Einfühlung und des Verstehens ist — also Kunst —, hat die Frau als Beraterin des Mannes korrigierend an seinen Pläne teilzunehmen, hat darauf zu achten, daß all die Dinge, für die die Frau das feinere Organ, die ausgeprägtere Aufnahmefähigkeit hat, richtig und genügend berücksichtigt werden, zum Beispiel Farbzusammenstellungen.

Häuser von Neutra haben zuweilen oft ihren Besitzer gewechselt und bei jedem Verkauf einen höheren Preis erzielt, bis zum Zwanzigfachen der ursprünglichen Baukostensumme. Das spricht vom Ruhme Neutras — und von seinen Grenzen. Denn wer, der in einem Hause wirklich erfüllt lebt, wird dieses schon verkaufen wollen? Vielleicht ist es so, daß es Neutra mit aller Menschenkenntnis dem Menschen doch zu leicht macht, daß in seinen Idealwohnungen die Fähigkeit des Menschen, sich anzupassen, verkümmert (weil er sie nicht braucht), daß seine Widerstandskraft schwindet, mit einem Wort, daß es dem Menschen in ihnen zu gut geht. Aber immer Feste zu feiern, hält kein Mensch aus ... Neutra würde auf diesen unseren Einwand wohl erwidern: das mag schon so sein. Aber der heutige Mensch ist so vielen Belastungen und Gefährdungen ausgesetzt, wird so überfordert, daß wenigstens die Wohnung restlos auf ihn zugeschnitten sein sollte wie ein gut sitzender Anzug, daß die Wohnung für ihn inmitten allgemeiner Unrast das einzig gesicherte, sichere Stück Heimat sein sollte. Womit, um den oben gesagten Satz zu variieren, das Wohnhaus seit Neutra erstmalig wirklich eine „feste Burg“ wäre ...

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